Berliner Nächte
Nächtliche Begegnung
Heinrich Nagel ist Gärtner und Totengräber auf dem St. Matthäus Friedhof im Herzen der Reichshauptstadt.
Eine Lebensstellung, wie er gern betont und er hofft, eines Tages bei der Arbeit zu sterben. Es ist nicht so, dass er auf den Tod wartet, aber er ist dreiundsechzig und macht sich Gedanken darüber.
Das hat er nicht immer getan, warum auch sollte ein Totengräber über den Tod nachdenken? Ist eine einfache Sache das Sterben, jeder, der lebt ist irgendwann an der Reihe. Dann stehen die Särge in der Friedhofskapelle und Heinrich hat zu tun.
Er hat jeden Tag zu tun, in den letzten Monaten arbeitet er doppelt und dreifach so viel wie gewöhnlich. Daran sind nur die verdammten Engländer schuld, weiß Heinrich. Manchmal kommen die Bombenflugzeuge jetzt schon tagsüber, das findet er einfach unverschämt.
In Friedenszeiten hatte er wenigstens noch zwei Kollegen, mit denen er sich die Arbeit teilen konnte. Die sind jetzt bei der Wehrmacht und er kann hier allein schuften.
Hilfe zu finden ist schwer, keiner will Gräber ausheben, dabei Knochen, Schädel, gammliges Holz, rostige Sargbeschläge und Nägel finden und dadurch an die eigene Vergänglichkeit erinnert werden.
Heinrich stöhnt leise, macht den Rücken gerade.
Zwei Uhr nachts, dass ist doch keine Zeit für eine Beerdigung! Irgend etwas ist faul an dieser Sache, überlegt er, aber er wird sich hüten, danach zu fragen. Er stößt seine Schaufel wieder in den trockenen, festen Boden, sieht sich kurz um.
Das ist auch nicht die Abmessung für ein ordentliches Grab, dieses ist mindestens doppelt so groß, eher noch größer. Er beobachtet die beiden Männer, die mit ihm zusammen in dem Erdloch stehen und schweigend schaufeln. Sie tragen schwarze Uniformen mit schwarzen Kragenspiegeln, auf denen selbst im schalen Mondlicht die silbernen SS-Runen glänzen.
Heinrich entscheidet sich endgültig, dass er nicht wissen will, wer hier in der Nacht heimlich begraben werden soll.
Er hatte sich schon ziemlich erschrocken, als vor zwei Stunden plötzlich an die Tür des Gärtnerhäuschens, in dem er im Sommer wohnt, gehämmert wurde. Da standen mindestens zwanzig SS-Leute vor seiner Tür; ein Offizier leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht, die Soldaten hatten die Gewehre im Anschlag, die Mündungen ein wenig nach unten gerichtet.
Heinrich ärgerte sich über das anmaßende Verhalten dieser Leute, die nicht seinetwegen gekommen sein konnten, gleichzeitig empfand er Furcht vor dem, was sie hierher geführt haben mochte. Man hörte dies und das über die schwarz Uniformierten, das genügte ihm.
Er hoffte, das die nächtliche Störung ein Irrtum war und sie schnell wieder abrückten. Das damit nicht zu rechnen war, wurde Heinrich schnell klar, als der Offizier ihm mit knappen Worten erklärte, was jetzt zu tun sei.
Er sollte zusammen mit ein paar Soldaten ein Grab ausheben, an einer „geeigneten Stelle“, wie der Offizier sich ausdrückte. Er wollte fragen, aber der Offizier schnitt ihm das Wort ab.
Während des Gespräches sah der alte Mann, wie im Schein mehrerer Taschenlampen Särge von einem Mannschaftswagen abgeladen wurden. So, wie die SS-Leute die Särge aus dem Auto schoben, sie auf dem Boden übereinander stapelten, wußte Heinrich, dass die Särge leer waren.
Seine Verwirrung nahm zu, aber sein Mund blieb fest verschlossen.
Was er wissen sollte, würde der Offizier ihm sagen, alles andere ging ihn nichts an.
Er mußte die Kapelle aufschließen, die Särge wurden hinein getragen, die Soldaten klapperten mit den Deckeln herum, stellten sie aufrecht an die Wand.
Heinrich warf nur einen kurzen Blick auf die fünf Särge, die aus nacktem Holz bestanden, ohne Griffe, ohne Schmuck..
Kälte breitete sich zwischen seinen Schulterblättern aus, kroch den Rücken hinunter.
Dann stolperte er hinter dem Offizier durch die Dunkelheit, um einen geeigneten Platz für das Grab zu finden. Abseits der gepflegten Gräberreihen, hinter einer verwilderten Hecke neben dem Schuppen, in dem Heinrich seine Geräte und die Schubkarre lagerte, fand der Offizier, was er suchte.
„Aber Herr Offizier,“ Heinrich versuchte es mit einem vorsichtigen Einwand, „das ist keine Grabstelle. Ich meine, es gibt Vorschriften ....“
„Mund halten! Der Platz ist genau richtig.“
Der Offizier winkte zwei seiner Leute heran.
„Schaufeln beschaffen und dann Marsch, Marsch. Wir haben nicht ewig Zeit!“
Zwei Stunden sind seitdem vergangen, jetzt fühlt sich Heinrich müde von der Schaufelei und der ungewohnten psychischen Anstrengung, die die Angst ihm bereitet.
Der Offizier taucht am Rand der Grube auf.
„Das reicht, Männer!“
Die Soldaten werfen ihre Schaufeln nach draußen, steigen die kleine Leiter hinauf, verschwinden wortlos in der Dunkelheit.
Einer Gewohnheit folgend, will Heinrich anmerken, dass ein vorschriftsmäßiges Grab zwei Meter tief sein muß.
Die Worte sind auf dem Weg vom Gehirn zum Mund als er sich daran erinnert, dass er keine Fragen stellen, am besten gar nichts sagen will.
Er wirft die Schaufel über den Rand, steigt aus dem Grab. Der Offizier steht hinter ihm, Heinrich fühlt sich bewacht. Dieses Gefühl verstärkt sich noch als er auf dem Weg zur Kapelle Soldaten sieht, die zwischen Grabstellen postiert, die nähere Umgebung beobachten.
In einem Seitenweg vor der Kapelle soll Heinrich warten. Er bleibt auf der Stelle stehen, bewegt sich nicht.
Durch die herabhängenden Zweige einer Birke kann er den Eingang der Kapelle im Licht abgeblendeter Taschenlampen sehen. Neben der Tür steht der Tafelwagen, auf dem gewöhnlich die Särge in feierlicher Prozession zur Begräbnisstätte gefahren werden. Die schwarze Stoffbespannung gibt dem Gefährt in der Dunkelheit das Aussehen eines großen Kastens.
Motorengeräusch läßt Heinrich aufschrecken. Ein Lastwagen der Wehrmacht rollt langsam rückwärts den Hauptweg entlang zur Kapelle, hält unmittelbar vor der Tür an, die Plane wird nach oben geschlagen.
Trotz des spärlichen Lampenlichts sieht Heinrich, wie die SS-Leute nacheinander fünf Leichen von der Ladefläche ziehen, er ist sich nicht sicher, glaubt aber zu erkennen, dass die Leichen Uniformen tragen.
Er wendet sich ab. Er will nichts wissen, nichts sehen. Er blickt so interessiert, als sähe er seinen Friedhof zum ersten Mal, über die Reihen der Gräber, auf deren polierten Steinen und Kreuzen das Mondlicht glänzt.
Jetzt hört er Hammerschläge; Dauer und Regelmäßigkeit und seine Erfahrung verraten ihm, dass die Särge zugenagelt werden. Unbewußt zählt er mit.
Nur vier Nägel pro Sarg? Das ist zu wenig. Dazu noch das viel zu flache Grab, in dem die fünf Toten allem Anschein nach gemeinsam beerdigt werden sollen. Normalerweise müßte Heinrich gegen solchen Umgang mit Toten protestieren. Aber normalerweise geht auch niemand so mit Toten um, denkt er mutlos.
Der Motor des Lastwagens heult kurz auf, dann rumpelt er langsam davon. Heinrich lugt durch die Zweige, zwei Soldaten schieben den Tafelwagen vor den Eingang, dann zerren und schieben andere die Särge nach draußen, wuchten sie unter Stöhnen und leisem Fluchen nebeneinander auf den Wagen. Nach dem dritten Sarg gerät die Arbeit ins Stocken, für fünf Särge auf einmal ist auf dem Wagen kein Platz.
Nach kurzer Diskussion, von der Heinrich kein Wort verstehen kann, wird der Wagen eilig zum Grab geschoben. Heinrich hört Geräusche, die darauf hindeuten, das die SS mit Toten wirklich anders umgeht als er.
Ein Zittern durchläuft seinen Körper, am liebsten würde er in sein Häuschen flüchten, nichts mehr hören, nichts mehr sehen müssen. Aber er rührt sich nicht von der Stelle, will das Mißfallen der Leute nicht auf sich ziehen.
Die Soldaten kommen zurück, laden die letzten beiden Särge auf den Wagen, fluchen und schwitzen. Heinrich sieht den Offizier auf sich zukommen.
„Sie da! Wir sind jetzt fertig und rücken ab.“ Er überlegt kurz, sieht Heinrich mit starrem Blick an. „Alles, was sie gesehen haben unterliegt strengster Geheimhaltung, verstanden?“
„Verstanden, Herr Offizier! Selbstverständlich.“ Heinrich will mögliche Zweifel an seiner Loyalität ausräumen, fügt hinzu: „Ich kann mich gar nicht erinnern, überhaupt etwas gesehen zu haben.“
Der Offizier lächelt schief.
„Ich sehe sie haben mich verstanden. Sehr schön! Gehen sie jetzt nach Hause und .... Guten Morgen!“
Heinrich geht langsam auf das Gärtnerhäuschen zu, er dreht sich nicht um, versucht, nicht auf die Geräusche zu achten, die er gut kennt und die entstehen, wenn Erde auf einen Sarg geworfen wird.
Er schließt die Tür hinter sich, nimmt sich fest vor, die Ecke des Friedhofs, in der die fünf Särge vergraben sind, so weit wie möglich zu meiden.
Vergraben?
Obwohl Heinrich am liebsten vergessen möchte, was er heute Nacht erlebt hat, läßt ihn der rohe, respektlose Umgang mit diesen Toten nicht zur Ruhe kommen.
Vergraben?
Er überlegt, dann fällt ihm ein treffenderes Wort ein.
Verscharrt.
Dieses Wort kommt in Heinrichs Sprachschatz eigentlich nicht vor, es bezeichnet für ihn eine Behandlung, die höchstens einem Tierkadaver zuteil werden sollte, niemals aber Menschen.
Er wirft sich bekleidet auf das schmale Bett, erschöpft fällt er in einen traumlosen Schlaf.
Über seinem Gartenhäuschen, dem Friedhof und der Reichshauptstadt dämmert ein neuer Sommertag herauf.
Gedanken eines Totengräbers
Die Mittagshitze lastet über Berlin.
Heinrich Nagel steht in einer langen Schlange nach Brot an, er hört die Leute um sich herum reden, aber er weiß aus Erfahrung, dass in einer Warteschlange nur über Belanglosigkeiten gesprochen wird.
Es dauert eine Weile, bis er bewußt zuhört; es ist von einem Attentat auf den Führer die Rede. Gestern soll in der Wolfsschanze die Baracke, in der der Führer eine Lagebesprechung abhielt, in die Luft geflogen sein. Irgendein höherer Offizier soll eine Bombe dort hinein gebracht haben, soll danach nach Berlin geflohen und hier einen Staatsstreich versucht haben.
Das Ganze hört sich nicht besonders glaubwürdig an, findet Heinrich und sieht sich in der Schlange um. Vor und hinter ihm nur Frauen, da wundert er sich nicht mehr, dass sie so komisches Zeug erzählen.
Er fragt die neben ihm stehende Frau, ob es wirklich nur ein Offizier gewesen sei. Sie verneint, es hätten wohl noch ein paar andere mitgemacht, aber es sei nur eine „ganz kleine Clique von Offizieren“ gewesen, das hätte der Führer selbst in einer Radioansprache am gestrigen späten Abend erklärt.
Die Frauen entrüsten sich über das Attentat, eine Schande sei es, Deutschland und dem Führer so übel mitzuspielen. Alle haben im Krieg ihr Päckchen zu tragen, die Männer an der Front und sie, die Frauen, in der Heimat. Verabscheuungswürdig finden sie die Tat, Heinrich hört das Wort „Vaterlandsverräter“.
Dem kann er nur zustimmen. Was soll aus Deutschland werden ohne den Führer? Die Bolschewisten warten doch schon.
Die Frau, die hinter ihm in der Schlange steht überlegt laut: „Gibt es in der Wolfsschanze keine Bunker? Ich meine, der Führer muß doch geschützt werden.“
Heinrich lächelt, als ehemaliger Weltkriegssoldat kann er zur Beantwortung dieser Frage Fachmännisches beitragen, er erwidert gönnerhaft: „Gnädigste, der Führer hat Glück gehabt, dass die Bombe in der Baracke explodiert ist.“
„Was sagen sie da! Wie können sie ....“, die Frau schnappt nach Luft, sieht sich Beifall heischend um.
„Augenblick mal!“ Heinrich hebt abwehrend die Hände. „Wie wäre es, wenn sie mich ausreden lassen. - Ich sage, er hatte Glück, denn wäre die Bombe in einem Bunker hochgegangen ... vom Führer und den anderen Goldfasanen wäre nicht viel übrig geblieben.“
„Also das verstehe ich nicht,“ sagt die Frau achselzuckend, sieht Heinrich an und wendet sich dann an die anderen Frauen, die unter Beibehaltung ihrer Reihenfolge in der Schlange näher zu den beiden herangerückt sind.
Heinrich fühlt Stolz und Herablassung gleichermaßen, dann erklärt er den Frauen, dass durch die Explosion der Bombe in einem Bunker eine gewaltige Druckwelle entstanden wäre, die durch den dicken Beton nicht nach draußen hätte entweichen können. Dadurch wären wahrscheinlich alle Anwesenden zu Tode gekommen.
Die Frauen sind beeindruckt und glauben ihm, das sieht Heinrich ihren Gesichtern an.
Als er später, mit einem halben Brot unter dem Arm, langsam zum Friedhof zurück spaziert, macht sich ein unangenehmer Gedanke in seinem Kopf breit. Ob das, was er in der vergangenen Nacht erlebt hat, in irgendeinem Zusammenhang mit dem versuchten Staatsstreich stand? Über das, was hier in Berlin passiert war, hatten die Frauen nichts gesagt.
Zuhause angekommen, schaltet Heinrich das Radio ein.
Vielleicht senden sie eine Durchsage oder wiederholen die Ansprache des Führers noch einmal. Momentan singt Zarah Leander „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn...“
Heinrich muß lachen, versucht die Melodie mit zu pfeifen und bereitet gleichzeitig sein Mittagessen zu: eine dicke Scheibe frisches Brot mit einem Rest fettiger Leberwurst.
Während er ißt und auf die Musik aus dem Volksempfänger lauscht, fällt ihm das Wort „Vaterlandsverräter“ wieder ein. Solche Leute haben den Tod verdient, erst recht wenn es Angehörige der Wehrmacht sind, die einen Eid auf den Führer geschworen haben. Daran gibt es für Heinrich nichts zu deuteln.
Die Musik bricht ab, in die Stille hinein erschallt ein schriller Fanfarenton, dann die Stimme des Sprechers. Er faßt in offiziellen Worten die Vorfälle des vergangenen Tages zusammen, dann ertönt die Stimme des Führers - ja, er spricht von „einer ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere“, aber die Vorsehung habe ihn gerettet.
Von Vorsehung hält Heinrich nicht viel, darunter kann er sich nichts vorstellen. Krieg und Frieden, Liebe und Haß, Leben und Tod, über solche Eckpunkte menschlichen Lebens kann Heinrich nachdenken, da weiß er, wovon die Rede ist. Aber Vorsehung?
Die Ansprache endet, Heinrich will das Radio ausschalten, als wieder die Stimme des Sprechers ertönt und er von den ersten Vergeltungsmaßnahmen gegen die Verschwörer berichtet. Er spricht von einem Standgericht, das die führenden Köpfe noch gestern Abend abgeurteilt hat. Die Urteile seien sofort vollstreckt worden.
Der Sprecher nennt die Namen und Dienstgrade der Männer, Heinrich starrt auf den Radioapparat, zählt mit.
Nach fünf Namen schweigt der Sprecher. Heinrich fühlt sich schwindelig, die Schlußworte und die nach kurzer Pause wieder einsetzende Musik hört er nur leise, wie von fern in sein Bewußtsein dringen, mit einem Gefühl, als habe er Watte in den Ohren.
Als sich der heiße Sommertag seinem Ende zuneigt, verschlechtert sich das Wetter. Flache, graue Wolken schieben sich über den Himmel wie ein Bühnenvorhang, der am Ende einer Vorstellung heruntergelassen wird.
Heinrich gefällt dieser Vergleich, hat was Poetisches, denkt er anerkennend. Dabei ist er in seinem Leben höchstens zweimal im Theater gewesen und das ist so lange her, dass er sich weder an eine Aufführung noch an das Theater erinnern kann.
Er sitzt auf einer Bank, die für die Friedhofsbesucher bestimmt ist, sich aber so nahe an seinem Gärtnerhäuschen befindet, dass er sie gern als „seine“ Bank bezeichnet.
Er atmet tief ein und aus, ihm ist es nur recht wenn das heiße Wetter zu Ende geht, ein wenig Abkühlung, vor allem Regen wäre nicht schlecht. Wenn der Himmel sich bewölkt, das Wetter umschlägt, vielleicht sogar Gewitter aufziehen, können die Engländer weniger Angriffe fliegen als in den letzten Tagen.
Endlich mal wieder eine Nacht ruhig schlafen können, größere Wünsche hat Heinrich momentan nicht. Die vergangene Nacht steckt ihm in den Knochen, er möchte nicht mehr daran denken, erst recht nicht, seit er die Berichte im Radio gehört hat.
Er zwingt sich immer wieder, die Bilder in seinem Kopf durch andere zu ersetzen, ganz bewußt vertieft er sich in die Betrachtung der Spatzen, die in einer Pfütze bei der großen Pumpe am Hauptweg schilpen, lärmen und flattern.
Er zieht die Blüte einer Sonnenblume, die hinter seiner Bank wächst, zu sich herunter. Sie ist ein Wildwuchs, Heinrich müßte sei eigentlich entfernen, aber in Kriegszeiten haben die Leute ohnehin kein Geld für Blumen, überhaupt kommen, außer zu den Beerdigungen, nur wenige Menschen auf den Friedhof, die Leute sind damit beschäftigt zu überleben. So läßt Heinrich die Sonnenblume wo sie ist und freut sich an ihr. Das handtellergroße Innere ist gleichmäßig dunkelbraun, besteht aus hunderten kleiner Kerne, die leuchtend gelben Blütenblätter wirken wie glasiert, sie glänzen matt, manchmal, je nach Lichteinfall, ein bißchen silbrig.
Heinrich beschließt, in sein Häuschen zu gehen, keine Kerze mehr anzuzünden, sondern gleich ins Bett zu gehen. Er hört leises Donnergrollen; das ist weit weg, denkt er, hoffentlich ist es der Vorbote eines Gewitters, nicht der der im Anflug befindlichen Engländer.
Wie immer vor dem Zubettgehen zieht Heinrich die Taschenuhr auf, es ist kurz nach acht. Noch recht früh, aber er fühlt sich müde und kraftlos, seine Augen brennen.
Er schläft sofort ein.
Asche zu Asche
Heinrich glaubt zu träumen, er hört, wie jemand an seine Tür klopft und ruft: „He! Sie da drinnen! Aufmachen! Raus kommen!“
Langsam dreht er sich auf den Rücken, will weiter schlafen, spürt im Unterbewußtsein, dass das, was er hört nicht in einen Traum gehört.
„Verdammt, wo ist der Alte?“
„Dann machen wir es eben ohne hin.“
Heinrich hört das deutliche Mitschwingen von Furcht in der zweiten Stimme. Er setzt sich auf, greift nach seiner Hose.
„Kommt gar nicht infrage. Befehl ist Befehl. Das muss alles seine Ordnung haben!“
Heinrich versucht, die verdrehten Hosenträger überzustreifen.
Was wollen die schon wieder hier?
Er zweifelt keinen Augenblick daran, dass es wieder eine Gruppe SS-Leute ist, die vor seiner Tür lärmen.
Draußen schlägt jemand mit einem harten Gegenstand an die Tür.
Sicher ein Gewehrkolben, denkt er. Angst kribbelt zwischen seinen Schulterblättern. Ich muss öffnen, sonst hauen sie die Tür kaputt.
Heinrich tappt barfuß ein paar Schritte durch die Dunkelheit, öffnet vorsichtig die Tür.
„Na endlich!“
Die Stimme hört sich beinahe freundlich an. Schützend hält er sich die Hand über die Augen, das Licht einer Taschenlampe irrlichtert über sein Gesicht.
„Was ist denn schon wieder los?“
Hinter dem Lichtkegel erkennt er deutlich die schwarzen Uniformen.
„Sie sind hier der Verwalter, der Totengräber?“ vergewissert sich ein Mann, dessen Gesicht im Schatten verborgen ist.
„Ja, der bin ich. Und wer sind sie?“
„Das tut nichts zur Sache. Wir haben Befehl und Vollmacht. Ich bitte sie, sich anzuziehen und uns beim Vollzug einer Maßnahme zu helfen.“
Heinrich hebt Schultern und Hände mit resignierter Gebärde, sucht im Dunkeln nach seinen Schuhen und der Arbeitsjacke; schließlich tritt er neben den Mann, der mit ihm gesprochen hat, starrt ihn überrascht an.
ein Gegenüber ist sehr jung, viel jünger als die anderen SS-Leute, die auch heute wieder mit dem Gewehr im Anschlag um ihn herumstehen. Trotzdem glaubt Heinrich in dem jungen Mann den befehlshabenden Offizier zu erkennen, seine Kragenspiegel und Schulterstücke weisen deutlich mehr Silber auf als die der anderen.
Dem ist nicht wohl in seiner Haut, denkt Heinrich, der hat Schiß.
Zu wissen, dass sogar Angehörige der SS nicht immer selbstsicher und emotionslos auftreten können, gefällt ihm.
„Bei was für einer Maßnahme kann ich ihnen behilflich sein?“ fragt er freundlich. Bevor der Offizier antworten kann, schiebt sich ein älterer Soldat an ihm vorbei.
„Wir müssen das Grab von gestern noch mal öffnen. Befehl von allerhöchster Stelle. Also kommen sie, wir haben keine Zeit!“
Wortlos folgt Heinrich den Soldaten, der junge Offizier geht neben ihm, seine Hände verraten, dass er Angst vor dem hat, was jetzt geschehen wird; er streicht sich übers Haar, steckt die Hände in die Hosentaschen, zieht sie wieder heraus, schaut auf seine Armbanduhr. Schließlich verschränkt er die Hände hinter dem Rücken, als wolle er sie dort festhalten.
„Tut mir leid, dass wir ihre Nachtruhe gestört haben,“ sagt er, sieht Heinrich kurz an, preßt dann die Lippen wieder fest aufeinander.
„Was sein muß, muß sein,“ erwidert Heinrich achselzuckend. Er versucht, sein eigenes Unbehagen zu überspielen, indem er dem anderen den Mut zeigt, den er gar nicht hat.
Er schließt den Schuppen auf, nimmt so viele Schaufeln, wie er greifen kann in den Arm, schleppt sie nach draußen, läßt sie auf den Boden fallen.
Der Offizier schreckt bei dem metallischen Geklapper zusammen.
Heinrich lächelt, obwohl in seinem Innern Angst und Unsicherheit den Platz der zur Schau gestellten Gelassenheit einnehmen.
Wieder muss er sich an der Buddelei beteiligen, aber diesmal helfen mehrere SS-Leute mit und er kann seine eigenen Aktivitäten auf das Nötigste beschränken.
Die Arbeit geht schnell voran, bald kratzen und schaben die Schaufeln über das Holz der Särge. Heinrichs Hände zittern, während die Soldaten ohne erkennbare Gefühlsregung die Erde um die Särge herum zur Seite schieben.
Inzwischen sind ein Dutzend oder mehr Soldaten, Heinrich kann es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, an den Rand der Grube getreten, einige springen hinein. Die Soldaten mit den Schaufeln klettern die kleine Leiter hinauf, die in einer Ecke steht. Heinrich folgt ihnen, fragt nicht, ob seine Arbeit hier beendet ist. Er möchte an allem, was jetzt noch geschieht nicht beteiligt sein; ob er sich weigern würde, wenn sie es ihm befehlen, weiß er nicht, er versucht nicht daran zu denken.
Niemand hält ihn auf oder ruft ihn zurück, er sammelt die Schaufeln ein und hält sich im Hintergrund. Die SS-Leute interessieren sich nicht für ihn, sie wuchten die Särge erstaunlich geschickt und schnell aus dem Grab.
Der Offizier steht abseits, starrt auf jeden Sarg, der im kargen Licht weniger Taschenlampen gespenstisch aus der Tiefe heraufschwankt, über den Rand geschoben und dort von anderen Soldaten auf die Schultern gehoben und im Eilschritt, so schnell es die sperrige Last zuläßt, weggetragen wird.
Heinrich späht aus dem Halbdunkel des Schuppens hervor, er will sehen, wohin die Särge gebracht werden.
Es überrascht ihn nicht, wieder einen Mannschaftswagen der Wehrmacht auf dem Hauptweg stehen zu sehen.
Als der letzte Sarg weggetragen wird, räuspert sich der Offizier, blickt sich suchend um, entdeckt Heinrich, tritt auf ihn zu.
„Wir sind jetzt hier fertig. Die Zeit läuft uns davon, darum muß ich sie bitten das .... Loch allein zu schließen.“
Heinrich nickt.
„Kein Problem. Wird erledigt.“
„Schön, schön. Außerdem muß ich sie noch darauf hinweisen ...“
„Ich weiß schon, die Sache mit der Geheimhaltung. Das geht in Ordnung, Herr Offizier.“
Der Angesprochene nickt nur, folgt seinen Soldaten eilig zum Lastwagen.
Heinrich bleibt beim Schuppen stehen bis das Auto aus seinem Gesichtsfeld verschwunden ist.
Ihnen läuft die Zeit davon? Zeit wofür? Und wohin bringen sie die Leichen?
Er schüttelt den Kopf, es ist müßig weiter darüber nachzudenken, er wird es sowieso nie erfahren.
Er ist kein besonders gläubiger Mensch und sein letzter Kirchenbesuch liegt Jahre zurück, die Gottesdienstrituale, die Gebete und Lieder hat er längst vergessen. Trotzdem hofft er, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, weil es tröstlich ist, sich das vorzustellen.
Er sieht in das leere Grab hinunter, wo sich die Abdrücke der Särge noch in der Erde abzeichnen.
„Gott sei ihren Seelen gnädig,“ murmelt er und greift nach der Schaufel.
Währenddessen verläßt der Lastwagen langsam das Friedhofsgelände, biegt in eine Straße ein, nimmt Fahrt auf und verläßt den Innenstadtbereich in Richtung Osten.
Das Ziel der Fahrt ist nur dem Fahrer und dem Offizier bekannt; die Soldaten sitzen zusammengedrängt auf schmalen Holzbänken auf der Ladefläche des Autos, zwischen ihren Beinen stehen die Särge.
Der junge Offizier, ein Scharführer, wischt seine feuchten Hände mit einem Taschentuch trocken. Er wäre jetzt lieber in der Kaserne oder im Feldlager, sogar an der Front wäre er lieber, als mit dieser schrecklichen Ladung quer durch Berlin zu fahren. Er hatte gehofft, aufgrund guter Beziehungen endlich einen ruhigen Posten ergattert zu haben und jetzt so etwas.
Er schaut auf seine Armbanduhr; es ist kurz nach 22 Uhr, sie liegen also noch im Zeitlimit.
„Sind wir bald da?“ fragt er den Fahrer, der als einziger den genauen Weg kennt.
„Ist nicht mehr weit.“
Die Stimme des Fahrers klingt beruhigend, der Scharführer spürt trotzdem einen intensiven Schmerz im Magen und ahnt, dass der ihn peinigen wird bis dieses Unternehmen beendet ist.
Die Bremsen quietschen, er muß sich am Armaturenbrett abstützen, stößt trotzdem mit dem Kopf gegen die Frontscheibe.
„Verdammter Idiot!“ herrscht er den Fahrer an, reibt sich den Schädel.
„Tut mir leid, Scharführer. Ist so dunkel, habe die Einfahrt nicht rechtzeitig gesehen. Aber jetzt sind wir ja da,“ setzt er mit einem Seitenblick auf seinen Vorgesetzten hinzu.
Das Krematorium ist ein großes dunkles Gebäude über dem ein monströser Schornstein in den nächtlichen Himmel ragt.
Der Fahrer manövriert das Auto rückwärts vor eine große Doppeltür, bremst, zieht die Handbremse fest.
„So, Scharführer, jetzt sind sie an der Reihe.“
Der Offizier ist viel zu aufgeregt, um den Spott aus der Bemerkung heraus zuhören, er springt aus dem Fahrerhaus, klopft das vereinbarte Zeichen an die Doppeltür, wartet. Von innen antwortet rhythmisches Klopfen, das der Scharführer mit einem erneuten kurzen Klopfen erwidert.
Langsam wird das große Tor aufgeschoben, zwei Männer blinzeln in das matte rote Licht der Rückfahrtscheinwerfer, dem Offizier schlägt Wärme entgegen. Er läßt die Luft mit einem leisen Pfeifen aus den aufgeblähten Wangen entweichen, der ältere der beiden Männer lacht.
„Ja, bei uns ist es immer schön warm! Auf Wunsch sogar mitten in der Nacht.“
„Halten sie keine Reden, sehen sie zu, dass wir fertig werden!“
Der Arbeiter reckt den Hals, schaut am Scharführer vorbei ins Innere des Lastwagens.
„Fünf Leichen? Wir können zwei auf einmal verbrennen, also dauert das sowieso bis morgen früh.“
Er läuft um den Offizier herum, weist den Soldaten Richtung und Ort, wo sie die Särge abstellen sollen.
Der Scharführer steht mit offenem Mund im Weg herum.
Bis morgen früh, hämmert die Stimme in seinem Kopf. So lange muß er hierbleiben und den ordnungsgemäßen Ablauf der Aktion überwachen.
Er beneidet die Soldaten, die nun ihre Aufgabe erfüllt haben und auf einen Befehl von ihm in die Kaserne abrücken können.
Ihr Lastwagen verläßt langsam das Gelände des Krematoriums, biegt um die Ecke, ist verschwunden.
Der Scharführer fühlt sich allein gelassen; die ganze Nacht soll er in der Gesellschaft der beiden Arbeiter und der fünf Leichen verbringen. Wie es am nächsten Morgen weitergehen soll, weiß er noch nicht. Nur, dass ein höherer Offizier, dessen Namen er nicht kennt, irgendwann hier aufkreuzen wird. Aber zu welchem Zweck, das hat ihm keiner gesagt.
Die Aussicht auf mögliche Ablösung kann die Laune des Scharführers nicht bessern. Normalerweise wäre für eine Aktion wie diese, die Verläßlichkeit und Treue verlangt, mindestens eine Auszeichnung vor der Truppe fällig.
Aber da die nächtliche Beerdigung gestern, das Ausbuddeln der Särge und die Verbrennung heute, eigentlich gar nicht stattgefunden haben sollen, sieht es damit wohl eher trübe aus. Die Angst, der Ärger, die Magenschmerzen - alles umsonst.
Er trottet hinter den Arbeitern her ins Innere des Krematoriums.
Der große Raum ist kahl und sauber. In der gegenüberliegenden Wand sind in Kniehöhe zwei rechteckige gußeiserne Türen mit schweren Riegeln eingelassen. Sonst ist von der Technik, die hier zum Einsatz kommt nichts zu sehen.
Zwei Särge stehen bereits auf fahrbaren Schlitten vor den Ofentüren. Jeder Arbeiter öffnet eine der Türen, eine Hitzewelle schlägt dem Scharführer entgegen, nimmt ihm den Atem.
Gleichzeitig schieben sie die Schlitten direkt vor die Öffnungen, aus denen statt eines lodernden Feuers nur ein rotes Glühen zu sehen ist. Die kleinen Metallräder der Schlitten rasten in einer Vorrichtung ein, die verhindert, dass Schlitten und Sarg verrutschen können.
Allein mit der Kraft ihrer Muskeln schieben die Arbeiter die Särge zu Dreiviertel ihrer Länge in den Ofen, greifen nach den bereitstehenden langstieligen Schiebern und befördern die Särge in die Öfen.
Aus dem Holz schlagen sofort Flammen, das Flirren der Hitze läßt die Umrisse der Särge verschwimmen; mit lautem Krachen werfen die Arbeiter die Türen zu, verriegeln sie. Einer öffnet eine kleine Klappe mitten in der Tür, der Scharführer kann wie in einem gerahmten Bild die rote Glut und gelbe und blaue Flammen sehen.
Der Arbeiter hält die Klappe geöffnet, wendet sich an ihn.
„Wollen sie mal gucken, ob alles seine Ordnung hat?“
„Nein, danke!“
Der Arbeiter läßt die Klappe laut scheppernd zufallen. Achselzuckend folgt er seinem Kollegen in einen kleinen Verschlag aus Glas und Holz, der ihnen als Büro und Aufenthaltsraum dient.
Der Scharführer geht hinterher, kämpft gegen das Würgen in seinem Hals an. Sie bieten ihm einen Stuhl an, einer kramt Tabaksbeutel und Papier hervor und beginnt, Zigaretten zu drehen. Der andere setzt sich an einen Schreibtisch, schreibt irgend etwas in ein großes Buch.
„Wie lange wird das dauern?“
Die Stimme des Scharführers klingt gepreßt, als würde er keine Luft bekommen.
„Das eigentliche Verbrennen dauert zwei Stunden. Bei fünf Särgen also etwa sechs Stunden.“
Der Arbeiter sieht über die Zigarette, die er vorsichtig mit spitzen Fingern hin und her dreht, zu ihm herüber. Er leckt am Pfalz des dünnen weißen Papiers, drückt die Klebestelle vorsichtig zusammen.
„Wollen sie auch eine?“
Der Scharführer schüttelt den Kopf.
Der Mann am Schreibtisch dreht sich zu ihm um.
„Sechs Stunden reine Brandzeit,“ sagt er laut. „Die Asche ist 400 Grad heiß, wenn sie aus dem Ofen kommt. Dann dauert es noch eine Weile, bis wir sie durch den Rüttler schicken können.“
„Kann ich etwas zu trinken bekommen?“
„Wir haben nur Pfefferminztee.“
„Das ist egal ... ist in Ordnung.“
Er trinkt in gierigen Schlucken, hält die Tasse mit beiden Händen fest.
Das Geräusch auf dem Betonfußboden scharrender Stuhlbeine läßt ihn aufschrecken. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken, er reißt ihn hoch und bereut es sofort. In seinem Genick knackt es, ein scharfer Schmerz durchzuckt den Hinterkopf.
„Zweite Schicht, Herr Scharführer!“ ruft ihm einer der Männer zu, folgt seinem Kollegen in die Halle.
Für kurze Zeit verschwinden die beiden in einem Durchgang neben den Öfen, der Scharführer hört kratzende, metallische Geräusche, er steht auf, bleibt an der Tür des Verschlages stehen, massiert seinen Hals.
Die Männer kehren zurück, wuchten die nächsten beiden Särge auf die Schlitten. Der Scharführer wendet sich ab, setzt sich wieder auf seinen Stuhl.
Die Zeit vergeht quälend langsam, noch mehrmals ertappt sich der Scharführer beim Einschlafen. Die Arbeiter beachten ihn nicht, sie reden leise miteinander, rauchen, schweigen.
Um 2 Uhr 30 hören sie lautes Klopfen.
Der Scharführer ist sofort hellwach, erkennt das Klopfzeichen, das er selbst benutzt hat. Nach der bekannten Prozedur des gegenseitigen Antwortens betritt ein Sturmbannführer mittleren Alters die Halle. Er redet leise mit dem Arbeiter, nickt, betritt den Verschlag, wünscht einen Guten Morgen.
Mit einer Kopfbewegung fordert der Arbeiter seinen Kollegen auf, ihm zu folgen.
Zum zweiten Mal sind zwei Stunden vergangen.
Der Sturmbannführer wirkt ausgeschlafen und fröhlich. Er stellt sich nicht vor, fragt aber nach Einzelheiten der nächtlichen Aktion. Der Scharführer berichtet wortreich, ist erleichtert, endlich nicht mehr für alles verantwortlich sein zu müssen.
„Sie hatten also keine Probleme. Sehr schön. Sie haben das Vertrauen, dass man an höchster Stelle in sie gesetzt hat, bestätigt. Das kann ihrem Fortkommen sehr dienlich sein.“
Der Scharführer lächelt schief.
„Nun gucken sie nicht so griesgrämig! Ich habe für 4 Uhr einen Wagen bestellt. Der wird sie zu ihren Leuten zurückbringen.“
„Danke, Sturmbannführer!“
Als die Arbeiter den Raum betreten, wendet sich der Neuankömmling sofort an sie. „Wir müssen uns über den weiteren Ablauf unterhalten. Da sind noch ein paar Fragen zu klären.“
Der ältere Mann nickt, setzt sich dem Sturmbannführer gegenüber.
„Wann ist die Asche soweit abgekühlt, dass sie sie durch dieses Gerät schicken können?“
„Sie meinen den Rüttler. Die Asche der ersten beiden dürfte jetzt so weit sein.“
Der Sturmbannführer überlegt, schaut auf die Uhr.
„Gut, dann fangen sie jetzt gleich an. Noch eine Frage: Ist nach diesem .... Vorgang wirklich nur noch Asche übrig? Ich meine ohne Knochen und so?“
„Wenn sie absolut saubere Asche haben wollen, müssen wir es zweimal machen, sonst bleiben Knochensplitter drinnen.“
„Gut, dann zweimal. Was bleibt sonst noch übrig?“
„Nur die großen Knochen: Oberschenkel, Oberarm, manchmal ein Unterkiefer,“ erwidert der Arbeiter achselzuckend.
„Und Metall?“ insistiert der Sturmbannführer weiter, „Ich meine von Knöpfen, Orden, Armbanduhren, Eheringen ...“
„Höchstens ein Klumpen Schlacke.“
„Sehr gut.“
Der Sturmbannführer holt eine Zigarette hervor, bittet um Feuer und bläst den Rauch genüßlich durch die spitzen Lippen.
„Und jetzt zeigen sie mir mal die Urnen, die sie hier haben.“
Während er mit dem Arbeiter den Raum verläßt, versucht der Scharführer diese letzte Äußerung zu verstehen.
Da werden fünf Leichen, die offiziell gar nicht mehr existieren, notdürftig beerdigt, wieder ausgegraben, heimlich verbrannt - und auf einmal ist wichtig, in was für Urnen sie beigesetzt werden?
Der Sturmbannführer kehrt zurück, zündet sich eine neue Zigarette an.
„Alles geklärt! War gar nicht so einfach, eine Urne zu finden, die groß genug ist.“
„Eine?“
„Ja, eine. Oder dachten sie, die kriegen noch ein Staatsbegräbnis?“
Der Sturmbannführer lächelt.
„Ist doch sicher ganz nett im Tod mit den Freunden vereint zu sein. Kann ich mir gut vorstellen.“
Aus seinem Lächeln wird ein Grinsen, vor dem der Scharführer den Blick abwendet.
Morgengrauen
Pastor Markmann fühlt sich schlecht.
Schon mehrfach hat er in der letzten halben Stunde versucht, den beiden SS-Leuten, die ihn bewachen, zu erklären, dass er treu zum Führer steht, das er Mitglied der Partei ist, auch wenn er das Abzeichen nicht in der Öffentlichkeit tragen mag. Dass das alles ein Irrtum sein muß.
Aber sie antworten nicht, behandeln ihn wie Luft.
Warum haben sie mich hierher gebracht?
Verwirrt, suchend sieht er sich wieder um. Ein Waldrand, ein paar Kilometer außerhalb des letzten Dörfchens vor den Toren Berlins. Hier gibt es nichts außer Birken und Sand; auf der anderen Seite des Weges ein brachliegendes Feld.
Er denkt an seine Frau, die sich furchtbar erschrecken wird, wenn sie merkt, dass das Bett neben ihr leer ist.
Er hatte das Klopfen im Halbschlaf gehört, war leise aufgestanden. Hätte er geahnt, dass die ihn sofort mitnehmen würden, hätte er sie sicher geweckt. Einfacher wäre es für ihn dadurch nicht geworden; im Geist sieht er das Bild seiner weinenden, verängstigten Frau vor sich. Vielleicht ist es besser so wie es ist.
Seit einer halben Stunde sitzt er eingeklemmt auf der harten Rückbank dieses Kübelwagens, er friert und der Rücken tut ihm weh. Er versucht sich abzulenken, beobachtet die ersten Zeichen des erwachenden Tages über dem Feld.
Noch liegt der Frühnebel tief und dicht über dem Boden, die wildwachsenden Gräser und Blumen sehen silbergrau aus. Die Wolken am Horizont bilden keine zusammenhängende Fläche; sie sind wattig und weiß.
Dort, wo Himmel und Erde zusammentreffen, breitet sich langsam orangefarbenes, mattes Licht aus, kriecht um die einzelnen Wolken, füllt die Zwischenräume, als habe jemand Farbe ausgekippt.
Der ersten Farbwelle folgt eine zweite, intensivere, in deren Zentrum sich langsam die rötliche Sonnenscheibe über den Horizont schiebt. Sie strahlt nicht, gießt nur ihre Farben über den Himmel und verschluckt die Reste von Dämmerung und Zwielicht.
Der Pastor nimmt diesen Sonnenaufgang als ein Zeichen Gottes, er zwingt sich, darin ein gutes Omen für den neuen Tag zu sehen. Er konzentriert sich auf diesen Gedanken, bis ihn lauter werdendes Motorengeräusch ablenkt.
Die beiden SS-Leute geraten in Bewegung, steigen aus.
Einer lacht, es klingt erleichtert. Er hebt die Hände über den Kopf, streckt sich aus, steckt dann den Kopf zur offenen Tür herein.
„Bitte steigen sie jetzt aus, Herr Pastor.“
Markmann bewegt sich langsam, mit kurzen Unterbrechungen, er will keinen Krampf in seinen kalten Muskeln riskieren. Endlich steht er auf dem weichen Boden des Waldweges, blickt sich um.
Hinter dem Auto steht nun ein zweites, ebenfalls ein PKW in der staubig grünen Farbe der Wehrmacht.
Der Mann, der mit diesem Auto gekommen ist, unterhält sich mit einem von Markmanns Bewachern. Auch er trägt die Uniform der Waffen-SS, mit deren Rangabzeichen sich der Pastor nicht auskennt. Trotzdem ist er sich sicher, dass der Neuankömmling ein Offizier ist. Sein Auftreten und seine Sprache deuten darauf hin, auch, dass der Soldat nun die Hand zum militärischen Gruß erhebt.
Der Offizier kommt auf Markmann zu.
„Guten Morgen, Herr Pastor! Tut mir leid, dass sie so lange warten mußten.“
Er ergreift Markmanns Hand, drückt sie mit festem Griff, lächelt freundlich.
„Vor allem wüßte ich nun gern, weshalb ihre Leute mich hierher gebracht haben, Herr ....!“
In Markmanns Erleichterung mischt sich Ärger über die unfreundliche Behandlung durch die Soldaten.
„Meinen Namen muß ich ihnen leider schuldig bleiben, Herr Pastor Markmann. Im übrigen ....“
„Aber sie kennen den meinen!“ ruft der Pastor entrüstet.
„Nun,“ erwidert der Offizier achselzuckend, „der steht ja an ihrer Wohnungstür, nicht wahr?“
Das Lächeln auf seinem Gesicht friert ein.
„Und nun hören sie mir genau zu.“
Der zwingende Blick des Offiziers bringt Markmann zum Schweigen, er fühlt sich nicht wohl in dieser Situation.
„Herr Pastor, es ist höheren Ortes bekannt, dass sie treu und verläßlich zum Führer und zur nationalsozialistischen Sache stehen. Darum wurden sie für eine besondere Aufgabe ausgewählt.“
Markmann entspannt sich ein wenig.
„Ich will nicht lange drum herum reden: Sie sind hier, weil ich ihre Dienste als Geistlicher benötige.“
„Hier?“
Die Stimme seines Gegenübers klingt wie ein kalter Hauch.
„Ich habe doch gesagt, sie sollen mir genau zuhören!“
Markmann nickt.
„Manchmal fordern die Umstände von uns, dass wir unkonventionell handeln. Vielleicht sogar,“ setzt der Offizier leise hinzu, „gegen Vorschriften und gute Traditionen.“
Markmann nickt wieder, obwohl er sich den Sinn dieser Aussage nicht erklären kann.
Der Offizier dreht sich zu den Soldaten um.
„Ausladen und herbringen!“
Die beiden zerren eine Metallkiste aus dem Fond des zweiten Wagens, stellen sie vor dem Pastor auf den Boden.
Markmann tritt einen Schritt zurück, starrt entsetzt auf die Kiste, in der eine offene schwarze Urne steht. Sie ist randvoll gefüllt mit weißgrauer Asche, aus der eine feine, fast durchsichtige Rauchfahne aufsteigt.
Markmann kämpft gegen Übelkeit und Schwindel, wagt kaum zu atmen. Nie und nimmer ist das die Asche eines einzelnen Menschen. Er ist sich sicher, gleichzeitig erscheint ihm der Gedanke vollkommen abwegig.
Wie aus weiter Ferne hört er, dass der Offizier den Soldaten befiehlt, mit dem zweiten Auto zur Kaserne zurückzukehren. Dann wendet er sich wieder an Markmann.
„Also, Herr Pastor, bringen wir es hinter uns.“
Markmann hebt den Blick.
„Ich verstehe noch immer nicht, was sie von mir wollen.“
„Mann, das ist hier so eine Art Beerdigung, klar? Asche verstreuen ist doch nichts Kriminelles, oder?“
Der Sarkasmus in der Stimme des anderen stört Markmann.
„Nein, aber es ist ziemlich ungewöhnlich, das ausgerechnet hier zu tun.“
„Das habe ich ihnen schon erklärt, nicht wahr! Sie sollen hier keine Zeremonie abhalten, nur ein paar Worte sagen.“
Der Offizier macht eine vage Handbewegung.
„Wir wollen schließlich nicht die göttliche Ungnade auf uns ziehen, indem wir Toten ein letztes Bibelwort verweigern.“
In Markmanns Kopf überstürzen sich die Gedanken.
Er hat von meiner Treue zum Führer gesprochen, von außergewöhnlichen Situationen, die außergewöhnliche Handlungen erfordern. Ist dies ein Dienst fürs Vaterland? Wenn sich die SS mit einer Sache beschäftigt, ist es sicher keine Nebensächlichkeit.
Er sieht auf die Urne hinunter.
Die Asche mehrerer Toter soll auf einem Feld verstreut werden.
Wahrscheinlich, um Spuren zu verwischen.
Die Spuren der SS?
Oder die Spuren der Toten?
Markmann fröstelt, er versucht die Gedanken zu verscheuchen und ein unverfängliches Bibelwort zu finden.
„Also gut, ich bin bereit.“
Gemeinsam tragen sie die Kiste weiter an den Feldrand heran. Der Offizier holt ein Paar schwarzer Lederhandschuhe aus der Tasche seiner Uniformjacke, zieht sie langsam und gewissenhaft an. Dabei beobachtet er die Bäume am Waldrand, die Gräser auf dem Feld.
„Es ist absolut windstill. Geradezu ideal!“
Mit beiden Händen greift er nach der Urne, hebt sie nicht ohne Mühe hoch, bleibt neben Markmann stehen.
„So, dann fangen sie mal an. Ich erledige das hier.“
Markmann faltet die Hände, schließt die Augen.
„Deine Güte, Herr, sei über uns, wie wir auf dich hoffen.“
Er öffnet die Augen, macht über der Urne in den weißen Rauch hinein das Zeichen des Kreuzes.
„Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“
Auf sein Zeichen hin betritt der Offizier mit der Urne den Acker, geht ein paar Schritte auf die offene Fläche hinaus. Er bückt sich, läßt die Asche langsam aus dem Gefäß auf den Boden rieseln. Als feiner Staub vor ihm aufwallt, dreht er das Gesicht zur Seite.
Markmann kann den Blick nicht abwenden, ein beunruhigendes, fremdes Gefühl ist in ihm; er konzentriert sich auf das, was er sagen will.
„Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.“
Das Scheppern der leeren Urne in der Metallkiste bringt ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Offizier steht wieder neben ihm, zieht sich die Handschuhe aus.
Markmann hört die Blätter der Birken hinter sich rascheln, ein Windhauch erhebt sich, breitet sich über dem Feld aus.
Zwischen Gräsern und wild wachsenden Blumen, über dem brachliegenden Mutterboden steigt ein feiner dunstiger Wirbel auf.
Im Licht des Sonnenaufgangs tanzen weiße Aschepartikel in die Höhe, schweben, sinken wieder zu Boden.
„Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist!“
Markmanns Stimme zittert, er zeichnet noch einmal das Kreuzzeichen in die Luft, wendet sich schnell ab und geht zum Auto zurück.
Mit der Metallkiste vor dem Bauch schließt der Offizier zu ihm auf.
Seine Stimme klingt erleichtert, beinahe fröhlich.
„Jetzt noch ein ordentlicher Regen und die ganze Sache ist ein für alle mal erledigt!“