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- 05.10.2013
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Beep
BEEP
„Wir wissen nicht, ob sie wieder aufwacht.“ Der kleine Mann in seinem weißen Kittel konnte mir nicht mal in die Augen gucken. Das monotone BEEP der Überwachungsgeräte brennt sich in mein Gedächtnis. Seit einem Jahr höre ich jeden Tag BEEP. Alle zehn Sekunden BEEP. Selbst wenn ich mal nicht hier bin - auf der Arbeit, in der U-Bahn: Es BEEPT. Den ersten Monat im Krankenhaus hab ich mich auf den hellen Ton gefreut. Sie lebt. Alle zehn Sekunden wurde ich daran erinnert. Wenn ich kurz einnickte, die Schreie und Sirenen hörte, weckte mich ein BEEP.
Nach dem ersten Monat musste ich wieder in den Alltag zurück. Leben. Von Wegen. Existieren. Meinen Job als Fotograf konnte ich nicht weitermachen. Es ist scheinbar unpassend hysterisch zu weinen, während man eine Hochzeit fotografiert. Leider engagiert niemand einen Fotografen für Beerdigungen. Jetzt habe ich einen neune Job. Bei einem Kumpel im Atelier. Bürozeug machen. Heften – Lochen – Stempeln, es interessiert mich nicht. Ich muss nur die Rechnungen bezahlen. Ich musste mein Fahrrad verkaufen. Ein Downhill Bike. Ich hab für das gebrauchte Rad mehr bekommen, als meine Eltern für mein erstes Auto zahlten. Lena hat sich immer darüber lustig gemacht. Ich würde mir noch den Hals brechen. Im Wald sterben. Trotz Helm und Protektoren. Wer hätte gedacht, dass eine U-Bahnstation gefährlicher ist, als auf einem Drahtesel Berge hinabzustürzen.
Aus dem Büro fahre ich immer gleich ins Krankenhaus. BEEP. Das erste was ich höre, wenn die Tür aufgeht. BEEP. Das beste Geräusch der Welt. Sie lebt. Sie existiert. BEEP.
Der Schmerz im Rücken wird unwirklich, wenn man jeden Tag auf einem Stuhl schläft. Die Erinnerungen an die Zeit ohne schmerzen verblassen langsam. Monate auf einem Stuhl. Monatelang brennt sich das BEEP in meine Ohren.
Die Polizisten kommen wieder. Zeigen mir Fotos. Fünfzehnjährige Jugendliche. Tiere. Monster. Ich erkenne sie wieder. „Der hier, der war dabei. Und der Blonde hier.“ Die Polizisten gucken sich an. Hab ich auf den Falschen gezeigt? Nein. Er war es. Ganz sicher. Dieses Grinsen werde ich nie vergessen. Als hätte er gerade das Fünf zu Null geschossen. Es war aber kein Fußball. Es war ihr Kopf. Die Polizisten gehen wieder. „Wir kriegen die Schweine!“ Sie lassen mich mit dem BEEP alleine.
Wochen vergehen. Monate. Oder sind es Jahre? Oder nur Tage?
Die Ärzte zeigen mir blauschwarze Kunstwerke. Sie erklären, dass Schatten und Linien, die ich nicht erkenne, schlecht aussehen. BEEP. Sie irren sich. Lena wird aufwachen. Es wird schwer werden. Wir werden zur Reha gehen. Lange. Monate. Jahre. Ich habe alle Prospekte gelesen. Erst Sprachtraining. Dann Physiotherapie. Vielleicht wird Sie nie wieder arbeiten können. Oder im Rollstuhl sitzen. Wir können Brettspiele spielen. Die Welt im sitzen ist nicht so schlecht. Ich hab immer damit gerechnet, mir beim Klettern ohne Sicherung den Rücken zu brechen. Das Leben im Rollstuhl ist besser als gar kein Leben. Als der Joker Batgirl niederschoss, wurde sie zu Oracle. BEEP. BEEP.
Meine Freunde melden sich noch. Ihre schicken Karten.
BEEP.
Meine Eltern kommen zu Besuch. Immer seltener. Sie wohnen weit weg. Sie rufen an. Sie machen weiter.
BEEP.
Ihre Eltern sind früh gestorben. Autounfall. Aus dem nichts. Glückspilze. BEEP.
Kein Monatelanges Koma. Keine Schatten auf Röntgenbildern, keine uneindeutigen Gehirnströme. Keine Hoffnung, keine Enttäuschung, kein BEEP. BEEP. Monatelang. BEEP. BEEP. BEEP.
BEEP. Ich höre es jetzt überall. Als ich mir den zu billigen Anzug kaufe. BEEP. Morgens beim Zähneputzen. BEEP. In der U-Bahn. BEEP. Auf den Stufen der Treppe. BEEP. Als ich mich in den Gerichtssaal setze. BEEP. Als ich den Blonden sehe. BEEP. Als alle aufstehen. BEEP. „Und daher erkennen wir die Angeklagten für Schuldig im Sinne der Anklage.“ BEEEP. „Unter Berücksichtigung der verminderten Schuldfähigkeit durch Alkohol…“ BEEP? „… und die besonderen sozialen Umstände,…“ BEEP „…verurteilen wir Sie zu fünf Jahren in einer Jugendhaftanstalt.“ BEEP. BEEP. BEEP. Was ist passiert? Fünf Jahre? Für ein Leben? Für zwei Leben? BEEEEP.
Ich springe auf. „Nein!“ Schreie. Alle starren mich an. „Nein. Sie haben meine Frau ermordet.“ Sicherheitskräfte kommen näher. „Das ist nicht Gerecht!“ Der Dicke greift meinen rechten Arm, „Ihr solltet tot sein,…“, der Dünne meinen Linken. „…nicht meine Lena. Sie hat keinem was getan. Ihr, Ihr solltet sterben. Nicht ich.“ BEEP. BEEP. BEEEP. BEEEEEEEPPPPPPP. Beeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee…
„Es war einfach zu viel. An einem Tag musste ich Entscheiden, ihre Lebensverlängernde Maßnahmen abzuschalten. Und am nächsten hab ich das Grinsen von dem… von dem… Täter gesehen. Von diesem Teufel. Fünf Jahre.“ Die Couch ist bequem. Weiches braunes Leder. Mir tut trotzdem alles weh. Jedes Molekül in meinem Körper brennt. BEEP.
„Und was ist jetzt anders?“ Doktor Kemp mustert mich. Versucht mich zu durchschauen. „Was anders ist?“ Nichts. „Ich habe eingesehen, dass ich nicht die Kontrolle über das Leben habe.“ Ich lächle, BEEP, aufgesetzt. „Schlimme Dinge passieren.“ Dr. Kemp sieht nachdenklich aus. Er guckt aus dem Fenster. „Ich würde sie wirklich gerne entlassen. Sie haben sehr viel durchgemacht. Aber, ich habe Angst, dass sie in Stresssituationen wieder die Kontrolle verlieren. Das sie erneut Gewalttätig werden.“ BEEP. „Ich kann mich nicht mal daran erinnern.“
Dr. Kemp blättert in einer Akte. Meiner Akte. Er zeigt mir ein Foto. „Er kann sich an alles erinnern.“ Der dicke Wachmann. Er hat ein blaues Auge. BEEP. Ein Gestell aus Aluminium und Drähten ist um seinen Kopf drapiert. „Das war ich nicht. Ich meine, dass war nicht wirklich ich. Ich hatte einen, einen Schock oder so was.“ „Des wegen sind sie auch im Landeskrankenhaus…“ BEEP. „…und nicht im Gefängnis.“ Ich weiß nicht, was ich noch sagen kann. Eigentlich ist es mir auch egal. Ich bin mit Lena gestorben. Ob die mich hier einsperren oder in die Zivilisation aussperren, was ist der Unterschied? BEEP. BEEP.
„Ich wünschte, ich hätte den Mann nicht verletzt. Ich weiß wie es ist verletzt zu werden. Es ist schlimm. Ich will niemand wehtun. Wenn sie denken, ich bin eine Gefahr für die Gesellschaft,…“ BEEP. „… dann müssen sie mich hier behalten.“ BEEP.
BEEP. Nach drei Monaten im Landeskrankenhaus komme ich wieder nach Hause. BEEP. Nach Hause. Ich komme in das Gebäude, in dem wir mal zuhause waren. Die Eingangstür schiebt beim öffnen einen Berg Werbeprospekte, die sich unter dem Briefschlitz stapeln. Mit einem surren erleuchtet die Lampe im Flur. BEEP. Staub liegt in der Luft. Im Wohnzimmer schimmert ein grauer Staubfilm auf dem Couchtisch, auf dem Laminat, auf allen Möbeln. Sonst ist die Wohnung unverändert. Die Zeit ist einfach stehen geblieben. Meine Eltern haben keinen Schlüssel. Gut so. Ich will, dass alles so bleibt wie es war. BEEP.
Meine Downhill - Ausrüstung liegt immer noch im Wohnzimmer verteilt. Der Integralhelm auf dem Boden. Die Schutzweste auf dem Sofa. Handschuhe, Unterarm- und Schienbeinschoner liegen auf dem Schreibtisch. BEEP. Lena war sauer. Ich kam zu spät. Ich war den ganzen Tag im Harz. Neue Strecke ausprobieren. Um elf war ich zuhause. „Wir wollten vor drei Stunden auf der Party sein!“ BEEP. Ich habe alles fallen lassen. Geduscht. Mich umgezogen. Fertig in zehn Minuten. Sie hat nicht gestaunt. Kein Applaus. Lena war sauer. Ich war es gewohnt. BEEP.
Jetzt sieht alles noch genauso aus. Nur meine kleinen Statuen von Comicfiguren liegen auf dem Boden. Ich hebe Batman auf. Er ist zerbrochen. Lena. Sie hat ihn zerbrochen. Auf dem Weg zur U-Bahn hat sie sich entschuldigt. Ein Sammlerstück aus schweren, hochwertigen Plastik. Sie muss sehr sauer gewesen sein. Batman kann man kaum zerbrechen. BEEP.
Der Kopf der Figur fehlt. Der dunkle Ritter. Wie oft hat sie mich dafür aufgezogen. Ich soll erwachsen werden. Superhelden sind für kleine Jungs und fette Nerds. Die beschützen einen nicht. BEEP. Ich lasse die Figur fallen. Batman. Ich bin in Berlin. Nicht Gotham City. Vier Jungs nachts auf einem vollen U-Bahnhof. Vier Monster. Nicht der Joker. Nicht der Pinguin. Keine verrückten Genies mit grotesken Plänen die Welt zu beherrschen. Nein. Schlimmer. Langeweile. Keine Zukunftsperspektiven und ein sozial schwaches Umfeld. Gemischt mit Drogen und Alkohol ergibt das mildernde Umstände. Der Joker wäre explodiert vor Lachen. BEEP.
Ich kann nicht schlafen. BEEP. Die Flasche Berliner-Luft-Luft-Luft ist alle. BEEP. Nichts ist besser als Pfefferminzschnaps zum Einschlafen. Braucht man sich nicht mal die Zähne putzen. Schön frisch. BEEP.
Der Abspann von Batman läuft auf meinem 60 Zoll Fernseher. Sie hat ihn mir gekauft, damit ich mal zuhause bleibe. In Berlin. BEEP. Wo es sicher ist. Keine Berge runterstürzen. DVDs von spektakulären Downhillfahrten gucken. Anderen zu sehen, wie sie ihr Leben im Wald riskieren und Spaß haben. Das ist nichts für mich. Bevor ich ein Fußballspiel auf der Couch glotze, gehe ich lieber selbst in den Park. BEEP. Selbst Leben, nicht zugucken. BEEP.
BEEP. Es ist kalt. Meine FlipFlops machen beim einen Schritt FLIP und beim nächsten FLOP. Ich hätte mir Schuhe anziehen sollen. Oder gleich ins Bett gehen. Aber ohne Schnaps hab ich Träume. Das kann ich nicht riskieren. BEEP.
Der Kiosk ist zu. Halb drei. Wieso hat der zu? Wie die Höhlenmenschen. Und jetzt? Weiter. Die Treppen der U-Bahnstation sind rutschig. Hat es gefroren? Vielleicht liegt’s an meinen Latschen. BEEP. Vielleicht auch an dem null Komma sieben Litern süßem Likör. Die Leuchtstofflampen brennen in meinen Augen. Die gelben Wandkacheln tun ihr übriges. Der nächste Kiosk. BEEP. Auch zu. BEEP. Fuck. Ich sollte nach Hause gehen. BEEP. Ich drehe um. Ein Pärchen schlendert an mir vorbei. Sehen nicht sonderlich verliebt aus. „Ich fand’s auch, ähm, nett.“ Die Frau klingt nach erstem Date. „Wann können wir uns Wieders…“ Ich höre dem Mann nicht weiter zu. Ich muss in mein Bett. BEEP. Der Tunnel zu den Treppen kommt mir länger vor als auf dem Hinwe… Moment. Das Kabuff auf dem Bahnsteig. Das hat immer auf. Ich muss lächeln.
BEEP. Ich gehe zurück. Vorbei am geschlossenem Kiosk. Eine weitere lange Treppe hinab zum Bahnsteig. Das Pärchen steht am Gleis und wartet auf die U6. Er will sie umarmen. Die haben es gut. In der kleinen Zeitungsbude brennt Licht. BEEP. Gesichtslose Figuren warten auf ihre Züge. Es riecht nach Party und Spaß. Jägermeister, Trockeneis und Pisse. BEEP. „Lass mich los!“ Sie stößt den Mann von sich weg. Der hat noch ihr rechtes Handgelenk im Griff. „Komm schon. Ein bisschen Spaß muss sein.“ Er ist ein Kopf größer als die Frau. Größer als ich. Vielleicht liegt es am Anzug. Der verleiht Größe. Na ja. Er sieht eher aus wie ein Bankangestellter. Halbglatze, Brille. Harmlos. BEEP. BEEP.
„Ich will nichts von Dir.“ Die Frau schreit jetzt. Kreischt. Kratzt. Es wird heftig. Peinlich berührt drehen sich die Partypeople ab. Man will den Spaß teilen. BEEP. Nicht das Leid. BEEP. Die Frau holt zur Ohrfeige aus, der Mann fängt die ab. Jetzt hat er beide Arme der Frau fest im Griff. BEEP. Wie eine Marionette hebt er sie fast in die Luft. BEEP. Er lacht. BEEP. Sehr gut. BEEP. Er passt nicht auf. BEEP. BEEEP. BEEEEEEEEEEEP.
Ich treffe den Mann am Rücken. Meine Faust prallt gegen seine Schulter. Aua. Knochen. Er dreht sich um. Lässt die Frau los. „Was bist du den für eine Arschtrompete?“, er findet es witzig. Lacht. „Lassen Sie die Frau in Ruhe!“ Er holt aus und schlägt mir in die Magenkuhle. Ich breche zusammen. „Hey, du spinnst wohl!“ „Verpiss dich du Asi“ „Ruf mal wer die Bullen!“ Plötzlich scheint Interesse zu bestehen. Der Mann grinst. Die U-Bahn fährt ein. Er richtet sein Jackett, steigt in die Bahn ein. „Ich ruf dich an.“ Er grinst die Frau an. „Fick dich du Arsch!“ Sie wird wohl nicht den Hörer abnehmen.
Kaffee. Pfefferminzschnaps wäre besser. Aber Corinna besteht auf Kaffee. Sie ist achtundzwanzig, Lehrerin, hübsch. Na ja, hübsches Gesicht. Sie hat ein paar mehr Kilo zu viel. Sie trägt trotzdem Leggings. Frauen. Den Mann kannte sie kaum. Friendscout24.de. Heutzutage kann man sich seine Täter im Internet aussuchen. „Dabei schien er so harmlos. Verkäufer im Autohaus.“ Das können doch gar keine schlechten Menschen sein.
Corinna ist sehr Dankbar. Es hat ja sonst keiner was getan. „Alles Arschlöcher!“ Stimmt. „Wärst du nicht gewesen…, Gott, wer weiß wie so was ausgehen kann.“ Ich weiß es. Böse.
Corinna will meine Nummer haben. Ich will sie ihr aber nicht geben. Ich habe Angst, dass ich den Telefonhörer abnehme. Sie versteht es nicht.
Ich schrecke hoch. Das Licht bricht durch die Gardinen. Ich gucke auf mein Handy. Zehn Uhr Morgens, dreiunddreißig Anrufe in Abwesenheit. Meine Eltern. Ich hab noch nicht mit ihnen telefoniert, seit ich wieder zuhause bin.
Irgendwas ist komisch. Ich komm nicht drauf. Ich quäle mich aus dem Bett. Es ist so leise. Was fehlt?
In der Küche schwirren Fruchtfliegen. Der süße Gestank erinnert mich daran, dass ich den Müll rauszubringen könnte. Sechs Monate alter Abfall. Ein Wunder, dass keiner der Nachbarn mich bei dem Gestank für Tot gehalten hat.
Ich lese meine E-Mails, während ich auf die Kaffeemaschine warte. Eine Nachricht von meinen Eltern. Ich rufe später an. Vielleicht. Warum ist es so leise? Ein Google Alert. Btrf.: Schlägerei in UBahn! - Ich kriege jedes Mal eine E-Mail, wenn bestimmte Begriffe ( U-Bahn / Schlägerei / Überfall / Backstreet Boys ) im Internet auftauchen. Die wunderbare Welt von Morgen. - Ich öffne den Link. Corinnas Gesicht grinst mich an. Sie hat offenbar eine Internetseite. Einen Blog. Auf dem ist der gestrige Abend blumig beschrieben. Held rettet mich in der U-Bahn vor… Ich kenne die Geschichte schon. Ich lese sie trotzdem drei Mal. Ich muss lächeln.
BEEP. Ach, da ist es wieder. Der Friedhof ist grau. Bäume haben keine Blätter. Es nieselt. Anstatt Blumen sind Tannenzweige auf den Gräbern. BEEP. Ihr Grab sieht anders aus. Frischer. Die Blumen senken ihre Häupter. Der Granitstein glänzt. Ich war noch nicht hier. Anstatt auf ihrer Beerdigung zu weinen, hab ich mit einem Mann, der sich für einen Regenbogen hält, im Schach verloren. BEEP.
Ich weiß nicht was ich tun soll. BEEP. Da unten liegt sie jetzt, in der kalten Erde. BEEP. Und hier stehe ich, auf der kalten Erde. BEEP. BEEP. Irgendwo sitzt ein blonder Junge, ein blonder Schurke, in einer betreuten Wohngemeinschaft für Kriminelle. BEEP. Er glotzt Fernsehen. BEEP. Sitzt im Warmen auf der Couch. BEEP. Frisst Chips. BEEP. BEEP. Glotzt Fernsehen. BEEP. Wahrscheinlich Müll. Ich bin ein Star, holt mich hier raus. BEEP. Asi-Abschaum. BEEP. Er lacht sicher, macht Witze. Fünf Jahre. BEEP. BEEP. Meine Ohren tun weh. BEEEEP.
Zwei Mädchen tuscheln. Sie gucken zu mir rüber. Kichern. Ich versuch sie zu ignorieren. Was hab ich erwartet. BEEP. Ein Obdachloser fragt die Frau neben mir nach Kleingeld. Sie ignoriert ihn. Als wäre er nicht da. „Was hast’n du da an Kumpel?“ er stinkt nach Korn. „Eine Ritterrüstung?“ Ich hätte mir was überziehen sollen. BEEP. Einen Kapuzenpulli. Das wäre gut. Einen schwarzen Kaputzenpulli. So stehe ich da in meiner Downhill - Ausrüstung. BEEP.
Als ich nach Hause kam war ich unruhig. Das Beepen war lauter den je. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Morgens hab ich gar nichts gehört. Erst seit dem ich auf dem Friedhof war. Ich kann kein Fernsehgucken, keine Musik höre, kaum Masturbieren. Die gute Berliner-Luft-Luft-Luft hilft mir das das schrille Beepen auf dumpf zu schalten. BEEP.
Ich muss raus. Den Leuten helfen. Vielleicht ist das mein Schicksal. BEEP.
Als ich die Tür abschloss schmerzte meine Hand. Der Schlag gegen sein Schulterblatt. Es tat immer noch weh. Ich sollte Handschuhe anziehen. Ich ging wieder in die Wohnung. Die Handschuhe lagen noch auf dem Schreibtisch. Downhillhandschuhe sind ziemlich Stabil. Die Knöchel der Finger sind mit Plastikkappen verstärkt. Der Handrücken und der Ballen mit Leder gepolstert. Perfekt. Ich starrte Minutenlang die Arm und Beinschoner an. Kleine Zahnräder drehten sich in meinem Kopf. Puzzleteile fügten sich zusammen. Ich habe eine komplette Schutzausrüstung. Meine Aufprallweste sieht aus wie die Rüstung eines Gladiators. Die Frontplatte und die Rückplatte sind gebogene schwarze Plastikrippen auf festem Stoff die mit Strechgummis verbunden sind. Die Schultern und Oberarme haben separate Pads. Mit den Schienbeinschoner und Unterarmschoner aus hartem Plastik bleiben nur wenige Stellen meines Körpers ungeschützt. In dieser Ausrüstung konnte ich mit 35 km/h gegen einen Baum fahren. Der Baum ist der Schläger des Waldes.
Das ganze sah noch beeindruckender aus, als ich den schwarzen Integralhelm aufsetzte. Im Gegensatz zu einem normalen Fahrradhelm hat der einen Kieferschutz. Da bricht eher die Faust des gemeinen Straßenschlägers als mein Kiefer. Außer er hat eine Pistole. Doch dann ist er ja kein Schläger mehr.
„Ja das ist meine Ritterrüstung.“ Was soll ich dem Penner erklären, dass ich für tausendfünfhundert Euro Schützausrüstung zum Fahrradfahren in der U-Bahn trage. Er guckt mir in die Augen. Lächelt. Komischer Typ. Ach, er betrachtet sein Spiegelbild in meiner Schutzbrille. Eine Snowboardbrille die mir Lena zum Geburtstag schenkte. „Die ist nicht extra zum Biken.“ Sagte ich. „Hauptsache du bekommst keine Steine in die Augen!“ Frauen. Die Brille hat trotzdem funktioniert. Und so erkennt mich keiner.
Der Obdachlose geht weiter. Fragt den nächsten nach Kleingeld. Zieht durch die Nacht. Bettelt nach Geld. Bettelt zu Leben. BEEP.
„Lass ihn in Frieden!“ Schrei ich. Zwei besoffene Fußballfans sind eingestiegen. Haben gesungen, „Heeeerrrtthhhhaaaa BEEEEE EEEES CEEEEEE!“ Der Obdachlose fragte Sie nach Kleingeld. Der Kleine nahm ihm seinen Pappbecher mit dem Kleingeld weg. Der Tätowierte lachte nur. Als ich einschritt haben sie gelacht. „Wat bis du’n für’n Vojel?“ „Kennste nicht? Dit is Arschmen!“ „Stimmt sieht os wie’n Arsch!“ Das Gelächter der Passagiere macht mich rasend. Ich schubse den Mann mit den selbstgestochenen Anker auf dem Unterarm weg. Meine Rüstung macht mich unbeweglich. Der kleine schlägt mir gegen den Kopf. Ich spüre es kaum. Der Tätowierte tritt mir zwischen die Beine. Das spüre ich. Mein Nervensystem meldet nur noch „HINFALLEN“ und meine Muskeln gehorchen. Ich muss aufstehen. Aber ich kann nicht. „Lasst ihn in Frieden ihr Arschlöcher!“ der Obdachlose schreit krächzend. Zu viele Zigaretten. „Er hat anjefangen!“ „Is bestimmt son drecks Union Fan!“
Ich sitze auf der Parkbank. Was mach ich hier? Hat das irgendeinen Sinn? Die Nacht ist kalt und ich bin nüchtern. Der Mond ist voll, ich leider nicht. Der Obdachlose kommt zurück. „Hatten nur noch Pfeffi!“ Er zeigt die Flasche mit dem grünen Gift. „Besser als Salzi!“ Ich lache. Er nicht. „Salzi? Wegen Salz und Pfeffer…?“ Ich nehme die Flasche an mich. „Vergiss es!“ Ich versuch zu trinken. Nicht so leicht mit dem Helm auf.
„Und du bist so was wie ein super Mann?“ Ich muss lachen. „Super Mann? Anscheinend nicht!“
Er nimmt die Flasche. Trinkt. Ich bin neidisch auf den Mond.
„Ich kann niemanden retten.“
„Du hast mich gerettet…“ Er grinst während er mir die Flasche wiedergibt. „…und das ist ja schon was?“
„Das war Glück. Die Beiden waren harmlos.“ Ich trinke, ohne abzusetzen trinke ich.
„Harmlos? In deiner Ritterrüstung kann dir ja nicht viel passieren.“ Er kichert wie ein kleines Schulmädchen. „Ausser deinen Klöten. Die sind jetzt Rühreier.“
Ich kann kaum gehen. Sitzen ist noch schlimmer. Ich fühle mich großartig. Ich Fühle. Etwas Nasses läuft meinen Rücken hinab. Schweiß? Nein, es ist ziemlich kalt. Ich setze den grauen Rucksack mit den roten Applikationen ab. Der Reißverschluss geht nur noch schwer auf. Zu viele Stürze mit dem Skateboard. Oh man, die Bierflaschen. Ich hätte sie vorher ausschütten sollen. Jetzt stinke ich nach Bier. Das Duschen heute Morgen war eine Qual. Das Bein über den Rand der Wanne zu heben ist keine Freude, wenn man die Nacht zuvor beinahe zum Eunuch wurde. Wegen 8 Cent Pfand kann ich jetzt wieder Duschen.
Vor dem Rewe Supermarkt steht immer die gleiche Zigeunerin und bettelt nach Kleingeld. Was heißt bettelt. Große Anstrengungen unternimmt sie nicht. Sie hält nur ihre Hand auf und sucht Augenkontakt. Menschliche Nähe. Nichts für mich. Nicht mehr.
Ich hasse die Supermärkte in der Stadt. Auf dem Dorf hatte man Platz, man konnte mal stehen bleiben. Hier rempelt mir eine Oma mit ihrem Einkaufswagen gegen die Beine. Kein Entschuldigung, nichts. Ich würde es eh nicht hören. Das Kunstleder meine oliven Kopfhörer schirmen jedes Geräusch ab. Den Rest besorgt eine irische Folk Punk Band.
Ich stehe zwanzig Minuten an, um zehn Bierflaschen zurückzubringen. So leicht kann man achtzig Cent verdienen. Bei jeder Flasche beept der Automat. „Ach!“ rutscht es mir heraus. Eine Mutti guckt mich fragend an. Meine Augen sagen, ich habe nicht sie gemeint.
An der Kasse stehe ich ewig an. Wie jedes Mal, chronisch unterbesetzt. Zeit ist Geld. Nicht meins. Fünfunddreißig Minuten und ich hab achtzig Cent verdient. Was heißt verdient ich hab sie ja vorher bezahlt. Pfand. Bei jedem Schritt den ich nach vorne mache, folgt der Einkaufswagen der Oma hinter mir. Keinen Sicherheitsabstand. BEEP. War das an der Kasse? Kurz bevor ich endlich meine Millionenschatz einlösen kann, fährt mir die Oma wieder in den Hacken. BEEP. BEEP. Ich drehe mich zu ihr um, guck sie so finster an wie es geht, „Geht’s noch?“ Bevor sie was sagen kann, greife ich das Gitter ihres Einkaufwagens und schubse sie zurück. Das Ganze ereignet sich zu dem Punkrockhit Ballroom Heroes von den Dropkick Murphys. Ich bin der Supermarkt Held. Die Kasse beept als die Kassiererin den weißen Pfandbon über die Laser zieht. Sie gibt mir achtzig Cent.
Als ich aus der automatischen Schiebetür gehe, gucke ich der Bettlerin in die Augen. Verdammt. Ich sollte ihr die achtzig Cent geben. Aber wofür war dann die ganze Tortur? BEEP.
„Danke!“ sagt der alte Mann. Keiner ist Aufgestanden als er in den Wagon stieg. Nicht mal die kleine Asiatin, die krampfhaft versucht mich nicht anzustarren. Dabei sollen Asiaten doch so höfflich sein. Ich stehe auf und der weißhaarige Opa setzt sich auf meinem Platz. Die zweite Heldentat heute Abend.
Ich bin Stundenlang U-Bahn gefahren. Ohne besondere Vorkommnisse. Die Blicke der Passagiere stören kaum noch. Wenigstens lacht keiner mehr, seit ich den Golfschläger dabei habe. Ich habe meine Lektion gelernt. In der Rüstung bin ich zu langsam für einen Faustkampf. Außerdem hab ich mich noch nie Geschlagen. Klar, ich wurde verprügelt. Da habe ich aber nicht zurück geschlagen. Es wäre also idiotisch zu glauben, ich hätte eine Chance gegen die kampferprobten zwölf Jährigen Super-Schurken aus Neukölln.
Nach drei Stunden in der U6 und der U8 bin ich in die S-Bahn gewechselt. Am Alexanderplatz habe ich das Handy von einem fünfzehn Jährigen Bayern mit meinem Golfschläger zertrümmert. Er wollte auf partout nicht die Rapmusik ausmachen. Dabei hab ich ihn zwei Mal dazu aufgefordert. Doofe Touristen.
Ich bin dann schnell geflüchtet, bevor die Polizei kam, die eine Frau anrief. Sollen die Kollegen in Blau den kleinen Ganoven einsperren. Superhelden erledigen keinen Papierkram.
Ich gehe die Treppen vom U-Bahnhof Platz der Luftbrücke hinauf. Hier hat alles angefangen. Gleich vor dem Ausgang kaufe ich mir einen Döner. „Scharf bitte.“ Der fröhliche dicke Verkäufer lächelt mich an: „Einmal scharf für den Motorrad Mann, kommt sofort!“
Es ist ganz schön schwer einen Döner zu essen, wenn man einen Integralhelm trägt. Der Kieferschutz ist im weg. Ich will aber den Helm nicht abnehmen. Einer meiner Feinde könnte mich beobachten. Also stopfe ich den Döner unter dem Gesichtsschutz durch, während ich Richtung Bett trotte. Die rote Sauce klatscht auf meinen schwarzen Pullover. Mist. Ich hab keinen Schnaps mehr zuhause. Doppelt Mist. Kein Doppelkorn gleich Doppel-Mist. Ich muss kichern. Ich weiß nicht ob Batman über seine eigenen Witze lacht. Er ist aber auch nicht so witzig wie ich, wie der… ich bräuchte eigentlich einen coolen Namen. Mountainbike Man wäre eigentlich nicht schlecht. Auf dem Weg zum Bahnsteigkabuff, wo die gute Berliner Luft-Luft-Luft auf mich wartet, denke ich über weitere Namen nach. Golf Boy? Klingt irgendwie homosexuell. Captain Berlin 2000. Hmmm… Nicht schlecht.
Die U6 fährt ein, als ich gerade die sieben Euro für den Schnaps übergebe. Die Verkäuferin wundert sich nicht mehr über meinen Anblick.
„Verpisst Euch!“ Höre ich es schreien.
Ich wittere die Gefahr. Eine schlaksige Figur wird von drei jugendlichen umzingelt. Schreie fliegen durch die Luft. Auf Deutsch, türkisch und Halb und Halb. Es ist soweit. Der Moment auf den ich gewartet habe. Showtime.
„Ergebt Euch, oder spürt den Zorn… der, ähm, der Nachtigal.“ Was war das den bitte? Die Nachtigal. Ich sollte nicht improvisieren. BEEP.
Alle gucken mich Fragend an. Der schlaksige Mann, in seinem Disco Outfit aus Plastik Jacke und Kunststoff Hose sieht aus, als würde ihn die Lebensmittelverpackungsindustrie sponsern.
Um ihn herum die Verbrecher. Kriminelle. Enge Jeans, Turnschuhe, GOLDKETTEN. Abschaum. Einer hat sehr blonde Haare. Ist er es? Nein. Das kann nicht sein. Der von damals liegt im Jugendknast in einer Hängematte und trinkt Pina Coladas.
„Was bist du für ein Vogel?“ Die drei Gangster lachen.
Wie dämlich, „Ähm, ich, ich bin die Nachtigal?! Ich arbeite noch an dem Namen!“. BEEP. Da habe ich Wochenlang auf diesen Moment gewartet und jetzt heiße ich wie ein schwuler Vogel.
„Ist das so eine Homosexuellensache?“ fragt der Blonde. Seine Freunde brechen in Gelächter aus.
Der schlaksige ergreift die initiative und schlägt dem kleinen auf die Nase. Blut spritzt. Das hätte ich damals auch machen sollen. Ohne zu zögern tritt der größte der drei das Opfer nieder. „Du spinnst wohl!“ Ruft der kleine mit der blutigen Nase.
„Beim zwitschern der Nachtigal!“ Rufe ich im rennen. Sie sehen mich kommen. Der dunkle Retter. Gepanzert, düster, heroisch den Golfschläger schwingend.
Sie fliehen. Diese Feiglinge. Der große und der kleine stürzen die Treppe vom Bahnsteig hinauf. Der blonde Feigling rennt von der linken Seite, zum anderen Gleis. Versteckt sich hinter dem Süßigkeiten Automat. Erbärmlich.
Ich sehe ihn. Sieht er mich? Ich springe auf die rechte Seite des Automaten. Er will weglaufen. Zwischen ihm und den Treppen steht jetzt aber die Nachtigal. Und die Nachtigal ist rasend. Die rasende Nachtigal. Super Name. Rasend vor Wut. Aus der Machtlosigkeit wurde trauer, aus der Trauer wurde Verzweifelung und aus der Verzweifelung erhob sich die Nachtigal wie der Phoenix aus der Asche. Heute Abend wird der Bodensatz der Gesellschaft nicht entkommen.
Der blonde Wichser tritt mir zwischen die Beine. Nutzlos. Suspensorium. Man kann mir nicht vorwerfen, dass ich nicht aus meinen Fehlern lerne. Schade, dass er mein Grinsen nicht sieht. Er schlägt mir auf die Brust, gegen den Helm. Er weint. Alles nutzlos. Blondi rennt in die andere Richtung. Er ist schnell, sehr schnell. Ich komme kaum hinterher. Wind weht. Lärm wird lauter.
Er entkommt. Nein. Ich schwinge den Golfschläger über den Kopf, lasse los. Der Schläger wirbelt durch die Luft. Bäm. Er trifft den Schurken am Rücken. „AAAAAAAAAAAAHHHHHHH!“ Das hat weh getan. Er taumelt und fällt nach Links. Einen Meter tief. Auf die Gleise. Guter Wur… BÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄMMMMMMMMMMMM KKKKKRRRRRRRRRRREIIIIIIIIISSSSSSSSCCCCCCCCCCCCHHHHHHHHHHHH
Am nächsten morgen kommt mir alles wie ein Traum vor. Ich hole mir beim Bäcker einen Kaffee und die Bildzeitung. Ich bin aufgeregt. Auf der ganzen ersten Seite ist nur ein Bild: Die blutige Front einer ansonsten orangen U-Bahn.
WELCHER IRRER SCHMEISST KINDER VOR DEN ZUG?
Verdammt. Das kann doch nicht sein. Nichts über mich. Irgendein Wahnsinniger hat einen Nachwuchsspieler von Hertha BSC vor die U-Bahn geworfen. Das hätte ich verhindern können. Die Nachtigal hätte es verhindern müssen.
Ich bin gestorben in einem Krankenbett in der Charité. Ich war Wochenlang Tod. Dann ist etwas anderes aus der Asche Auferstanden.
Etwas Dunkleres.
Ein Held.
Ein Rächer, der die Lieder von Gerechtigkeit pfeift.
Ich bin
DIE RASENDE NACHTIGAL
Ich verbrenne mich an dem ersten Schluck Kaffe. „Autsch!“
Auf dem weg nach Hause fällt mir auf, dass ich kein Beep mehr höre.