Veteran
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- 17.10.2001
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Aufgabenstellung & wichtige Infos
Liebe Challenge-Teilnehmer!
Wem aller Anfang schwer fällt, der soll den Anfang meiden. Beginnen wir in diesem Challenge also mit dem Schluss:
Die junge Sängerin Willie Scott, glitzernder Mittelpunkt einer Revue, beendet gerade ihre Version von Cole Porters 'Anything Goes', als Dr. Jones, der Titelheld des Filmes, den Shanghaier Nachtclub betritt. Dieser Flim, 'The Temple of Doom' (Indiana Jones und der Tempel des Todes, USA 1983) ist noch keine zwei Minuten alt, da hat der Archäologe Jones schon ein komplettes Abenteuer hinter sich. Auch Willie Scott hat's gerade geschafft, man applaudiert begeistert. Sie trägt ein rotes Pariser Kleid, ihr Haar ist blond, ihr Lächeln weiß, und dies alles kontrastiert aufs schönste mit der konservativ gedeckten Abendgarderobe des zwielichten Herrenclubs, der an seinem runden Tisch auf den abenteuerlichen Archäologieprofessor wartet. Jones setzt sich, nickt. Ja, es ist ihm tatsächlich gelungen, den Nura Chi zu beschaffen, eine uralte Plastik, hinter der der Ganster Loa und seine Familie schon seit Generationen her sind. Man tauscht. Jones gibt den Nora Chi, Loa ein Säckchen mit einem riesigen Diamanten, dazu ein Schälchen Schaumwein. Jones trinkt. Loa amüsiert sich, denn der Champagner war vergiftet. Gegengift wäre wohl zu haben, kostet aber den riesigen Diamanten. Schon rutscht die blaue Phiole mit dem Antidot über den spiegelglatten Boden, Jones hinterher, Willie ebenso; überhaupt ist alles ins Rutschen gekommen, Feuer aus Maschinengewehren, Panik und die Kapelle spielt 'Anything Goes'.
Verzichtet auf Einführungen, begebt euch gleich in medias res. Diese Strategie empfiehlt der Autor und Literaturkritiker Quintus Horatius Flaccus in seinem Brief über die Dichtkunst, den er gegen Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts an die Pisonen schreibt. Zu loben sei ein Dichter wie Homer, der große Geradeausmeister: „Immer eilt er zum Ziel und mitten hinein ins Geschehen.“
Große Ankündigungen nämlich laufen Gefahr, den, der sie macht, der Lächerlichkeit preiszugeben: „Gebirge gebären, heraus kommt ein komisches Mäuschen.“ Die Geschichte soll demnach nicht allmählich ins Rollen kommen, sondern muss sich, wie die Räder eines landenden Flugzeuges, von Beginn an mit Höchstgeschwindigkeit drehen.
Auch in den Jahren zwischen Horaz und Indiana Jones wird von der Technik Gebrauch gemacht, ohne erzählerische Vorbereitung - ohne Exposition - in die Geschichte zu springen:
"Was ist das. - Was - ist das... "
"Je, den Düwel ook. C'est la question, ma très chère demoiselle!"
Mit diesen zunächst gesichtslosen Stimmen beginnen die 'Buddenbrooks' (1901) von Thomas Mann. Die Identität der Sprecher wird gleich im Anschluss geklärt - es sind die achtjährige Antonie und ihr Großvater Johann Buddenbrook - , die näheren und weiteren Umstände werden nachgetragen.
Der Horazsche Leitsatz – „Immer eilt er zum Ziel und mitten hinein ins Geschehen“ – verfolgt noch eine zweite, zielgerichtete Tendenz: Eine Geschichte möge sich auf ein Ziel zu bewegen, und sie möge dies mit großer Geschwindigkeit tun.
Ziele eignen sich besonders dazu, Geschichten zu starten. Helden vom Schlage eines Indiana Jones, seines Vorläufers James Bond oder jenes Mr. Phelbs, der seit Jahrzehnten seine 'Mission: Impossible' erfüllt, werden von ihrem Ziel angetrieben: einem miesen Diktator das Handwerk zu legen, einen Gral zu finden, eine Welt zu retten. In bescheideren Dimensionen gehören auch alle Kommisare, Privat- und Hobbydedektive in diese Kategorie. Kriminalromane stellen, so gesehen, ein aktuelles Ideal für den von Horaz propagierten Erzähltypus dar. Nirgends wird das Handlungsziel ausdrücklicher festgelegt als in dieser Gattung; niergends ist es, was den Handlungsfortschritt betrifft, von größerer Zug- oder Triebkraft.
Wo nicht pure Geschwindigkeit für die nötige Eile zum Ziel sorgt, lässt sich ein Wettlauf inszenieren, eine Konkurrenz der Figuren, die allein deswegen schon zu Gegenspielern werden können, weil die dasselbe Ziel verfolgen und es sich gegenseitig streitig machen. Wenn die Konkurrenten aber aus dem Feld geschlagen sind, hilft immer noch der Zwang, eine bestimmte Handlung vor einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen, das erzählerische Ultimatum, der Wettlauf gegen die Uhr.
Der Held muss sich wie jener Damon in Friedrich Schillers 'Bürgschaft' (1798) rechtzeitig vor Sonnenuntergang bei Dionys, dem Tyrannen, zurückgemeldet haben, um den Freund und Delinquentenplatzhalter vor der Kreuzigung zu bewahren. Damon sollte seinen Versuch, den Tyrannen zu ermorden, mit dem Leben büßen, hatte aber um eine dreitägige Frist gebeten, innerhalb derer er seine Schwester verheiraten wollte. Der Tyrann gewährt die Bitte unter der Bedingung, dass Damons Freund für diesen bürgt und im Falle, dass Damon nicht pünktlich zu seiner eigenen Hinrichtung eintrifft, an seiner Stelle stirbt. Oder es muss dem Helden wie Jules Vernes Mr. Phileas Fogg gelingen, spätestens 'In 80 Tagen um die Welt' (1874) gereist zu sein, wenn er seine Wette nicht verlieren will. Er schafft es, bekanntlich, knapp.
Im Western 'High Noon' (12 Uhr mittags, USA 1952) gibt der Handlungstermin sogar den Titel, und die eingeblendete Uhr sorgt für den dramatischen Zeitdruck: Um 12 Uhr mittags seines letzten Amtstages wird Sheriff Will Kane den Banditen gegenübertreten müssen, die sich an ihm rächen wollen. Bis dahin hat er Zeit, Helfer zu werben, was ihm misslingt. Die immer wieder eingeblendete Uhr vergegenwärtigt den wachsenden Zeitdruck, den das unaufhaltsam sich nähernde Ende ausübt.
Noch ein letztes Beispiel: Eine Flucht ist unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes als ein seitenverkehrt gespiegeltes Ziel. Flüchtende Figuren versuchen einer Gefahr, die auf sie zustürzt, zu entkommen. Gefährlich werden können Naturereignisse (Stürme, Feuer, Vulkanausbrüche) oder Verfolger: Menschen, Tiere und Maschinen. Franz Kafka beweist mit seiner Fabel ‚Der Bau’ (1923/24), dass die Fluchtbewegung selbst dort erzählerische Triebkraft freisetzt, wo der Verfolger bloß in der Einbildung des Verfolgten existiert.
Semper ad eventus festinat et in medias res – dieses Prinzipien-Paar sorgt sowohl für den Eindruck zügigen Erzählens aus auch für eine erste grundlegende literarische Wirtschaftlichkeit: Diejenigen Elemente, die die Geschichte nicht vorantreiben, können identifiziert und als unnötiger Ballast über Bord geworfen werden. So verbirgt sich in der Wortkargheit des handwerklich argumentierenden Horaz ein anti-barockes, vor Überfrachtung warnendes Schönheitsideal, dem man mit Gewinn folgen kann, aber nicht muss: Anything goes.
In diesem Sinne,
Euer Challenge-Team