Bedingungslose Liebe
Ich liebte sie vom ersten Tag.
Es war ein warmer Frühlingstag und sie saß da in ihrem Lieblingskleid. Sie trug es meistens, wenn sie ausging, um Leute kennenzulernen, das wusste ich. Ihr Make-Up hatte sie dezent aufgetragen, um nicht von ihrer natürlichen Schönheit abzulenken. Normalerweise trug sie einiges mehr an Lidschatten und Lippenstift, aber heute konnte man auch ihre leichten Augenringe erkennen. Noch nie hatte ihre Schönheit in solcher Intensität gestrahlt. Noch nie hatte ich mich so angezogen von ihr gefühlt. Mein ganzer Körper vibrierte in Erwartung, sie anzusprechen. Sie kannte mich nicht, aber ich kannte sie. Besser als jeder andere auf dieser Welt und ich war mir sicher, sie würde mich auch lieben. So wie ich sie liebte: Mit jeder Zelle meines Körpers wollte ich ihr meine Liebe gestehen und sie betören. Ihre wunderschönen Beine lockten mich an und ich näherte mich ihr zum ersten Mal. Zum ersten Mal persönlich. In diesem Café waren eh nicht viele Leute, also was hatte ich zu verlieren.
Ich zitterte, als ich langsam auf sie zuging. Sie hob ihren Kopf, als sie merkte, dass ich ihr näher kam. Ja, ich tat es wirklich. Ich näherte mich meiner wahren, einzigen Liebe. Ich konnte kaum klar denken, aber sie schien verwirrt zu sein. Schaute auf, guckte weg und versuchte meinem liebesüberfüllten Blick auszuweichen.
„Hey“, war vorerst alles, was ich rausbrachte. Dann stand ich da. Direkt vor ihr, ihre wunderschönen Augen musterten mich von oben bis unten und mein Kopf schien zu explodieren. Ich konnte kaum ein Wort hervorbringen und stammelte kurz etwas Unverständliches, bevor ich wieder konzentrierter denken konnte.
„Du – du.. bist wunderschön“
Mist, hätte mir nicht etwas Besseres einfallen können? Die ganze Zeit hatte ich sie gesehen, sie beobachtet, ihre Verhaltensweisen studiert und sie jeden Tag mehr lieben gelernt. Aber keinen dieser Tage hatte ich darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn ich mich an sie heran trauen würde. Ich hatte mir keine Strategie zurecht gelegt, um sie mich lieben zu machen. Ich hatte es für selbstverständlich gehalten, dass diese immense Liebe nur auf Gegenseitigkeit beruhen kann! Und jetzt stand ich hier und sagte nur, sie sei wunderschön?
NEIN! SIE IST MEHR ALS WUNDERSCHÖN! Sie ist eine Göttin. MEINE Göttin! Verdammt, bin ich bescheuert? Ich muss sie überzeugen!
„Ich meinte… Du, bist wirklich hübsch. Ich hab dich von meinem Platz aus gesehen und dann... naja, ich… dachte mir, ich komm mal rüber?“
Das sollte keine Frage sein, du Idiot! Verdammt, jetzt lässt sie mich stehen und ich werde sie verlieren. Das kann ich nicht ertragen, ich werde sie schon dazu kriegen, mich zu lieben! Da! Sie will antworten!
„Oh, das ist aber süß!“
Mein Gott! Sie findet mich süß! Ich wusste es, ich wusste es von Anfang an. Meine bedingungslose Liebe hatte sie auch durch die Kameras erreicht.
„Aber ich.. nun ja, ich hab einen Freund.“
Nein.
Sie lügt. Aber wieso? Ich wusste, dass sie keinen Freund hat, der wäre doch auf den Videos gewesen. Also warum lügt sie mich an.
Sie will mich loswerden. Nein, das kann ich nicht zulassen. Sie wird mich lieben müssen, es geht nicht anders. Aber was mach ich denn jetzt?
„Oh, aber.. wir können doch wenigstens ein bisschen plaudern?“
Ich muss sie dazu kriegen, mich wenigstens ein bisschen kennenzulernen, damit sie sieht, dass ich der Einzige für sie bin. Niemand anders wird sie mit der Intensität lieben können, die ich seit Monaten für sie aufspare.
„Ich, es tut mir leid, aber ich kann das wirklich nicht. Sie mögen ja ganz nett aussehen, aber ich habe hier eine Verabredung und möchte jetzt nicht mehr gestört werden.“
Sie lügt schon wieder. Zu Verabredungen mit Bekannten trägt sie mehr Parfüm und einen Unbekannten trifft sie nicht, dass hätte sie einer Freundin erzählt und die letzten Tage hat sie mit ihren Freunden nichts dergleichen besprochen.
Heute Abend: Ein Spritzer Parfüm, leicht gekämmte Haare, aber nicht zu streng, nicht die Mühe gemacht, um sie zu glätten. Ihre braunen Locken einfach weggekämmt und anschließend Gesichtscreme, um die paar Pickel zu überdecken. So geht sie aus, wenn sie angesprochen werden will, nicht wenn sie die Initiative ergreift. Dann putzt sie sich mehr raus.
Ich konnte nur noch eins tun. Jetzt musste ICH die Initiative ergreifen. Wenn sie es so wollte, was konnte ich dagegen tun? Ich liebte sie nun mal.
„Du lügst“
„Wie bitte?“
„Du lügst, du triffst hier niemanden“
„Bitte gehen Sie jetzt. Ich bin wirklich verabredet und ich will hier nicht länger mit Ihnen gesehen werden“
„Lüg mich nicht an. Ich weiß, dass du keinen Freund hast. Kathy.“
Sie riss ihre Augen auf und starrte mich erschrocken an. Mich durchfuhr ein schönes Gefühl. Ein Gefühl der Macht über die Person, die ich liebte. Die Person, mit der ich mein ganzes Leben lang zusammen sein wollte. Und jetzt war ich so kurz davor.
„Wer sind sie, verdammt? Und woher kennen Sie meinen Namen??“
„Ich? Ich bin nur ein einfacher Verehrer.“ Ich zwinkerte sie an.
„Sie sind krank. Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.“
„Du darfst mich ruhig duzen. Wir kennen uns doch jetzt schon so lange“
„Ich kenne Sie überhaupt nicht, sie krankes Schwein. Verschwinden Sie jetzt sofort!“
„Oh doch, ich kenne dich. Ich weiß, wo du wohnst, ich weiß, auf welche Uni du gehst und ich weiß auch, wie deine Geschwister und Freunde heißen. Ich weiß alles über dich Kathy und ich weiß auch, dass meine bedingungslose Liebe von dir erwidert wird, wenn du mich nur besser kennst. Und deshalb möchte ich gerne einen Abend mit dir verbringen.“
„Mein Gott, Sie sind ja wirklich krank! Ich gehe jetzt.“
Nein! Sie durfte nicht gehen, ich war kurz davor, sie zu überzeugen, mit mir zu kommen, ich wusste es. Ich hatte doch ihr Interesse in ihren Augen gesehen. Ihre Neugier, als sie mich musterte. Als sie mich begaffte.
„Nein! Du bleibst! Ich liebe dich, Kathy, verstehst du das denn nicht?“
„Hören Sie auf! Ich verstehe nur eins, und zwar, dass sie komplett durchgedreht sind. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, oder ich rufe die Polizei!“
Jetzt war sie zu weit gegangen. Ich war nicht durchgedreht und wenn, dann nur ihretwegen, nur wegen ihrer unglaublichen Schönheit, die mir auch jetzt das Atmen erschwerte. Ich spürte, wie ein anderes Gefühl in mir emporstieg und ich versuchte, es zu erkennen. War es immer noch Liebe? Nein, es war… bitterer. Aber nicht dieses ekelige bitter, sondern eines, dass man genoss. Wie ein köstliches Glas Blutorangensaft mit ein bisschen Zucker. Ich ließ das Gefühl einen Moment in mir umherschwirren, bis ich es klar einordnen konnte und die Erkenntnis verwirrte mich zuerst.
Es war Wut.
Ich.. ich war wütend auf Kathy. Wieso konnte sie nicht sehen, wie verliebt ich war, wieso konnte sie nicht sehen, wie sehr ich sie verehrte. Würde sie doch nur fühlen, was ich fühlte. Sehen, was ich sah. Schmecken, was ich schmeckte. Diesen Geschmack der bedingungslosen Liebe, der alle anderen Sinne betörte und stilllegte. Ich wollte sie mich lieben machen, um jeden Preis, aber sie wich mir aus und beleidigte mich. Und das machte mich wütend. So wütend, dass ich rot sah. Ich sah nichts mehr, bis auf Kathy vor mir, umspielt von einem zärtlichen rot. Ihre wunderschönen Haare harmonierten perfekt mit diesem Farbton. Ich sah ihre pure Schönheit und driftete in eine völlige Leere. Ich schien zu schweben, in vollkommener, bitterer Harmonie und fühlte mich erfüllt von Liebe und Wut.
Dann erlangte ich meine Sinne wieder und blickte auf Kathy, die mittlerweile gefesselt war.
Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo ich war. Ich betrat meinen Keller selten. Aber jetzt hatte ich Kathy hier an einen alten, dunkelbraunen Sessel gefesselt. Es war mein Lieblingssessel, der eigentlich in meinem Wohnzimmer stand. Ich war schon viele Abende auf ihm eingeschlafen, während ich mir die Aufnahmen des Tages wieder und wieder anschaute. Kathy beobachtete, wie sie ihre Schuhe zuband, wie sie Spaghetti kochte, wie sie Freunden die Tür öffnete.
Zum Schluss bewahrte ich mir immer die Szenen auf, die ich nicht ertragen konnte. Ich wusste nicht, warum ich mir das antat, aber bevor ich einschlief schaute ich mir die Aufnahmen an, auf denen andere Männer vorkamen. Ein zu langes Gespräch mit dem Postboten. Ein auffälliger Blick, den sie dem Klempner hinterherwarf, wenn er ging. Das Knistern, das ich spürte, wenn sie auf Männer traf. Es stach mir ins Herz und saugte mich aus, wie eine Mücke. Diese Blicke, diese Momente saugten das Blut aus mir und machten mich unfähig zu denken. Jedes Mal, wenn ich mir diese Aufnahmen anschaute, musste ich weinen und wurde unglaublich wütend auf mich. Wieso konnte ich mich ihr nicht nähern, wieso war ich so unglaublich dämlich, sie zu beobachten, ohne auch nur ein Wort mit ihr zu reden? Ich schlug mich, bis ich vor Schmerzen einschlief.
Kathy riss mich aus meinen Gedanken. Sie sagte nichts, wie sollte sie auch mit dem Knebel im Mund, aber ihre Augen schrien mich an und weckten mich aus meiner Trance. Ich hatte erneut geweint.
Jetzt saß sie hier vor mir. Unfähig, sich zu bewegen. Unfähig, zu reden. Unfähig.
Ich jedoch hatte die Macht, sie zu lieben. Sie konnte nicht weglaufen, sie konnte nicht schreien, sie konnte sich nicht wehren. Ich fühlte Liebe. Bedingungslose Liebe.
Das Gefühl war stärker als je zuvor und es war großartig. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Befreit von allem Bösen. Befreit von Kathys widerspenstigen Worten. Befreit von meiner Angst.
Was sollte ich nun tun? Konnte ich Kathy wieder gehen lassen, nachdem wir uns kennengelernt hatten? Wie sollten wir uns kennenlernen? Essen gehen war eine schlechte Idee, ich hatte keinen Hunger. Vielleicht ein Glas Wein auf dem Sofa… keine schlechte Idee, aber Kathy würde versuchen zu fliehen. Im Keller zu bleiben ist wohl die beste Idee.
Ich sah ihr in die Augen.
Sie sah mir in die Augen.
Ich sah, dass sie mich liebte.
Sie sah, dass ich sie liebte.
Wir sahen uns gegenseitig in die Augen und ich wurde schwach.
Ich hatte es nicht geplant, aber mein Wille war stärker als mein Verstand.
Ich dachte nicht mehr nach und tat, was ich schon die ganze Zeit tun wollte.
Ich liebte Kathy, wie nur bedingungslose Liebe es hervorbringen konnte und ich genoss es.
Ich liebte sie die ganze Nacht und als die Sonne aufging, war sie bereits tot.
Doch irgendetwas fehlte. Ich war nicht mehr erfüllt von Liebe. Nein, die Wut war zurückgekehrt. Die Wut auf mich selbst. Ich wusste nur einen Weg, sie los zu werden.
Also machte ich mich erneut auf den Weg in ein Café, denn meine bedingungslose Liebe war zu groß, als dass ich sie auf eine einzelne Person manifestieren konnte.
„Hallo, Lucy.“