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Bittere Kälte
Ich bin auf dem Balkon, es ist kalt und finster. Heute scheint kein Mond. Der Wind, der mir ins Gesicht weht, lässt die Herbstblätter auf der Straße tanzen und rascheln. Eingewickelt in einer schwarzen Daunenjacke, sitze ich im Gartenstuhl und rauche gerade meine erste Zigarette, zwei Kippen sind es insgesamt. Jeden Abend. Aus Gewohnheit? Sucht? Ich weiß es nicht. Meine Gedanken müssen sich auf einen Punkt konzentrieren. Es ist anstrengend, viel schwerer als gedacht.
Ich muss endlich anfangen einen Charakter, in einer noch nicht vorhandenen Geschichte zu entwickeln. Meine Aufmerksamkeit lenkt in Richtung zur Häuserwand auf der anderen Straßenseite, zum hell erleuchteten Fenster, wo ein Ehepaar in der Küche etwas lauter wird. Die Frau fuchtelt wild mit den Armen und redet lauthals auf ihn ein. Er steht ruhig, lässt alles auf sich ergehen, geduldig und verständnisvoll, obwohl sie es ihm ziemlich schwer macht. Ich stelle mir vor, dass der Mann, meinem Protagonisten gut entsprechen kann. Braunes Haar, gewellt und ein drei Tage Bart. Ich ziehe genussvoll einen Zug an der Zigarette.
Ein Name muss her, und zwar schnell. Noch bevor die angespitzte Situation, dort eskaliert, und ich den Faden verliere. Denn die Frau wird immer lauter, aggressiver, und nimmt weniger Rücksicht auf ihr Kind, das jetzt im Türrahmen steht. Dave? Nein. Henry oder besser Harold? Der Name muss die richtigen Nuancen im Klang der Aussprache tragen. Oh Gott, ich bin so penibel. Ich hasse diese Seite an mir, doch ich kann sie nicht leugnen. Ich entschließe mich, ihn mit dem Namen David Nathan zu taufen. Klang und Nuancen, ich achte darauf, während ich leise den Namen ausspreche und jeden Buchstaben besonders betone. Glut und Filter trennt kaum ein Millimeter, etwas in mir sagt; nimm noch einen Zug, genau deshalb schnippe ich den Stummel aus dem Balkon.
Die Geduld des Ehegatten hat jetzt ein Ende, denn er drängt sie aus dem Raum. Er kann nicht darüber hinwegsehen, dass seine Frau mit ihren hysterischen Schreien, ihr Kind aufgeweckt hat. Er nimmt den kleinen Jungen auf die Arme und verschwindet. Das Licht in der Küche erlischt, die Stimme der Frau ist nicht zu hören. Es wird gleichzeitig im Bad und Schlafzimmer hell. Weder den Vater noch das Kind kann ich im Zimmer sehen. Ich habe den Hang zu Übertreiben, dann bilde ich mir Sachen ein, die so nicht stattfinden. Es ist still, aber wenn ich genau hinhöre, erkenne ich das Weinen des Kindes, das nach seiner Mutter ruft. Ich kann mir das unmöglich einbilden! Die Beleuchtung im Badezimmer wird wieder ausgeschaltet, nur im Schlafzimmer brennt noch Licht. Dann geht auch das aus, und das wimmern des Kindes verstummt. Als Autor schadet es nicht etwas verrückt zu sein, eine lebendige Fantasie zu haben. Aber allmählich glaube ich, mein Verstand dreht durch! Zwei Kippen sind wohl zu viel am Tag. Das ist doch lächerlich. Egal. Ich habe, was ich brauche. Name, Aussehen und die ersten Charakterzüge. Gedanklich klopfe ich mir dabei selbst auf die Schulter. Zufrieden richte ich mich aus dem Stuhl und will gehen, mich an die Arbeit machen.
Dann knallt es, gedämpft, wie ein gezündeter Böller auf den man ein Kissen drückt. Für eine Sekunde wird die Dreizimmerwohnung auf der anderen Straßenseite von einem Blitz erhellt. Mein Körper zuckt zusammen, die Hände verkrampfen und ich erstarre. Hoch konzentriert fixiert mein Blick, die Fensterreihe der grauen Hausfassade. Was war das für ein komischer Knall? Mein Nacken ist verspannt, die Nervosität knistert. Bin ich nun so weitgehend bescheuert, dass ich auch noch Lichtblitze in benachbarten Häusern sehe? Ungläubig, resigniert betrachte ich mich jetzt in einem anderem Licht. Gleich morgen werde ich das Rauchen aufgeben! Zweifelos. Ich fühle steigendes Verlangen nach Nikotin. Meine Hand greift selbstständig zur Schachtel in meiner Jackentasche. Doch zu weiteren Bewegungen komme ich nicht. Denn es geschieht wieder. Meine Lungen versagen, verweigern mir den Atem, mein Herz donnert und zerfetzt. Diesmal knallt es zweimal hintereinander. Ein Lichtblitz zündet im Raum, durch das Fenster erkenne ich eine Gestalt mit ausgestreckter Hand, als erneut ein Blitz entzündet, sind die schwarzen Umrisse verschwunden. Ich weiß plötzlich, was es ist. Diese Erkenntnis explodiert in meinem Schädel! Jemand hat dort Menschen getötet! Meine Knie werden weich. Ich will rein in meine Wohnung, mich unsichtbar machen. Bleibe aber stehen und starre weiter gebannt auf die Fenster der dunklen Hausfassade. Du Idiot verschwinde von hier! Hau ab! Da ist sie wieder, die schwarze Silhouette. Aber etwas ist anders. Die Konturen einer Person zeichnen sich im rechteckigen Rahmen ab. Als würde jemand sein Gesicht an die Glasscheibe lehnen. Oh Scheiße, er beobachtet mich! In einem Meer aus Gedanken bleibt mir nur einer hängen. Er wird dich töten!