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- 04.03.2018
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Big Little Homes
Baschar steht vor der abschüssigen Zufahrt. In der einen Hand hält er einen Zettel, mit der anderen trägt er einen Koffer. Er schaut auf das Holzschild über ihm, dann auf das Papier und geht weiter.
Vor ihm öffnet sich eine Senke, auf deren Flanken sich ein Dutzend Holzhäuser, Zirkuswagen und umgebaute LKW verteilt. Über einigen Dächern steigen schmale Rauchsäulen in die Morgensonne. Irgendwo in der Nähe hört er das leise Knurren von Hunden.
Er geht hinab zu der Feuerstelle in der Mitte des Camps. Ein verkohlter Ast ragt aus dem Steinring. Asche weht über den Rand. Um die Feuerstelle stehen Hocker aus Baumstämmen. In einem steckt ein Beil. Holzscheite liegen im Gras daneben. Durch die Pappeln hinter dem Steinring schimmert ein Arm des Stausees, der sich wie ein grünlicher Tentakel in die Senke schiebt. Auf dem Wasser schweben Nebelschlieren.
Baschar hört etwas. Einige Schritte entfernt steht ein Schuppen, der mit groben Brettern verkleidet ist. Reif liegt auf dem Teerdach, das Kaminrohr raucht, die Fenster sind beschlagen. Ein Keil steckt unter der Tür, sie ist halb nach außen aufgestellt. Aus dem Innern dringt Wärme und Gelächter.
»Hallo, bitte … « Baschar nähert sich vorsichtig, klopft an den Rahmen, hält den Zettel ausgestreckt vor sich, wartet. Das Lachen erstirbt, Stühle werden gerückt, Schuhsohlen quietschen. Baschar fröstelt.
Der erste, der an die Tür kommt, verschränkt die Arme, als er ihn sieht.
»Grüß Gott, der Herr, wie können wir ihm weiterhelfen?«
Baschar sieht die Camouflage-Hose, eine Welle geht durch seinen Bauch. Als er ihm den Zettel hinhält, schaut Baschar zur Seite. Der junge Mann macht keine Anstalten zu lesen. Er mustert ihn, das gebügelte Hemd, die gescheitelten, glänzenden Haare.
»Suche eine junge Frau. Lo … kemper?«
»Lokemper?«, der Mann schüttelt den Lockenkopf. »Kenn ich nich.« Bevor er wieder hineingeht, zieht er mit einem Ruck die Tür vom Keil.
»Mensch, Morschi!« Hinter ihm kommt eine ältere Frau aus der Tür, die Baschar anlächelt, die Schultern hebt und ihm den Zettel aus der Hand nimmt. Sie zieht eine Brille aus der Wolljacke und liest.
»Lodenkemper. Das ist die Tina, die schläft noch, was willst du denn von der?«
Baschar schrumpft, sein Mund kämpft mit den Worten.
»Hab sie getroffen … früher.«
Der Koffer mit den Aufklebern gehört zu ihm, seit Großvater ihn vererbt hat. Als Junge fuhr Baschar mit der Fingerspitze über die bunten Bilder, sog die Buchstaben auf, las Tripolis und Rabat am Meer, Namen wie aus tausendundeiner Nacht. Er mochte Málagas Wappen aus Wellen und Burg, aber auch den einsamen Eisenpickel des Tour Eiffel, die Eule namens Athena vor den aufstrebenden Säulen im Hintergrund, und wo Großvater außerdem war. Er dachte, wenn Fingerspitzen sich im Himmel berührten, hieße das Vatikan.
Später hat er Stadt für Stadt laut gelesen, hat sie auf Vaters Mittelmeer-Karte mit Fingerstrichen verbunden und sich das Land passend zum Klang der Namen vorgestellt. Die Europa-Karte seiner Vorstellung war nicht topographisch, sie bestand aus Tönen, die sich an manchen Stellen zu Melodien vereinigten. Sah er Berge, hörte er ein weißes Pinselstrich-Zermatt über die Schneestille wehen. Sah er ein Karussell, hörte er Vienna wie ein Liebeslied aus dem Riesenrad schallen.
Als später vorbei war, übertönten Bomben die innere Musik, der Regent seiner Heimat führte Krieg gegen das eigene Volk.
Der Seelenverkäufer, mit dem er übersetzte, hatte weder mit den Gondeln aus Venezia, noch mit den stählernen Ozeandampfern der Hamburg-Amerika Linie etwas gemein. Seit der Überfahrt hörte er die Karte nicht mehr. Deutschland war keine Melodie, es war geschäftig und laut. Und Europa war ein Versprechen, das nicht eingelöst wurde.
Jetzt sitzt Baschar vor dem Bretterschuppen und wartet. Durch Gischt, Sonne und Regen sind die Farben der Aufkleber verblichen, die Kanten lösen sich ab. Das genarbte Leder der Kofferhülle ist an den Ecken mit Zwirn vernäht. Der Koffer ist der seidene Faden, der sein Leben in der Senkrechten hält. Mit den Jahren wurde er leichter, der Griff kleiner. Hier in der Fremde ist er alles, was ihm bleibt.
»Machst du dir das nicht zu leicht, Morschi?« Abel hat wieder diesen säuselnden Ton. Das Feuer spiegelt sich in seiner Nickelbrille. »Weißt du, es ist doch viel einfacher, jemanden abzulehnen als Gutes an ihm zu finden.«
»Stimmt, scheiße finden ist einfacher.« Karla lacht weinselig und hebt einmal kurz die Beine. Der Klotz, auf dem sie sitzt, wackelt.
»Ich mein ja nur«, sagt Morschi. »Der stellt sich dahin mit seinem Koffer und dem Zettel in der Hand …« Morschi stochert im Feuer, die Glut knistert.
»… und dann nimmt die Tina den auch noch auf.« Sein Blick wandert über den Platz hinüber zu Tinas altem Bremach-LKW mit Aufbau. Die Gardinen dämpfen das Licht der Fenster, sie leuchten weich in die Nacht wie Positionslichter.
»Da, wo er herkommt, ist Gastfreundschaft heilig.« Abels Miene verbirgt sich hinter dem Vollbart. Einen Moment lauscht er dem Knacken des brennenden Holzes.
»Was würdest du machen, Morschi, … an seiner Stelle?«
»Abel, spar dir das Pädagogen-Gequatsche, ich kann es nicht mehr hören.«
Er will noch mehr sagen und lässt es doch, wieder flackert sein Blick zum Bremach, der neben seinem hölzernen Tiny House steht, gespaltene Lärche an Wand und Dach, traditionell, wie er es in Kärnten gelernt hat, als seine Welt noch in Ordnung war.
»Ich würde zum Amt gehen und mir helfen lassen.«
»Ach so, und du meinst nicht, dass er da schon war?«, Abel lässt nicht locker, »vielleicht läuft er gerade davor weg?«
»Den Grund wüsste ich gerne, weshalb er vor dem Amt wegläuft«, sagt Morschi.
»Hat er dir eigentlich was getan?« Karla läuft eine feine Spur Rotwein aus dem Mundwinkel. Sie wischt mit dem Wollärmel über das Kinn.
»Nee, natürlich nicht, aber darum gehtʹs auch nicht.«
Referendar. Das Wort klang wie eine Drohung. Als Abel das erste Mal vorne stand, überfiel ihn die Hitze. Er entschuldigte sich höflich, ging auf die Toilette, riss sich den Pullover vom Leib und hielt den Kopf unter kaltes Wasser. Nach einer halben Minute bekam er wieder Luft. Er trocknete die Haare mit der Leinenrolle aus dem Spender, ging vor die Tür und lief los. Er lief weg von der Klasse, weg von dem Betonklotz, in dessen Innern sein zukünftiges Leben stattfinden sollte. Erst vor der Wohnungstür fiel ihm auf, dass der Schlüssel in seiner Tasche steckte, die verwaist am Lehrerpult lehnte.
Er holte sich den Notschlüssel vom Nachbarn, klappte das Laptop auf und buchte einen Flug nach British Columbia. Sieben Tage später kaufte er in Whitehorse ein Kanu und ließ es in den Yukon gleiten. Bis Hootalinqua waren die Blasen an den Händen verheilt. Allmählich löste sich der Krampf in den Eingeweiden.
Länger brauchte er, um sich an die schmerzenden Arme und die immergleichen Bewegungen zu gewöhnen. Zugleich spürte er, wie jeder Paddelstich ihm half, die Balance wiederzuerlangen.
In Dawson City hörte er nicht auf. Er ließ die bunten, lauten Kanuten in den Camps hinter sich und paddelte weiter gen Norden. Er blieb allein. Polarlichter, Wracks mit Schaufelrädern, Geisterstädte – all das hatte er gesehen, nichts davon berührte ihn. Er wusste nicht, was er noch suchte, die Einsamkeit tat ihm gut.
Nach weiteren zweieinhalb Wochen bekam er eine Ahnung. Das Paddel ins Wasser zu stechen war gleichbedeutend mit Atmen. Seine innere Unruh richtete sich neu aus und gab die Schlagzahl vor. Unaufhörlich trieb sie ihn voran, Stich auf Stich, gleichmäßig wie der Takt eines Metronoms. Abel paddelte vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung. Er konnte nicht aufhören, der Rhythmus war zu seinem Herzschlag geworden. Als der erste Schnee fiel, lachte er und paddelte weiter. Dass sie ihn in der Einöde fanden, ausgemergelt und halb erfroren, war Zufall.
Zurück in Deutschland mietete er einen Schuppen an der Müritz und baute sein erstes Leistenkanu. Er fuhr die bauchige Form mit den Fingerspitzen ab, wusste, wie es fahren würde, erfühlte, wo er schleifen musste, um es zu trimmen. Von den Kanus, die er in den folgenden zwei Jahrzehnten baute, kam keines zu ihm zurück. Im Netz überschlugen sich Abnehmer mit Lobeshymnen. Abel las nichts davon. Zuletzt hatte ʹAbels Canadierʹ Lieferzeiten von mehreren Jahren – bis es genug war.
Abel Scharchmann kaufte den kleinen Campingplatz am See und baute ihn zum Tiny-House-Park um. Sein letztes Kanu lag vertäut am Steg. Ab und an stieg er noch hinein, doch der Eifer hatte ihn verlassen. Hier in ʹBig Little Homesʹ war er angekommen .
»Worum gehtʹs denn dann?« Abel muss nicht laut werden. Die Worte, die er spricht, sind deutlich.
»Das müsstest du doch am besten wissen«, Morschi deutet mit dem Kinn zu Abel, »du hast beschlossen, keinen mehr auf den Platz zu lassen.«
»Keinen mit Gefährt oder Hänger, das stimmt«, sagt Abel, »… aber der Baschar, der hat nur seinen Koffer.«
»Kommst du jetzt mit sonner ʹBoot-is-voll-Scheißeʹ?« Karla schwenkt den Rotwein, als würde sie fechten.
»Ihr beide wollt das nicht verstehen.« Morschi steckt den Stock tief in die Glut, knetet die Hände. »Ich denk halt auch an Tina.«
»Ah, da liegt der Hase im Pfeffer!«, sagt Karla.
Abel versucht den väterlichen Ton: »Du, die Tina ist alt genug, die weiß, was sie tut. Die war mit dem Bremach bis Mauretanien. Alleine.«
»Weiß ich doch, aber trotzdem: Bei denen zuhause müssen die Frauen Burka tragen, nur ein kleiner Seeschlitz bleibt frei.«
Abel schüttelt den Kopf, atmet laut. Karla ist schneller.
»Aha, bei denen, alles klar. Und du? Du würdest die Frau an den Herd stellen und nebenbei ne Hand voll kleine Morschis werfen lassen. Auch nicht besser.«
»Das sagt die Richtige. Bei dir haben ja alle bisher die Flucht ergriffen.«
Morschi nimmt das Beil und fängt an, von einem Scheit kleine fingerdicke Stücke zu schlagen.
Es dauert ein paar Hiebe, bevor Karla antwortet.
»Das ist nicht fair, Morschbacher, das weißt du auch. Du weißt genau, was bei mir gelaufen ist.« Die Stimme klingt belegt. »Und nur, weil du bei der Tina nicht landen kannst, musst du nicht blind um dich schlagen.«
Morschi springt auf, drischt das Beil in den Hauklotz.
»Der bleibt hier nicht. Dafür sorge ich.«
Er stapft durch das Gras und verschwindet in der Dunkelheit. Nur Momente später knallt die Tür. Außen fällt eine Schindel von der Wand.
Karla war als letzte dazugestoßen. Nach dem Notverkauf des gemeinsamen Hauses hatte sie irgendwo ein klapperiges Wohnmobil aufgetrieben, mit dem sie im Dunkeln aufgetaucht war, weil es keinen TÜV mehr hatte. Ein Haufen Glasfaser und rostiges Blech, der ohne Tape auseinandergefallen wäre. Bis Ende November musste sie es darin aushalten.
Den Stellplatz für das bestellte Tiny House hatte sie direkt in Beschlag genommen, oben am Hang mit Blick über die Dächer zum See. Mit Maßband und Daumen hatte sie die Ausrichtung gepeilt und das Fahrzeug so abgestellt, dass die Tür dort war, wo später der Eingang sein würde. ΄Fürs Feeling΄, wie sie meinte.
Karla steht in der Tür, sie ist in eine Decke gewickelt, der Kaffee in der Hand dampft. Sie schaut über Tinas Bremach zum Bootssteg. Auf dem See hängt früher Nebelflaum. Weißgrau wie seine Haare, als sie ihn verließ. Ein Ziehen in der Leiste, sie atmete es weg. Sie versucht, nicht an ihn zu denken, es geschieht dennoch, einfach so, überfällt ihre Arme mit Nadelstichen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Seinen Namen versucht sie nicht zu hören, doch er ist in ihrem Ohr. Sie spürt seine Hände, wie sie streicheln, wie sie zu Fäusten wurden. Sie weiß, wenn sie kratzt, wird es schlimmer. Dennoch, manchmal hilft nichts anderes.
Rauch steigt aus Abels Schornstein. Schnarchel sagen die anderen nur, wenn er nicht in der Nähe ist. Die beiden Mischlinge liegen am Fuß der kleinen Stiege. Die Köpfe ruhen auf den Vorderläufen, ab und an zuckt ein Ohr.
Asche vom Vorabend weht über Gras, einzelne Flocken kleben an leeren Rotweinflaschen. Im Steinring glimmen unter weißgrauen Ascheflocken Glutnester.
»Dieser verdammte Kaffer!« Morschi kommt in Gummistiefeln und Bademantel aus dem Sanitärhäuschen geschossen. Er hält unterhalb von Karlas Wohnmobil inne.
»Der hat heute Nacht das Fenster aufgemacht und das Licht angelassen. Auf dem Klo sind alle Falter und Mücken vom ganzen See versammelt. Der Spiegel ist schwarz. Absolut ekelhaft.«
Karla geht den Weg hinunter. Als sie bei ihm ist, liegt ihre Stirn in Falten.
»Woher weißt du, dass er das war?«, sagt Karla.
»Gibtʹs sonst noch jemand, der das nicht weiß?«, sagt Morschi.
»Ja, du letzten Sommer«, kommt es von hinten. Abel steht in der Tür seines Fichte Leichtbau-Tiny. Vom Aludach tropft der Tau. »Wenn ich mich recht entsinne, wusstest du das auch nicht.«
»Das ist doch was anderes.«
»Wieso ist das was anderes?«
»Weil ihr mir das nicht gesagt hattet.«
»Aha, also waren wir eigentlich schuld«, Abel nickt und schiebt die Unterlippe vor, »interessant − so hab ich das noch nie gesehen.«
»… und jetzt die Tina, weil sie dem Baschar auch direkt gesagt hat, wie enorm wichtig das ist«, sagt Karla.
»Wie kann man nur so blöde sein!«, zischt Morschi und geht hoch zu seiner Hütte. Diesmal fällt keine Schindel, als er die Tür schlägt.
»Habe ich was falsch gemacht?« Baschar wirkt vor dem sandfarbenen Bremach wie ein Zwerg.
»Nee du, alles okay, der Morschi ist nur gerade mies drauf, das legt sich wieder.« Karla hustet, zieht die Decke enger.
»Kann ich Frühstück machen?«
»Gerne, kannst mir helfen. Ich zieh mir nur eben was an.«
Monatelang bauten sie den alten Bremach auf, setzten eine Wohnkoje auf die Pritsche, schweißten Bodenbleche und versteckten Reservetanks unter den Bänken. Bei schönem Wetter schraubten sie Solarpaneele aufs Dach, montierten weitere Scheinwerfer und lackierten die Kiste sandfarben.
Tina schoss von allem Fotos. Zusammen wollten sie die Weltreise bloggen und dadurch finanzieren. Crowdfunding, wiederholte er ständig. Crowdfunding, als wäre es eine Zauberformel, die durch häufige Verwendung an Wirksamkeit gewinnt. Nach sechs Wochen hielt er die Enge der Behausung und die Nähe zu Tina nicht mehr aus und floh. Sie wartete eine Weile, er kam nicht zurück.
Tina fuhr alleine weiter, schwebte mit achtzig durch die flirrende Hitze Andalusiens, lenkte den Bremach auf eine Wolke und ließ sich Richtung Süden treiben, über die Straße von Gibraltar, durch rote Königsstädte mit bunten Souks und vorbei an den kargen Hügeldörfern des Atlas.
Butterweiche, einfache Tage, die sich auflösten in nichts, die auf der Zunge schmolzen und nach Fata Morgana schmeckten.
Tablet und Handy lud sie nicht mehr, das Radio ließ sie ausgeschaltet. Sie hielt den Blick gerichtet auf das, was hinter der Landschaft vor der Scheibe lag, als würde der Sand nur eifersüchtig vor ihr verstecken, was er zuvor begraben hatte.
Kurz vor Agadir wurde sie wach, als die Autobahn endete und sich leckende Sandzungen über die Straße legten. Tina füllte sämtliche Kanister und fuhr weiter, bis der Asphalt endete und nur zwei Fahrspuren im Sand blieben.
Der Sand stillte das Blut, trocknete die Schwären in ihrem Innern und half der Haut, durch sein feines Schmirgeln die Taubheit zu verlieren. Sie ritt auf Dünenkämmen, driftete durch die Wüste wie auf Treibsand und hoffte, irgendwann anzukommen, wenn sie nur weit genug führe.
Timbuktu war Richtung, nicht Ziel und tief unten ahnte sie, sie würde es nie erreichen. Ihn und alles Gemeinsame ließ sie in der Staubwolke hinter sich.
»Das Rührei ist köstlich, Baschar.« Tina hat die Haare in einen Handtuch-Turban gedreht. Die Ringe an ihren Fingern klimpern, als sie in den Korb mit den Aufback-Brötchen greift.
Abel braucht nur einen Kaffee und raucht an der offenen Türe.
»Weiß jemand, wo der Morschi bleibt?« Karla werkelt an der Kaffeemaschine.
»Hab gesehen, wie der mit der Karre weg ist«, sagt Abel. »Einkaufen will der bestimmt nicht, … ist ja auch nicht dran.«
»Na, vielleicht ist der nur mal kurz lüften, oder Kippen holen«, sagt Karla.
»Der kann von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst.« Tina ist sauer. »So wie der drauf ist, meldet er den Baschar beim Amt.«
»Nee du, das macht der nicht.« Karla schüttelt den Kopf. Ihre Stimme klingt ungewöhnlich hoch.
»Bitte, nicht das Amt«, sagt Baschar, schüttelt den Kopf. »Ich gehe nicht zurück.«
Tina schaut ihn an. Unter ihren Augen dunkle Ringe. In ihrem Blick liegt Melancholie und ganz hinten etwas wie Wüstenflimmern.
»Baschar, wir müssen eine Lösung für dich finden.«
»… für uns alle finden«, sagt Karla.
»Und woran hast du da gedacht, Tina?«, Abel schnippt den Stummel in den Rasen.
»Ich dachte …«, Tina zögert, »ich dachte, vielleicht kann der Baschar erst mal hier schlafen, im Schuppen?«
»Im Schuppen? Du weißt selbst, wie schweinekalt es hier morgens ist, bevor wir den Ofen anmachen«, sagt Karla.
»Als Notlösung für ein paar Tage … okay. Aber wenn sich einer beschwert, kann es auch sein, dass der Platz Schwierigkeiten bekommt«, sagt Abel.
Draußen schlagen die Hunde an, ein Motor brummt und kommt zum Stillstand, die Handbremse knarzt.
Zu Beginn räumte Morschi mit den anderen die marode Almhütte leer, fegte zwischen huschenden Mäusen Spinnweben aus den Zimmerecken, schleppte Bodendielen und Schutt durch die Eingangstür. Dann trugen sie Lehmwände und Außenhaut ab, bis das nackte Balkengerüst vor ihnen lag. Er sah die Würfel, die der Pilz gefressen hatte und die Stellen, wo Bock und Wurm sich ins Fleisch gebohrt und stehendes Wasser die Fasern zersetzt hatte.
Nach einer Weile bekam er ein Gefühl für die Arbeit. Er tauschte Verfaultes gegen Frisches, schäftete Balkenenden an, setzte neues Holz ein und heilte das Gerippe Stück für Stück.
Mit dem kleinen Latthammer klopfte er das Skelett ab und erst, wenn das Holz nicht mehr dumpf antwortete, sondern kräftig unter seiner Hand federte und sang, gab er es frei.
Wochenlang nagelte er Lärcheschindeln aufs Dach und setzte Querlatten vor die Stützbalken. Wenn die letzte Lücke geschlossen war, und das Haus fortan das neue, straffe Kleid herzeigte, zog er weiter zum nächsten Haus, das mit seinem Können geheilt werden wollte.
Morschi liebte den Geruch des frischen Nadelholzes, wenn es im Sonnenlicht seinen Harzduft entfaltete. Es erinnerte ihn an Waldspaziergänge, Hand in Hand mit Vater, der ihm erklärte, wie er an Blatt und Stamm den Baum erkennt. Vater, der ihm sagte, auf welchem Boden welches Gewächs gedeiht und der selbst so früh ging, weil etwas im Boden an seinen Wurzeln nagte. Vater, der sich in Zell am See nicht mehr wohlfühlte, seit Frauen vermummt Motorboot fuhren und Restaurants Speisenkarten in arabischer Schrift auslegten. Und der nach der Sache mit Mutter nichts mehr wollte, noch nicht mal sein.
Ganz tief in seinem Innersten glaubte Morschi, wenn er das Holz mit Kenntnis und Liebe bearbeitete, wenn er alles richtig machte, würde es eine Brücke schlagen. Eine Brücke über die Klamm in seiner Seele, die dort war, seit Mutter mit einem ging, der die neuen Speisekarten las, und Vater ihn zum Halbwaisen machte.
Er stellte sich vor, wie seines Vaters Hand über das geriffelte Holz strich, wie er schnupperte und prüfte, leicht mit dem Kopf nickte, über seine Bartstoppeln kratzte und endlich lächelte.
»Baschar schläft bei mir, nicht mit mir.« Tina ist bedient. Sie kann nicht fassen, wie Morschi sich aufführt.
»Na immerhin schläft er mit dir in einem Bett – oder hast du ein Gästezimmer?«
»Selbst wenn, was geht dich das an?«
»Ich will hier keine Probleme. Der soll dahin zurück, wo er herkommt.«
»Er ist also ein Problem, ja? Wie wärʹs denn, wenn du dich verziehst?«, sagt Tina. Ihre Kiefernmuskeln treten hervor. »Ich kann dich eh nicht mehr ertragen.«
Morschis Hand trifft Tina nicht im Gesicht, sondern wischt an der Schläfe vorbei. Er hebt nochmal die Hand, dann blinzelt er und fällt in sich zusammen. Tina reißt den Mund auf, fährt mit der Hand an die Stirn, sie bringt keinen Ton heraus.
»Nicht schlagen ...« Baschar drängt sich zwischen Tina und Morschi, hebt die Arme. »Ich gehe ..., ich gehe schon.«
»Du bleibst. Wir reden mit Morschi.« Abel steht in der Tür, schaut Morschi an und deutet mit der Hand nach innen. »Jetzt.«
»Leute, Leute.« Karla schüttelt den Kopf, dann geht sie hinein. Die anderen folgen. Abel als Letzter schließt die Tür.
»Ich hab das alles schon erlebt, ich weiß, wie das endet«, sagt Morschi.
»So, du hast schon alles erlebt«, sagt Tina, »und du meinst, du musst uns arme, germanische Frauen beschützen? Und wenn wir nicht gehorchen, schlägst du uns?«
»ʹTschuldige, ich wollte das nicht.« sagt Morschi. Er faltet seine Hände, drückt die Nägel in den Handrücken.
»Glaube ich dir aufʹs Wort«, sagt Tina.
»Meine Mutter ist mit so einem weggegangen«, sagt Morschi und schaut auf seine Hände.
»Na und? Durfte sie das nicht, sollte sie dich fragen oder was?«, sagt Karla.
»Du musst unterscheiden lernen«, sagt Abel, »das Leben ist selten einfach und viele Dinge sind auf den zweiten Blick doch ganz anders.«
»Und deshalb hast du keinen Kontakt mehr?«, sagt Tina. »Verstehe ich nicht, absolut nicht.«
Morschi springt auf und schreit: »Verdammt, mein Vater wollte danach nicht mehr, der ist vom Berg gesprungen.« Tränen laufen über seine Wangen. Sein Blick wandert zu Tina, die Hände reden mit. »Nichts kann je wieder gut werden«, sagt er und fährt leise fort: »Es schien nur so, für einen Moment.«
Als sie eine halbe Stunde später aus dem Schuppen treten, ist von Baschar keine Spur zu sehen. Etwas liegt im Feuer und qualmt. Abel zieht mit dem Schürhaken den rauchenden Koffer aus dem Feuer. Das Beil steckt im Deckel, zwischen Tripolis und Rom. Als er ihn aufklappt, sehen alle, dass der Koffer leer ist.
Die Hunde bellen übers Wasser. Tina schlägt die Hand vor den Mund und stöhnt. Den Grund sehen die anderen erst, als sie ihrem ausgestreckten Arm folgen und zwischen den Bäumen hindurchsehen. Abels Kanu dümpelt draußen auf dem Arm des Stausees. Es ist leer. Das Paddel treibt davor, neben einem dunklen Fleck, der ein Baumstamm sein kann und auch alles andere.