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Bittere Kälte

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17.12.2012
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Bittere Kälte

Ich bin auf dem Balkon, es ist kalt und finster. Heute scheint kein Mond. Der Wind, der mir ins Gesicht weht, lässt die Herbstblätter auf der Straße tanzen und rascheln. Eingewickelt in einer schwarzen Daunenjacke, sitze ich im Gartenstuhl und rauche gerade meine erste Zigarette, zwei Kippen sind es insgesamt. Jeden Abend. Aus Gewohnheit? Sucht? Ich weiß es nicht. Meine Gedanken müssen sich auf einen Punkt konzentrieren. Es ist anstrengend, viel schwerer als gedacht.

Ich muss endlich anfangen einen Charakter, in einer noch nicht vorhandenen Geschichte zu entwickeln. Meine Aufmerksamkeit lenkt in Richtung zur Häuserwand auf der anderen Straßenseite, zum hell erleuchteten Fenster, wo ein Ehepaar in der Küche etwas lauter wird. Die Frau fuchtelt wild mit den Armen und redet lauthals auf ihn ein. Er steht ruhig, lässt alles auf sich ergehen, geduldig und verständnisvoll, obwohl sie es ihm ziemlich schwer macht. Ich stelle mir vor, dass der Mann, meinem Protagonisten gut entsprechen kann. Braunes Haar, gewellt und ein drei Tage Bart. Ich ziehe genussvoll einen Zug an der Zigarette.

Ein Name muss her, und zwar schnell. Noch bevor die angespitzte Situation, dort eskaliert, und ich den Faden verliere. Denn die Frau wird immer lauter, aggressiver, und nimmt weniger Rücksicht auf ihr Kind, das jetzt im Türrahmen steht. Dave? Nein. Henry oder besser Harold? Der Name muss die richtigen Nuancen im Klang der Aussprache tragen. Oh Gott, ich bin so penibel. Ich hasse diese Seite an mir, doch ich kann sie nicht leugnen. Ich entschließe mich, ihn mit dem Namen David Nathan zu taufen. Klang und Nuancen, ich achte darauf, während ich leise den Namen ausspreche und jeden Buchstaben besonders betone. Glut und Filter trennt kaum ein Millimeter, etwas in mir sagt; nimm noch einen Zug, genau deshalb schnippe ich den Stummel aus dem Balkon.

Die Geduld des Ehegatten hat jetzt ein Ende, denn er drängt sie aus dem Raum. Er kann nicht darüber hinwegsehen, dass seine Frau mit ihren hysterischen Schreien, ihr Kind aufgeweckt hat. Er nimmt den kleinen Jungen auf die Arme und verschwindet. Das Licht in der Küche erlischt, die Stimme der Frau ist nicht zu hören. Es wird gleichzeitig im Bad und Schlafzimmer hell. Weder den Vater noch das Kind kann ich im Zimmer sehen. Ich habe den Hang zu Übertreiben, dann bilde ich mir Sachen ein, die so nicht stattfinden. Es ist still, aber wenn ich genau hinhöre, erkenne ich das Weinen des Kindes, das nach seiner Mutter ruft. Ich kann mir das unmöglich einbilden! Die Beleuchtung im Badezimmer wird wieder ausgeschaltet, nur im Schlafzimmer brennt noch Licht. Dann geht auch das aus, und das wimmern des Kindes verstummt. Als Autor schadet es nicht etwas verrückt zu sein, eine lebendige Fantasie zu haben. Aber allmählich glaube ich, mein Verstand dreht durch! Zwei Kippen sind wohl zu viel am Tag. Das ist doch lächerlich. Egal. Ich habe, was ich brauche. Name, Aussehen und die ersten Charakterzüge. Gedanklich klopfe ich mir dabei selbst auf die Schulter. Zufrieden richte ich mich aus dem Stuhl und will gehen, mich an die Arbeit machen.

Dann knallt es, gedämpft, wie ein gezündeter Böller auf den man ein Kissen drückt. Für eine Sekunde wird die Dreizimmerwohnung auf der anderen Straßenseite von einem Blitz erhellt. Mein Körper zuckt zusammen, die Hände verkrampfen und ich erstarre. Hoch konzentriert fixiert mein Blick, die Fensterreihe der grauen Hausfassade. Was war das für ein komischer Knall? Mein Nacken ist verspannt, die Nervosität knistert. Bin ich nun so weitgehend bescheuert, dass ich auch noch Lichtblitze in benachbarten Häusern sehe? Ungläubig, resigniert betrachte ich mich jetzt in einem anderem Licht. Gleich morgen werde ich das Rauchen aufgeben! Zweifelos. Ich fühle steigendes Verlangen nach Nikotin. Meine Hand greift selbstständig zur Schachtel in meiner Jackentasche. Doch zu weiteren Bewegungen komme ich nicht. Denn es geschieht wieder. Meine Lungen versagen, verweigern mir den Atem, mein Herz donnert und zerfetzt. Diesmal knallt es zweimal hintereinander. Ein Lichtblitz zündet im Raum, durch das Fenster erkenne ich eine Gestalt mit ausgestreckter Hand, als erneut ein Blitz entzündet, sind die schwarzen Umrisse verschwunden. Ich weiß plötzlich, was es ist. Diese Erkenntnis explodiert in meinem Schädel! Jemand hat dort Menschen getötet! Meine Knie werden weich. Ich will rein in meine Wohnung, mich unsichtbar machen. Bleibe aber stehen und starre weiter gebannt auf die Fenster der dunklen Hausfassade. Du Idiot verschwinde von hier! Hau ab! Da ist sie wieder, die schwarze Silhouette. Aber etwas ist anders. Die Konturen einer Person zeichnen sich im rechteckigen Rahmen ab. Als würde jemand sein Gesicht an die Glasscheibe lehnen. Oh Scheiße, er beobachtet mich! In einem Meer aus Gedanken bleibt mir nur einer hängen. Er wird dich töten!

 

Hallo Life4Back,

herzlich willkommen!

Eine Geschichte nach dem Muster von Hitchcocks Film "Das Fenster zum Hof", basierend auf einer Kurzgeschichte von Cornell Woolrich. Man sieht also, dass Kurzgeschichten durchaus auch erfolgreich verfilmt werden können - sofern die Idee zur Handlung neu ist.
Dieses Mal ist es ein Schriftsteller, der den Mord in der Wohnung gegenüber beobachtet. Das ist eine recht brauchbare Variante, in der mit der Vorstellungskraft des Beobachters "gespielt" werden kann. Was du ja auch gemacht hast.
Auch recht gut gelungen ist die Steigerung des Ehestreits.
Dass der Erzähler gleich zum Psychater gehen will, nachdem er glaubt, einen seltsamen Lichtblitz gesehen zu haben, ist allerdings etwas übertrieben.

Im Text finden sich einige unglückliche Formulierungen:

Ich ziehe genussvoll einen großen Zug an der Zigarette.
Ich ziehe genussvoll an der Zigarette.
Ich meine, das genügt um zu sagen was man sagen will.

Noch bevor die angespitzte Situation, da drin eskaliert
Noch bevor die angespannte Situation dort eskaliert.
"da drin" klingt nicht und ist zu umgangssprachlich.

Zwischen der Glut und dem Filter trennt mehr kein Millimeter, etwas in mir sagt; nimm noch einen Zug, und genau deshalb schnippe ich den Stummel aus dem Balkon.

Glut und Filter trennt kaum mehr als ein Millimeter. Etwas in mir sagt: Nimm noch einen Zug. Doch genau deshalb schnippe ich den Stummel vom Balkon.

Das sind nur Beispiele. Am Besten, du liest dir den gesamten Text mal laut vor. Dann finden sich solche Stellen leichter.

Lieben Gruß

Asterix

 

Hallo Asterix

Ich freue mich, dass Du dir die Zeit genommen hast, meine Geschichte zu lesen und zu kommentieren. Auch wenn das ein wenig zynisch klingt. Leider sind mir die Kurzgeschichten von Cornell Woolrich nicht bekannt, ich habe auch keine anderen Werke von ihm gelesen. Noch habe ich mich mit der Subkultur Hitchcock befasst.

Ich danke Dir für die Verbesserungsvorschläge, ich selbst verliere nach einiger Zeit, die objektive Distanz zu meinen Texten. Dann kann ich Weizen von Spreu nicht unterscheiden.

 

Hi Life4Back,

mich hat das auch sofort an Disturbia erinnert. Aber das basiert ja auch auf dem Hitchcock-Film. Ja, für so einen kurzen Text kam da viel Spannung rüber. Das hast du schon gut gemacht. Aber am Ende war ich doch etwas enttäuscht. Was schon Schluss? Man soll aufhören, wenn´s am Schönsten ist, ja, aber ...
Zuvor war unser Prota ja nur ein interaktiver Beobachter. Und ich konnte mich auch in ihn hineinversetzten, aber die Frage "Worum geht es bei dem Streit?" blieb ungelöst. Ein Familiendrama ohne Drama. Na ja, soll ja auch nicht dramaturgisch wertvoll sondern spannend sein dein Text. Das ist er. Er steigert die Spannung und am Ende, als der Spionageakt entlarvt wird, ist sie sogar richtig greifbar und dann - Ende! Überleg dir mal, ob du die Geschichte nicht noch ausführen möchtest.

Hierüber bin ich gestolpert:

Eingewickelt in einer schwarzen Daunenjacke, sitze ich im Plastikgartenstuhl und rauche gerade meine erste Zigarette, zwei Kippen sind es insgesamt.
Gartenstuhl reicht als Beschreibung.
... und rauche meine erste von zwei Zigaretten ... klingt besser, finde ich.

Er kann nicht darüber hinwegsehen, das seine Frau mit ihren hysterischen Schreien
dass

Im Badezimmer und gleichzeitig im Schlafzimmer, wird es hell.
Klingt etwas verworren. Es wird gleichzeitig im Bade- und Schlafzimmer hell.

Als Autor schadet es nicht etwas verrückt zu sein, eine lebendige Fantasie zu haben. Aber allmählich glaube ich, mein Verstand dreht durch!
Das machte mir den Charakter sympathisch. Dass er aber gleich an einen Psychiater denkt, als er den Schuss sieht, hat mich wieder etwas rausgeworfen.

Dann knallt es, gedämpft, wie ein gezündeter Böller auf das man ein Kissen drückt.
Ein guter Vergleich. Nur es muss "auf den man ein Kissen drückt" heißen.

Hoch konzentriert fixiert mein Blick, durch kahle Novemberbäume, die Fensterreihe der grauen Hausfassade.
Das durch kahle Novemberbäume stört an dieser Stelle. Hier gewinnt die Geschichte ja an Tempo. Du hattest vorher genug Zeit, die Umgebung zu schildern. An dieser Stelle haben die Novemberbäume jedenfalls nichts verloren.

benachbarten Häuser sehe?
Häusern

Ich würde mir eine Fortsetzung wünschen ... von daher kannst du gar nicht allzu viel falsch gemacht haben;)

Beste Grüße
Hacke

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hacke

Ich freue mich, dass Dir die Story gefallen hat.

Ich habe zwar an eine Weiterführung der Geschichte gedacht, doch bin ich noch nicht dazu gekommen. Vielleicht aus Zeitmangel, vielleicht aber, wegen der fehlenden Motivation.

Danke für die Verbesserungen, man kann selbst nie gut genug werden.
Also heißt es üben, üben und üben.

Gruß
Life4Back

 

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