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Auf der anderen Seite
Bei der dritten Kreuzung gehe ich nach rechts in eine menschenleere, düstere schmale Straße. Frei von jeglichem Autoverkehr sowie von parkenden Wagen, lediglich hier und da durch veraltete Straßenlaternen mit gelblichen, flackerndem Licht beleuchtet und – wie es scheint – sogar von ihren Bewohnern verlassen, bildet diese bescheidene Nebenstraße einen krassen Kontrast zu der großen Avenue, aus der ich gerade gekommen bin. Die Häuser sind niedrig, höchstens einstöckig, und ärmlich, ohne erleuchtete Fenster. Der Boden ist uneben, in den Ritzen des Kopfsteinpflasters glitzert Wasser.
Ich traue mich nicht weiter in diese enge, langgestreckte Gasse, die so wie eine Sackgasse aussieht. Trotz des Halbdunkels erkenne ich eine Mauer ohne Durchgang, die anscheinend das andere Ende absperrt.
Eine geheimnisvolle Kraft, gegen die ich mich nicht wehren kann, scheint von der Mauer auszugehen. Sie zieht mich an. Ich fürchte mich und doch ist meine Neugier größer. Ich zitter, als ich dann vor ihr stehe. Der Drang in mir, die kalten Steine zu berühren, ist stärker als die Angst, die mir fast den Atem nimmt.Meine Neugier treibt mich an, mich weiterhin zu ihr zu bewegen. Sie zieht mich an und ich kann mich ihrer Kraft nicht entziehen. Als mein Gesicht nur noch zehn Zentimeter von der Mauer entfernt ist, verspüre ich plötzlich den Drang sie zu berühren. Ich strecke meine Hand langsam und behutsam aus. Ich habe Angst, ja, das stimmt. Doch meine Neugier siegt.
Bei der ersten Berührung mit der Mauer, spüre ich einen leichten Stich in meinem Kopf. Mir wird schwindelig und wenige Sekunden später wird es mir schwarz vor Augen. Sterne fangen an zu funkeln und ich sehe Blitze, die im wundervollen Licht in wunderschönen Farben, den Farben eines Regenbogens, aufleuchten. Ich habe das Gefühl zu schweben, und glaube die Welt von oben zu sehen. Kurze Zeit später ist alles weg. Jetzt ist es ganz schwarz. Ich sehe nichts, höre nichts und fühle nichts.
Doch plötzlich verspüre ich eine ungeheure Kraft, die durch meinen Körper fließt und ich schlage die Augen auf. Erst denke ich, ich habe geschlafen und sei aus einem unheimlichen Traum erwacht. Doch auf einmal kann ich wieder alles klar sehen und die unbekannte Umgebung, in der ich mich jetzt befinde, nimmt schärfere Umrisse an. Ich glaube jetzt ist wieder alles in Ordnung, doch irgendetwas ist anderes. Ich habe nicht geschlafen. Ich bin hier und jetzt und nicht mehr in meiner Welt. Ich stehe langsam auf, meine Knochen tun weh und mir ist immer noch ein wenig übel. Ich drehe mich langsam um, damit ich mich wieder an der Mauer orientieren kann. Doch so sehr ich meine Augen auch anstrenge, ich finde sie nicht.
Das einzige was ich sehe, sind saftgrüne Wiesen mit prachtvollen Bäumen, die saftige Früchte tragen. Hier und da hör ich ein Bächlein plätschern und auch Vögel zwitschern. Ich höre geheimnisvolle Geräusche, die aus dem nahe gelegenem Wald kommen. In der Ferne sehe ich riesige Berge, die von Schnee bedeckt sind. Ich drehe mich in allen Richtungen, um alles zu betrachten. Es ist alles so wundervoll und traumhaft. Der Himmel erstrahlt in seinem schönsten Blau, ohne auch nur von einer klitzekleinen Wolke bedeckt zu sein.
Wo bin ich bloß? Wie komm ich denn hierher? Ich setze mich langsam in Bewegung. Ich laufe in Richtung Wald. Trotz meiner Angst, was ich dort vielleicht finden werde, gehe ich weiter. Meine Neugier gewinnt wieder die Oberhand über mein Handeln.
Ich gehe langsam, damit ich mir alles anschauen kann. Auf den Wiesen thronen Millionen von Blumen. Blumen, die ich in meinem Leben noch nie gesehen habe. Aber alle sind wunderschön und alle erleuchten in prächtigen Farben. Ich höre Bienen summen und den Wind durch die Gräser streichen, Schmetterlinge fliegen überall umher. Es ist wundervoll. Die grauen Straßen, in denen ich mich eben noch befand, sind längst vergessen. Ich denke nur noch an jetzt und an diese fantastische neue Welt, die ich erkunden möchte. Meine Schritte werden zielstrebiger ich gehe ein wenig schneller. Ich komme dem Wald immer näher und jetzt fürchte ich mich auch nicht mehr so sehr.
Am Waldrand bleib ich einen Moment zögernd stehen und lausche nach neuen Geräuschen. Doch ich kann kein neues Geräusch erkennen. Ich gebe mir einen Ruck und setze meinen ersten Schritt in den Wald hinein. Er ist nur halb so schön, wie die grünen Wiesen mit den schönen Blumen. Doch er hat etwas Geheimnisvolles und Anziehendes an sich. Er ist nicht wie die meisten Wälder. Er hat seine eigene, ganz besondere Schönheit.
Ich gehe weiter hinein und verliere jegliches Zeitgefühl. Ich schaue mich um und bewundere die vollen und prächtigen Baumkronen mit starken Ästen. Mal hier und mal dort, läuft mir ein Eichhörnchen oder ein Hase über den Weg. Diese Tiere scheinen nicht scheu zu sein. Ich habe das Gefühl, dass sie mich genau betrachten und mich prüfend ansehen. Sie sind anders als alle anderen Tiere, die ich gesehen habe. Doch sie machen mir keine Angst, auch wenn es mir ein wenig unheimlich erscheint. Ich gehe an riesigen Sträuchern vorbei, die an den Füßen der großen Bäume ihren Platz haben. Sie tragen schöne knallrote Früchte, die einen hungrig machen. Ich möchte eine probieren, doch ich entscheide mich dagegen.
Als ich dann auf einem langen schmalen Weg entlang gehe, höre ich auf einmal etwas fröhlich summen. Ich lausche und versuche mir vorzustellen, was es sein könnte. Aus dem Summen wird ein fröhlicher Gesang. Ich verstecke mich hinter den Sträuchern, denn es kommt immer näher. Die Stimme wird lauter und ich kann nicht verstehen was gesungen wird. Doch es scheint ein fröhliches und lustiges Lied zu sein. Als dann ein kleines Etwas den Weg herunter gelaufen kommt. Traue ich meinen Augen nicht. Es ist kein Mensch! Oder etwa doch? Ich weiß es nicht. Es sieht aus wie ein Mensch, doch ist zu klein dafür. Es trägt eine blaue lange Mütze, fast länger als der ganze Körper und dazu ein gelbes, verschlissenes Hemd, grüne Hosen und rote Stiefel.
Es bleibt abrupt stehen und lauscht. Ich habe Angst und halte die Luft an. Doch auf einmal kommt es näher. Ich rühre mich nicht sondern bleibe ganz ruhig. Und mit einem Ruck hat es die Blätter der Sträucher weggefegt und legt mein Gesicht frei. Es schaut mich mit seinen großen grünen Augen an und schein amüsiert zu sein. Es fängt an zu lachen und bittet mich aus meinem Versteck herauszukommen: " Komm ruhig heraus mein Kind. Ich tu dir nichts. Du brauchst dich nicht vor mir zu verstecken."
Ich stehe langsam auf und kletter aus den Sträuchern heraus, die mir einige Kratzer verpasst haben. Er schaut mir amüsiert zu, während ich mir einige Blätter aus den Haaren hole und dabei mein Gesicht verziehe. Doch jetzt kann ich meine Neugier wirklich nicht mehr zurückhalten und frage ihn: " Was bist du? So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen."
Es schaut mich verdutzt an, doch dann lächelt es wieder und sagt zu mir:
" Ich bin ein Zwerg, mein Kind. Hast du denn noch nie einen Zwerg gesehen?"
Ich antworte:
"Nein, es tut mir leid. Ich habe noch nie einen Zwerg gesehen. Ich habe nur Geschichten von Zwergen gehört, aber gesehen habe ich noch keinen."
"Meine Name ist Duldin. Und ich wohne in diesem Wald. Er ist mein zu Hause und ich bin der Hüter des Waldes, dessen Bäume und Tiere."
" Also gehört dies alles dir?", frage ich. Duldin schüttelt nur den Kopf und nimmt meine Hand und füht mich tiefer in den Wald hinein.
Ich weiß nicht wo er mich hinbringt. Doch nach einer geraumen Zeit sehe ich ein kleines Häuschen, aus dessen Kamin ein wenig Rauch entsteigt. Das Haus wird von hunderten oder tausenden roten Rosen gesäumt und verleiht ihm ein wunderschönes und idyllisches Aussehen. Duldin führt mich durch die zu kleine Tür in sein kleines Heim. Wie nicht anders erwartet, stoß ich mir den Kopf, weil der Türrahmen für mich zu klein ist. Er führt mich in zu einem kleinen Tisch an dem ich Platz nehme.
Er setzt sich mir gegenüber und schaut mich mit seinen kleinen, fröhlichen Augen an und sagt:
" Ich weiß warum du noch keinen Zwerg gesehen hast."
Ich schau ihn an und weiß nicht, was er damit meint. Doch er ruht immer noch mit seinen Blicken auf mir.
"Ich will dir mal was erzählen. Ich fasse mich kurz, denn so viel Zeit haben wir nicht. Ich weiß, dass du von der anderen Seite kommst und dies hier alles noch nicht gesehen hast. Ich weiß es, weil ich auch schon auf eurer Seite war. Auf der Seite der Menschen. Hinter der Mauer. Ich bin eines Tages durch die Wiesen gelaufen und auf einmal ist es mir schwarz vor Augen geworden. Von einem auf den anderen Moment. Ich sah Sterne funkeln und Blitze in allen möglichen Farben und dann bin ich wieder aufgewacht und habe meine Augen aufgeschlagen. Ich war in einer Welt, in der ich vorher noch nie gewesen bin. In deiner Welt. Ich hatte Angst und wusste nicht, was ich machen sollte, denn ich wusste ja nicht, was mit mir geschehen ist. Und so blieb ich eine Zeit lang an der Mauer gelehnt sitzen um zu überlegen. Alles dort auf dieser Seite machte mir Angst. Ich hörte Menschen kreischen und alle waren in Hektik und alles war grau. Wirklich alles. Es war einfach nicht meine Welt. Ich schaute mich ein wenig um. Doch nicht lange, da war ich wieder zur Mauer zurückgekehrt und lehnte mich an sie. Und weißt du, was dann geschehen ist?"
Ich zucke die Achseln und schüttel den Kopf.
" Ich spürte wieder diesen Schmerz und alles wurde schwarz und ich sah wieder die Sterne und die Blitze!", antwortet er mir.
Ich schau ihn ungläubig an und mache große Augen.
" Du musst wieder an den Platz gehen, von dem du gekommen bist. Du musst dich wieder dort hinstellen und auf deine Seite zurückkehren. Denn du gehörst hier nicht hin, genauso wenig wie ich auf deine Seite gehöre. Wir müssen uns beeilen, den die Wirkung der Mauer lässt nach. Wenn es zu spät ist, wirst du nicht mehr zurück gehen können."
Ich weiß nicht was ich darauf antworten soll und starre ihn weiter an. Doch dann kommt mir ein Gedanke:
"Ich will aber nicht wieder zurück. Ich möchte hier bleiben. Das ist eine Welt, die ich noch nie gesehen habe und ich will sie nicht schon wieder verlassen!" Doch Duldin schüttelt nur den Kopf und steht auf. Er nimmt mich an die Hand und führt mich aus dem heimischen Häuschen hinaus.
Er führt mich durch den ganzen Wald wieder zurück zu den Wiesen, wo ich hergekommen bin. Diese Wiesen beeindrucken mich so sehr, dass ich vergesse, was Duldin mit mir vorhat. Nach einer Weile bleiben wir stehen und er dreht sich zu mir um und sagt:
" So, hier sind wir nun. Jetzt musst du dich an die Mauer stellen."
"Aber hier gibt es doch keine Mauer. Ich habe sie gesucht, doch ich habe sie nicht gefunden.", sag ich zu ihm. Er schaut mich wieder mit seinen großen grünen Augen an und lächelt:
"Nein, da hast du Recht. Auf unserer Seite siehst du die Mauer nicht. Aber sie existiert. Du musst an die Mauer glauben mein Kind. Dann findest du sie auch. Streng dich an und versuch sie dir vorzustellen, dann wirst du sie auch finden."
Ich dreh mich wieder in alle Richtungen und schau mich überall um, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass es funktioniert. Als ich mich dann zu Duldin umdrehe, um mein Unverständnis kund zu geben, ist er verschwunden. Er ist weit und breit nicht mehr zu sehen. Ich drehe mich nochmals in alle Richtungen doch ich kann ihn nicht sehen. Jetzt bekomme ich es wirklich mit der Angst zu tun. Wo ist er denn nur hin? Er kann doch nicht einfach verschwinden, oder doch?
Mir bleibt jetzt nichts mehr anderes übrig, als die Mauer zu finden um wieder auf meine Seite zu kommen. Ich möchte den Gedanken verwerfen, doch wieder werde ich von einer geheimnisvollen Macht getrieben. Ich schließe die Augen. Wieder läuft ein kalter Schauer über meinen Rücken und ich friere erneut. Meine Hand bewegt sich nach vorne, als ob sie nach etwas tasten möchte. Plötzlich berühre ich etwas. Die Mauer. Wie ein Blitz durchläuft mich der Schmerz. Es wird schwarz. Ich sehe Sterne, Blitze viele Farben. Und wieder habe ich das Gefühl, als ob ich die Welt von oben sehen würde.
Dann ist wieder alles schwarz um mich herum. Doch als ich die Augen öffne und ich wieder klar sehen kann, sehe ich wieder die graue, langgestreckte Gasse. Ich spüre wieder den unebenen Boden unter mir und ich sehe wieder die Pfützen. Ich rappel mich langsam auf und gehe durch die enge Gasse zurück zur Avenue. Ich sehe wieder Menschen, alle in Hektik. Alle sind im Stress. Alle mit einem mies gelaunten Ausdruck in den Gesichtern. Ich bin die einzige Person, die ein Lächeln auf dem Gesicht hat. Ich schlender durch die Straße. Nichts an dieser Stadt hat sich verändert. Nur eins: Ich habe mich verändert. Ich habe ein traumhaftes Abenteuer erlebt, dass mich immer wieder zum Lächeln bringen wird.