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Auf der Straße unter dem Seil
Wörterbörse: Th. 58 - Klavier, unbehaglich, Milchreis, Wundkrampf, Brautkleid
Sam lag rücklings auf dem Fußweg und fühlte sich, gelinde gesagt, recht unbehaglich in seiner momentanen Situation. Das mochte zum Teil an der empfindlichen Kälte der Betonplatten vor seinem Haus liegen, aber erfahrenen Beobachtern fiel zu aller erst natürlich der große Konzertflügel quer über seiner Brust und dem restlichen Körper auf.
Unschuldig baumelte ein dickes und ehemals recht langes Hanfseil drei Stockwerke über ihm und ließ die Fransen an seinem unteren Ende fröhlich im Herbstwind tanzen.
‚Warum passiert so was ausgerechnet immer mir? Und ausgerechnet immer an solchen Tagen wie heute?’, fragte sich Sam und versuchte seinen rechten, verschütteten Arm in eine bequemere Lage zu drehen. Ein einsames Fis erklang irgendwo dicht über ihm.
In der Kirche hatten sie wahrscheinlich bereits mit der Musik angefangen. Und er lag hier sinnlos rum und konnte nicht weg. Ein Fluch mit vielen Zischlauten rutschte ihm über die Lippen.
Immerhin war er nicht tot. Er hatte überlebt, hatte Glück gehabt – falls es an der Tatsache, unter einem dreihundert Kilo schweren Holzkasten begraben zu liegen, überhaupt etwas gab, das als Glück bezeichnet werden konnte.
‚Onkel Stuart liegt seit letztem Monat in einer Holzkiste, aber der ist tot.’ Spontan dachte Sam an seinen verstorbenen Onkel, verwarf aber gleich wieder diesen Gedanken aus Gründen der Pietät. Schließlich war er Gast seiner Beerdigungsfeier gewesen. Nicole konnte aus irgendwelchen Gründen nicht mit ihm gehen, so hatte Sam ganz allein dort alle Ausläufer seines Familienstammbaums mal wieder live untereinander in Aktion sehen dürfen, und daher beschlossen, am weiteren Abend lieber seine Bekanntschaft mit „Johnny Walker“ zu vertiefen.
„Sie leben ja noch!“ Eine dicke, alte Dame mit Krückstock trabte aufgebracht heran.
„Ja, bin selbst ganz überrascht“, antwortete Sam und versuchte sich vergeblich aus seiner misslichen Lage zu befreien.
„Ich hab alles gesehen. Schrecklich! Geht es Ihnen gut?“, fragte sie mitleidig und betrachtete die Szenerie mit dem gelassenen Interesse eines Unverletzten.
„Ich weiß nicht. Wie sieht’s denn aus?“, knirschte Sam unter dem Holz hervor.
„Auch wenn sie hier unter einem Klavier liegen: kein Grund gleich sarkastisch zu werden!“
„Das ist kein Klavier sonder ein wertvoller Bernsteiner-Flügel – zumindest war er das!“ Ein älterer, Sam unbekannter Mann kam aus dem nahen Hausflur herbeigeeilt und blieb dann schweigend vor dem Trümmerhaufen stehen. Er schien sich für einen Augenblick den Erinnerungen an nunmehr vergangenen Zeiten hinzugeben, wobei seine Finger über die formlose Tasten eines körperlosen Klaviers – Verzeihung – Bernsteiner-Flügels tanzten.
Das kleine, klanglose Klassiksolo verlieh dem Moment einen magischen Anstrich, den jedoch weder Sam noch die alte Frau mitbekamen.
Diese verwandelte ihr Gesicht lieber in den ultimativen Ausdruck purer Altersmuffeligkeit, sah abwartend auf Sam, grmph!te dann zweimal und ging wieder ihrer Wege. Hier wurde offensichtlich kein anteilnehmendes Herz gebraucht.
Sam schaute ihr erleichtert hinterher. Andere Passanten hatten jedoch bereits begonnen, die entstandene Mitleidslücke aufzufüllen. Sie Aah!ten und Ooh!ten um die Wette, wer das betroffenste Gesicht machen konnte. Geschichten und Fotos von ähnlich abstrusen Unfällen, die man anderswo gesehen hatte, wurden ausgetauscht. Einer war so freundlich einen Krankenwagen zu rufen. Doch niemand wagte es, sich Sam oder dem verträumt vor sich hin klimpernden Mann zu nähern. Das gehörte sich nicht.
„Könnte mir mal jemand bitte helfen?“, fragte Sam sichtlich genervt.
„Oh, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit“, antwortete ihm plötzlich der bis eben schweigend spielende und jetzt nur noch unbekannte Mann, „Ich bin Jaques Lousson Poncherino – für meine Freunde Jaq. Ich ziehe heute in dieses Haus ein. Das ist mein Bernsteiner unter dem sie gerade liegen.“
Jaq reichte Sam die Hand zu Begrüßung.
„Tut mir leid. Sie kriegen ihn wieder, wenn ich ihn nicht mehr brauche“, sagte Sam trocken und grüßte seinen neuen Nachbarn mit einer hochgezogenen, rechten Augenbraue, da er selber gerade keine Hand frei hatte.
„Das war jetzt aber wirklich sarkastisch!“, stellte Jaq amüsiert fest.
„Wenigstens Ihrem Mund scheint es ja gut zu gehen.“ Der neue Nachbar betrachtete kritisch das, was von Sam zu sehen war. Dieser wiederum betrachtete kritisch das, was von Jaq zu erkennen war: in der Hauptsache ein graustoppliges Kinn und knapp darüber zwei große, schwarze Nasenlöcher.
„Ziehen sie mich nun raus, oder was? Ich muss zu einer Hochzeit – meiner eigenen rein zufällig!“
„Nicht so eilig, junger Mann“, beschwichtigte Jaq ihn lächelnd, „Schließlich wären Sie beinahe der erste Gast auf ihrem Begräbnis geworden. Das sollte ihnen zu denken geben!“
„Wenn Sie vorher über den Zusammenhang von Seildurchmesser und Klaviergewicht nachgedachte hätten, gäbe es jetzt gar nichts, worüber ich meinerseits nachdenken müsste, außer vielleicht wie ich meiner Braut am schnellsten das Strumpfband ausziehe!“
„Bernsteiner-Flügel-Gewicht!“
„Ist mir egal! Nur holen sie mich hier RAUS!“
Einige beherzte Männer aus dem Publikum wollten der Aufforderung nachkommen und griffen bereits nach dem großen Flügeltorso, doch Jaq sprang dazwischen.
„LIEGENLASSEN!“ rief er mit fuchtelnden Händen. Die Kiste rutschte einen wilden Dur-Akkord der Empörung quiekend wieder in die Ausgangsposition zurück, und Sam stöhnte inbrünstig die Abschlussnote in Moll.
„Was sollte denn das?“, ächzte er irritiert.
„So ein Comicbuchunfall ist nicht so witzig, wie er aussieht.“, belehrte ihn Jaq.
„Das brauchen Sie mir nicht zu sagen!“, schnaufte Sam zurück.
„Solange der Notarzt nicht hier ist, darf nichts verändert werden. Sie könnten sich was gebrochen haben, was danach vielleicht nicht mehr zu richten ist.“
„Mir geht’s (erstaunlicher Weise) gut“, versuchte Sam die Anwesenden zu überzeugen, „Hab soweit keine Probleme. Ehrlich!“
„Das sagen sie alle. Und plötzlich fällt ihnen mirnichtsdirnichts der Arm oder gar der Kopf ab.“
„Was reden Sie da? Mir fällt bestimmt nicht einfach so der Kopf ab.“
„Wenn Sie wüssten...“
„Was soll ich wissen? Wovon sprechen Sie überhaupt?“
„Von meinen früheren Erfahrungen als Buscharzt.“
„Sie waren Arzt?“
„Unter anderem. Spüren Sie ihre Beine noch?“
„Denke schon. Liegen da sicher irgendwo unter dem Holzhaufen rum.“
„Kopfschmerzen? Übelkeit?“
„Ja, aber die hatte ich schon, bevor mir ein Klavier auf den Schädel gekracht ist. Soll normal sein, wenn man HEI-RA-TET!“
„Das ist ein Bernsteiner-Flügel, wie oft soll ich denn das noch sagen?“
„Von mir aus können Sie ein Lied darüber schreiben und es den ganzen Tag in der Dusche singen! Wenn Sie jetzt vielleicht so freundlich wären und mich hier rausholen könnten...?“ Jaq blieb erstaunlich geduldig.
„Haben Sie sonst irgendwelche akuten Gebrechen momentan?“, hakte er nach.
„Jetzt wo Sie’s erwähnen: Ich hab seit einiger Zeit Probleme mit den Nieren“, antwortete Sam ruhig und gab sich grüblerisch – nur um ein: „DAS KÖNNTE ABER AUCH MIT DEM VIELEN HERUMLIEGEN AUF FUßGÄNGERWEGEN ZUSAMMENHÄNGEN!“ hinterher zu schreien. Seine derzeitige Stimmung konnte man getrost als arktisch bezeichnen.
„Jetzt ziehen Sie mich schon endlich raus!“
„Nix da. Ich will schließlich kein Wundkrampf bei Ihnen riskieren.“
„Wundkrampf?“
„...auch Tetanus genannt: offenes Fleisch wird verdreckt; infiziert sich; fault; beginnt zu stinken wie „Harzer Roller“; wird schwarz, schrumpelig und fällt ab.“
„Jetzt übertreiben Sie doch!“
„Nein, alles schon gesehen!“
„Wo?“
„Immer bei anderen, mein Freund. Immer bei anderen!“
Eine junge Frau mit einem etwa vier Jahre alten Sohn gesellte sich zu der Gruppe der Schaulustigen. Der Junge, klein, mopsig und blond, löste sich von seiner Mutter und trat mutig einige tapsige Schritte näher. In seiner Hand hielt er einen winzigen Becher Milchreis, den er mit verklebten Fingern aß und dabei öfter die Wangen als den Mund traf. Die Zuschauermenge seufzte ein von Niedlichkeit verzücktes „Ooh!“. Jaq grinste schelmisch. Nur Sam war vom Anblick des kleinen Ungeheuers, das sich ihm mit wackligen Beinen näherte, nicht sonderlich begeistert.
„Marlon, lass bitte den Mann da in Ruhe liegen!“, rief die Mutter halbherzig ihrem blondschopfigen Engel zu, doch der gab sich ganz als Kind seiner Zeit und hörte nicht hin.
„Verschwinde schon, Kleiner!“, grummelte Sam von allem äußerst genervt.
Doch der Junge gluckste nur fröhlich: „Happa ham?“, und schob Sam mit Schwung eine Ladung Milchreis in die Nase.
Dann hatte die Mutter endlich Mitleid, preschte wild entschlossen heran, hob den nunmehr vor Freude jauchzenden Jungen auf den Arm und befreite Sam damit von seinem vierzig Zentimeter hohen Peiniger.
Mit den Worten „Wie siehst du nur schon wieder aus!“ verschwand sie wieder in der Menschenmenge.
Sam spuckte und nieste schleimige Milchreisbröckchen. Jaq zog freundlicher Weise ein großes, seidenbesticktes Taschentuch aus seiner Jacke und putzte Sam mütterlich die Nase.
Der schnodderte ein verrotztes „Danke“ hinein. Dann folgte Stille – absolute Ruhe (womit natürlich Großstadtruhe gemeint ist: Straßenverkehr, Hundegebell, dreißig verschiedene Arten von Ladenmusik gemengt mit Autoradiogedudel, Schüsse ein paar Querstraßen weiter und Polizeisirenen).
Das Publikum wartete gespannt auf das Wiedereinsetzen des ungewöhnlichen Dialoges, Sam wartete noch immer darauf, von jemanden befreit zu werden, und Jaq wartete auf... er wartete einfach nur.
Überdimensionales, metaphysisches Sekundenticken dröhnte in den herumstehenden Ohren. Betreten schwiegen die Minuten. Irgendwo hüstelte jemand.
„Nun... äh...“ Jaq schien nach den richtigen Worten für diesen emotionalen Moment zu suchen.
„Tja... äh... Sie tragen einen schönen Anzug.“
„Das könnte an meiner Hochzeit heute liegen. Hatte ich die schon erwähnt?“
„Glauben Sie mir: Hochzeiten werden überschätzt.“
„Was soll das schon wieder heißen? Ich liebe meine Freundin. So sehr, dass ich auch eine Ehe dafür in Kauf nehme.“
„Wenn Sie meinen! Der Krankenwagen wird wohl gleich kommen und Sie erst mal abtransportieren. Denken Sie noch mal über alles nach!“
Sams Laune hatte mittlerweile den Erdkern erreicht und musste dort feststellen, dass sie nicht weiter nach unten konnte. Das hatte zur Folge, dass mit entsprechendem emotionalen Druck die tektonisch-sarkastische Oberfläche Sams aufriss und dieser buchstäblich explodierte.
„ICH HÖR WOHL NICHT RECHT?! WAS GEHT SIE DAS AN, SIE KLAVIERSCHMEIßENDER PSEUDOOPERNARZT!“
Sein wütendes Zittern und Beben wurde vom Flügel mit dramatischen Klangharmonien untermalt.
„Na, na! Nur ruhig, mein Freund. Vertrauen Sie mir! Ihr Leben wird sich zum Besseren wenden.“
„Mir ging’s bis vorhin gar nicht so schlecht: Hübsche Freundin, wenig Schulden, kaum Klaviere, die auf mir rumlagen...“
„Bernsteiner-Flügel! Ich glaube, ich höre den Krankenwagen.“ Jaq sprach jetzt mit eindringlicher Stimme.
„Es bleibt jetzt nicht mehr viel Zeit, deshalb sage ich dir nur dies eine, Sam: Schon bald wird sich alles geändert haben und Nicole dann nur noch eine schöne Erinnerung für dich sein. Lebe wohl!“
„Was? Woher kennen Sie meinen Namen... ?“, stammelte Sam ganz überrascht, „Und was wissen Sie von meiner Braut?“
Ein großer, orangener Wagen hielt quietschend vor dem Bürgersteig. Die drei Mann Besatzung schwangen sich professionell heraus, an ihren Einsatzuniformen und ihrem wilden Gequassel aus fachchinesischem Medizinerkaudawelsch leicht als Ärzte zu erkennen. Piepsende Gerätschaften wurden neben Sam installiert und an ihm angeschlossen. Worte wie „Kompressionsfraktur“, „Läsion des Rückenmarks“, „Verdacht auf Querschnittssyndrom“, „Schädel-Hirn-Trauma“ machten die Runde.
Sam wurde immer wieder gefragt, ob er dies spüren würde oder mal das bewegen könne. Man packte ihn zwei steife Kissen um den Hals, so dass sein Kopf aussah wie ein menschliches Sandwich. Aber er rief immer nur nach Jaq, drehte sich nach ihm wie wild um und wollte sich ganz allgemein nicht beruhigen. Was wusste dieser seltsame Mann von Sam und seiner Freundin? Er versuchte Jaq noch einmal zu sehen, aber der war wie vom Erdboden verschluckt.
„So geht das nicht!“, sagte zuletzt einer der behandelnden Ärzte, „Dem fällt noch aus Versehen der Kopf ab! Fünfzig Milligramm Morphium in den Arm!“
Und plötzlich war Sam ganz ruhig und entspannt. Er freute sich wie ein Kind über die vielen bunten Farben und die lustig sprechenden Leute um ihn herum. Wo wollten sie ihn hinbringen? Ins Krankenhaus zur Nachkontrolle? Kran-Ken-Haus. Witziges Wort. War Kran-Ken nicht der Bauarbeiterfreund von Barbie? Ins Kenhaus, ganz klar: Wenn Barbie ein Haus hatte, dann musste ja auch Ken irgendwo wohnen. Schließlich waren sie ja nur Freunde. Ken hatte eh nichts in der Hose. Hihi.
Solche oder ähnliche Dinge gingen Sam durch den Kopf, als man ihn endlich unter den Trümmern hervorgeholt hatte und in den Wagen verfrachtete. Auf der Fahrt sagte er kein Wort, sondern grinste nur doof vor sich hin. Als man ihn schließlich auf den großen Röntgentisch legte, war er doof grinsend eingeschlafen.
Das böse Erwachen kam am nächsten Morgen mit der Überbringung der Entlassungspapiere. Sams Gesichtsausdruck konnte man noch immer als doof bezeichnen, doch vom Grinsen war nichts mehr zu sehen.
„Kein Befund“ prangte in großen Buchstaben auf Zeile sieben bei „Untersuchungsergebnis“ und eine nicht näher zu bezeichnende, riesige Zahl ganz unten bei „Rechnungsbetrag“.
Der vor der Krankenhaustür liegende Tag war düster und regnerisch. Mit Buslinie neun fuhr Sam zu sich nach Hause. Dort würde mit Sicherheit Nicole mit glühendem Kopf und langen Messern in beiden Händen auf ihn warten, und später die verstümmelten Überreste seines Leichnams fragen, wo er während ihrer Hochzeit gewesen war.
Wie er es auch drehte und wendete: Sam wollte es einfach nicht gelingen, die Ereignisse des gestrigen Nachmittags in sinnvoller Weise wiederzugeben.
An seiner Hausnummer angekommen, klopfte er sich den zerschlissenen Smoking nach seinen Schlüsseln ab, fand sie aber nirgends. Wahrscheinlich hatte er sie bei jenem bizarren Zwischenfall verloren. Er schaute noch mal kurz zur Stelle auf dem Bürgersteig, wo er gestern noch die vielleicht ungewöhnlichsten Momente seines bisherigen Lebens verbrachte hatte, und wunderte sich, dass nichts zu sehen war. Nicht mal der kleinste Splitter hatte die offenbar stattgefundene Aufräumungsaktion überlebt.
‚Was soll’s?’, sagte sich Sam missmutig und stellte sich in den Türeingang an die Klingelanlage. Er drückte den verschrumpelten Knopf neben seinem Namen. Knacken im Lautsprecher zeigte an, dass oben jemand lauschte.
„Hier ist Sam, Nicole! Ich muss dir erklären...“ Ein zweites Knacken im Lautsprecher zeigte an, dass jetzt niemand mehr lauschte. Nicole wollte offensichtlich keine Erklärungen.
Sam trat nach vorn und rief zum geöffneten Fenster hoch.
„Nicole! Es war nicht meine Schuld!...“ Als Antwort segelte ihm nur ein weißes Tuch entgegen. Sam fing es auf und hatte plötzlich Nicoles Brautkleid in der Hand. Er kam gar nicht dazu sich darüber zu wundern, denn ein herabfallender Aschenbecher aus Aluminium beendete schmerzliche jeder weitere Überlegung. Ihm folgten ein paar Bücher und seine schwarze Mini-HiFi-Anlage. Dazu noch jede Menge Klamotten, so dass es nachher vor der Tür aussah wie bei ihm im Schlafzimmer.
Mit schwerbeladenen Armen klaubte Sam zusammen, was noch zu gebrauchen war und überlegte, wohin er jetzt gehe könnte. Ihm fiel plötzlich wieder der Name seines neuen Nachbarn ein. Bei ihm könnte er vielleicht nur für heute Nacht unterkommen, immerhin trug Jaq eine gewisse Teilschuld.
Das Klingelschild für den vierten Stock wies allerdings nicht den gesuchten Namen auf. Es war genaugenommen sogar vollkommen leer. Sam sah an der Hausfassade hinauf, doch auch die Fenster waren schwarz und unverhangen. Einen Moment lang fragte er sich, ob er sich diesen Jaq vielleicht nur eingebildet hatte infolge des schweren Schlags auf den Kopf. Ihm erschien die ganze Sache plötzlich noch mysteriöser als ohnehin schon. Ein eisiger Schauer kribbelte unter seiner Haut. Egal!
Sam stand wieder auf der Strasse. Über ihm schaukelte noch immer der kleine Hanfseilrest im straffen Herbstwind.
Wie spät war es? Vielleicht war sein Freund Serge schon zu Hause. Er sah auf seine sehr teure und gerade von der Straße gesammelte Designer-Uhr, die sich jedoch just in diesem Moment dazu entschloss, wieder den Urzustand aller Nutzgeräte einzunehmen, was heißen soll: Sie zerfiel in ihre Einzelteile.
‚Was kann jetzt noch schief gehen?’, fragte Sam sich vom Leben bitter enttäuscht. Einsetztender Donner und Strippenregen gaben eine prompte Antwort. Mit hängendem Kopf schniefte er die überflutete Strasse entlang und bemerkte daher nicht den kleinen Silberstreif, der sich am Horizont abzeichnete.
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