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Beschweren sie sich nicht bei mir, ich bin bloß die Fahrerin
Tut, tuut, tuuut. Verdammt, was für ein fieses Geräusch. Tuuuut. Schon gut, schon gut, ich bin ja schon wach.
Entnervt knalle ich die Faust auf meinen armen kleinen Wecker, der ob dieser groben Behandlung noch einen letzten, protestierenden Ton ausstößt und dann endlich Ruhe gibt.
Also gut, wie spät ist es eigentlich? Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch ein wenig Zeit habe, also lege ich mich wieder zurück und... Tuuuuut.
Oh, Mann, jetzt ist dieser Wecker fällig. Ich fege ihn mit einer entschlossenen Handbewegung von der Kommode, wobei gleich noch ein Buch und eine Wasserflasche mit flöten gehen. Shit!
Aber wenigstens bin ich jetzt wach. Na ja, jedenfalls so gut wie. Ich schleppe mich ins Bad und nach einer kalten Dusche fühle ich mich schon wesentlich fitter. Als ich dann auch noch meine Uniform anlege (das einzige Kleidungsstück in meinem Besitz, das nie zerknittert ist) weiß ich endlich wieder, warum ich diesen Job unbedingt machen wollte, selbst wenn er mit sich bringt, zu einer Zeit aufzustehen, zu der vernünftige Menschen brav in ihren Betten liegen und schlafen.
Komisch, ich bin jetzt schon seit vier Jahren dabei, doch immer noch beschleicht mich dieses ungläubige, beinahe ehrführchtige Gefühl, wenn ich mich im Spiegel betrachte. Diese Uniform tragen zu dürfen ist wundervoll.
Jetzt noch schnell eine Schüssel Cornflakes herunterschlingen, und dann muss ich auch schon los.
Während ich zum Umschlagplatz laufe, stelle ich wieder einmal fest, wie friedlich hier um diese Zeit alles ist. Ich liebe diese nächtliche Stille, nur leider habe ich nie sonderlich viel Zeit, um sie zu genießen.
Auch jetzt fehlt mir die Zeit, denn ich bin an meinem Ziel angelangt.
Und da steht er auch schon.
Dieser Anblick bringt mein Herz jedes Mal wieder dazu, schneller zu schlagen. Plötzlich muss ich anfangen zu lachen. Es ist ja auch schon ein wenig sonderbar, dass einen der Anblick eines alten, klapprigen Busses so in Ekstase versetzen kann!
Und doch habe ich jedesmal das Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn ich mich auf meinem Platz niederlasse, den Zündschlüssel drehe und das warme, dröhnende Geräusch des Motors mich einhüllt.
Mit beiden Händen ergreife ich das Lenkrad und steuere meinen großen Freund aus dem Umschlagplatz heraus.
Auf dem Display vor mir werden die ersten Stationen angezeigt. Keine üble Gegend dabei. Gut, vielleicht wird es mal wieder eine ruhige Schicht. Könnte ich auch gebrauchen, nach den Punkern letzte Woche und dem durchgeknallten Junkie gestern Nacht.
Manchmal hat man es wirklich nicht so einfach als Busfahrerin. Nicht zuletzt, weil dieser Beruf doch immer noch eher männlich dominiert ist. Die meisten Leute stehen weiblichen Busfahrern eher skeptisch gegenüber. Das habe ich schließlich am eigenen Leib erfahren, damals, als diese Gruppe von Schlägern nach einem Fussballspiel jemanden brauchte um sich auszutoben.
Na ja, was soll's. Schließlich habe ich ihnen diesen Job hier zu verdanken, und heute würde ich um nichts auf der Welt einen anderen machen wollen.
Mein erster Fahrgast in dieser Nacht ist ein alter Mann, der sich auf einen der vorderen Plätze setzt. Als er einsteigt, sehe ich wie immer in den Spiegel und wie immer überfällt mich kurz der Neid.
Er hat diesen wissenden Ausdruck in den Augen, diese Ausstrahlung vollster Zufriedenheit, die man nur bei alten Menschen beobachten kann. Es muss schön sein, zu wissen, dass man alles Sehenswerte gesehen, alles Erlebenswerte erlebt hat.
Ich schenke dem Mann noch ein etwas trauriges Lächeln, dann geht es weiter.
Die nächsten Passagiere sind ein paar Studenten. Wohl ein Verkehrsunfall. Sie scheinen alle noch ziemlich unter Schock zu stehen. Hauptsache, sie fangen nicht an, sich zu streiten, dann könnte es haarig werden. Aber sie setzen sich kommentarlos auf die hintersten Bänke. Eine von ihnen fängt an zu weinen und wird von ihrem Freund in den Arm genommen.
So etwas beobachten zu dürfen ist immer schön. Irgendwie bedeutet es, das noch etwas gerettet wird. Das nicht alles vorbei ist.
Nach einem jungen Burschen, der wahrscheinlich einfach nur furchtbar unglücklich verliebt war und der sich sofort in eine dunkle Ecke verkriecht, ein paar weiteren alten Leuten und einem etwa fünfzehnjährigen Jungen, der wohl Krebs gehabt hat und jetzt eigentlich recht glücklich ausieht, ist meine Schicht fast vorbei.
Gerade als ich anfange zu glauben, dass heute Nacht nichts mehr passieren wird, passiert es: Als ich bei einem Wohnungsbrand halte, steigt ein kleines Mädchen vorne bei mir ein. Sie ist nicht älter als vier oder fünf Jahre. Kinder zu fahren ist immer schwierig. Einerseits macht es mich traurig zu sehen, wie ein so junger Mensch aus dem Leben gerissen wird.
Andererseits bringt das Lächeln eines Kindes immer Licht in meinen Arbeitsalltag.
"Bist du ein Engel?" fragt mich da das kleine Mädchen.
Ich schmunzle. Immer die gleiche Frage. Nach einem kleinen Anstandsblick auf das Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen-Schild (unter das irgendein Spaßvogel bei mir: Das gilt auch für Kinder! gepinselt hat) drehe mich zu dem Mädchen hin und lächle.
"Nein, ich bin kein Engel. Ich bin bloß Busfahrerin.", sage ich noch immer schmunzelnd, wobei ich darauf achte, die Straße nicht länger als eine Sekunde aus den Augen zu lassen und das Tempo zu halten.
"Oh." Die Kleine scheint enttäuscht zu sein.
"Aber weißt du was, da wo wir jetzt hinfahren, da gibt es ganz viele Engel.", sage ich in heiterem Ton um sie aufzumuntern. Das scheint sie zwar noch nicht ganz zu beruhigen, aber als ich jetzt kurz zu ihr hinschaue, sehen ihre Augen schon weniger traurig aus.
"Ich weiß etwas, dass wird dir bestimmt gefallen" sage ich, während ich mich jetzt voll auf das Fahren konzentrieren muss.
So sehe ich nicht, wie die Kleine mich neugierig anschaut, doch ich kann ihren Blick förmlich spüren.
"Was denn?" fragt sie ein wenig ungeduldig.
"Sieh einfach hinaus!" fordere ich sie auf. Und ihrem entzückten Aufschrei nach zu urteilen, tut sie jetzt gerade genau das.
Der Bus hebt von der Straße ab und fährt auf einer unsichtbaren Linie auf die Wolken zu, direkt in den Sonnenaufgang hinein.
Neben mir höre ich das entzückte Lachen des Mädchens und unter mir das vertraute Dröhnen meines Motors.
Plötzlich stimmt einer der Studenten diesen alten Schlager an. Und ehe ich mich versehe singt der ganze Bus. Sogar das kleine Mädchen summt mit. Leise stimme auch ich mit ein.
Alle Ängste alle Sorgen, sagt man, liegen darunter verborgen.
Tränen stehen mir in den Augen. Ja, das ist wirklich der beste Beruf den man sich vorstellen kann.