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Blautöne
Der liebliche Ton einer Geige schwingt bis zum Verstummen in der Luft. M legt die Geige in den matten Geigenkasten in Schwarz. Sie rubbelt ihre Fingerabdrücke sorgfältig vom Instrumentenkörper. Anschließend fährt sie streichelnd mit dem bestickten Taschentuch darüber. Dabei sieht die Geige makellos aus. Hinter ihr regt sich etwas.
"Du brauchst nichts machen! Wenn es mir nicht gefällt, putze ich sie selbst", ruft Melissa und rollt mit den Augen.
"Mir ist es so unangenehm. Ich hatte vorhin fettiges Essen in der Hand und konnte mir nur die Finger abwischen", erklärt M.
Nach wie vor steht M an der Geige und nestelt an ihr herum. Melissa beobachtet sie. Ihr gemeinsames Ritual verläuft nicht mehr nach den bekannten Regeln, scheint es. In Melissas Blick ist Faszination und auch Argwohn zu erkennen.
"Sowas von vorsichtig! Bei den anderen würde ich mir wünschen, sie würden wenigstens ihre Notenblätter einheften. Du putzt meine Geige als gäbe es Preisgeld!", lacht Melissa.
M packt schnell die restlichen Dinge ein. Sie stapelt alles gekonnt auf ihrem Arm oder hält es in ihrer Hand. Plötzlich steht sie gedankenversunken im Raum. Der Wind des Ventilators bläst sie an. Sie wendet ihr Gesicht von Melissa ab, bevor ihr ein kurzer, leiser Seufzer entweicht. Noch immer beobachtet Melissa das Verhalten der jungen Frau und analysiert jede Regung. M kratzt sich erst am Hals. Dann schaut sie zur Küche. Nun reicht es Melissa.
"Was ist los?", fragt Melissa, "Erzähl mal!"
Ohne auf die Frage einzugehen, läuft M mit dem Instrument und den Noten in Melissas Schlafzimmer. Ihr Herz klopft allmählich wieder langsamer, als sie die Sachen in den großen Wandschrank legt. Das Bett ist ungemacht. Sie überwindet sich, es zu ignorieren und bewundert stattdessen eine blau-weiße Schmuckkiste mit orientalischer Verzierung. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrt, vergleicht sie Melissas Ohrringe mit dem Material der Schmuckkiste.
"Sind das die gleichen Steine wie auf der Schmuckkiste in deinem Zimmer?", fragt M.
Melissa zögert einen Moment, bevor sie antwortet. Das merkwürdige Verhalten der Geigenschülerin belächelnd, lehnt sie sich etwas zurück. Sie hebt ihre langen, brünetten Locken, um ihre rund geschliffenen Ohrringe zu zeigen.
"Ah, du hast die große Schmuckkiste gesehen. Beides ist aus Lapislazuli gemacht. Dunkelblau war schon immer mein Ding", antwortet Melissa.
"Wirklich, irgendwann kannst du deinen Besitz in ein Museum bringen", erkennt M neidlos an, "Das muss ein Vermögen Wert sein!"
"Keine Ahnung. Es sind Geschenke von meiner Patentante. Tatsächlich würde ich darüber nachdenken, wenn ich auch dafür etwas kriege", sagt Melissa und nickt.
M setzt sich wortlos. Eine halbe Minute vergeht ohne eine Unterhaltung. Melissa hebt die Augenbrauen und das Kinn. M bekommt wieder Herzklopfen und senkt den Blick langsam zu Boden, was Melissas Stirn in Falten legt.
"Wird das heute ein Ratespiel?", fragt Melissa ungeduldig.
"Verzeihung, was meinst du?", fragt M.
"Ich habe dich in drei Jahren nie so gesehen", erwidert Melissa.
M schweigt und starrt auf eines von Melissas selbst gemalten Porträts. Es ist ein Bild von einem entfernten Cousin, dessen Haut blau und grün ist. Er sitzt im Profil vor einer roten Wand.
"Wirklich, ich bin nur etwas platt wegen der Arbeit. Fangen wir mit dem Salat an?", redet M hektisch und steht auf.
Melissa fügt sich und antwortet: "Also, gut. Wenn du so nett wärst, mach mir bitte den Fernseher an!"
Sie räumt den großen Wohnzimmertisch aus Glas frei, während M eine Nachrichtensendung einschaltet und in die Küche geht. Mehrmals kommt M mit Gemüse, Schüsseln, Schneidebrettern und Messern zurück. Beim letzten Mal trägt sie ein Handtuch und Papiertücher. Beide Frauen gucken immer wieder auf den Bildschirm und kommentieren das Geschehene. Beim nächsten Beitrag kann Melissa sich kaum halten.
"Schau dir das an!", ruft sie.
"Was ist?", fragt M überrascht.
"Das ist Myriam, eine alte Freundin von mir. Ich habe sie ewig nicht gesehen", sagt Melissa freudestrahlend.
In ihrem Mund formt M ein zurückhaltendes Schmunzeln. Bewundernd schaut sie Melissa an, während diese über ihre Verbindung zu einer Journalistin redet, die gerade im Fernsehen auftritt.
"Eine japanische Studentin hat sie mir damals vorgestellt. Ich fand sie am Anfang so prüde. Wenn ich geflucht habe, sagte sie immer wie die alten Tanten, ich solle die Engel nicht verscheuchen. Irgendwann meinte ich, dass ihr nur noch Flügel fehlen und sie könnte selbst als Engel herumfliegen."
M kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als Melissa erwähnt, eine waschechte Japanerin zu kennen, beginnt ihr Kopf sie in eine Fantasiewelt zu entführen. Sie stellt sich vor, wie Melissa ihr ein paar ihrer dutzenden Bekannten während einer Teezeremonie vorstellt. Wie sie in fließendem Japanisch einen gelungenen Witz zur Erheiterung der Anwesenden erzählen kann. All das vor der bildschönen Kulisse eines traditionell japanischen Hauses.
"Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass die reinsten und edelsten Personen die schlimmsten sind. Gelästert hat sie ohne Ende!", erzählt Melissa und packt Gurkenscheiben in eine Schüssel.
"Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?", fragt M.
"Och, das könnte gut zehn Jahre her sein. Sie war bereits verheiratet. Ihr ging es nur noch ums Kinder kriegen. Sie wollte aber trotzdem Journalistin werden. Entweder das oder Anwältin."
"Ich würde mich nicht trauen, im Fernsehen aufzutreten", sagt M beinahe ehrfurchtsvoll.
"Ja, du bist etwas dezent. Im Fernsehen braucht man schrille Leute", meint Melissa.
Eigentlich stimmt M zu. Doch rudert sie von einem Gefühl zum nächsten. Melissas eindrückliche Antwort hinterlässt M nachdenklich und benommen. Eine Aufmunterung könnte ihr Halt geben, aber Melissa ist sich über die unabsichtlich verletzende Aussage bestimmt nicht bewusst. M fühlt sich wie ein Mauerblümchen. Was könnte sie schon im Fernsehen erzählen?
"Ich weiß schon, dass ich niemals als Experte für irgendwas eingeladen werde", erwidert M.
Melissa schaut auf und hält ihre Bewegungen an.
"So war das nicht gemeint! Vor der Kamera sind halt ... Knallfrösche. Leute, die schreien, verstehst du?", erklärt Melissa, "Du schreist nicht, du argumentierst sachlich und ruhig. Die Leute suchen eher nach Theater."
"Es ist egal. Wozu reden wir über etwas, was eh nie geschehen wird?", murmelt M und nimmt sich eine neue Tomate.
Melissa reißt die Augen leicht auf und beißt sich auf die schmalen Lippen. Sie ist in einem Alter, in dem der Damenbart deutlich zu sehen ist und von den meisten Frauen wegrasiert und überschminkt wird. Abgesehen von Kajal für die Augen verwendet sie nur blassen Lippenstift. Ihr gelingt der Versuch, ein beruhigendes Lächeln aufzusetzen.
"Du bist wahnsinnig sentimental heute", findet Melissa und wirkt allmählich besorgt, "Wenn etwas wäre, würdest du es mir doch sagen, oder? Ich habe nicht auf alles eine Antwort, aber sicherlich ist eine Lösung dabei."
"Es ist alles in Ordnung", antwortet M.
M schneidet die nächste Tomate und spürt, wie Melissa sie erneut analysiert. Wärme steigt in ihr auf. Zu nervös, um es zu übersehen, legt sie die Tomate ab und erklärt sich. Das Herz beginnt immer schneller zu pochen.
"Mir schwirrt seit einiger Zeit die Idee durch den Kopf, die Stadt zu verlassen", erzählt M zu Boden blickend.
"Das ist alles?", fragt Melissa verwundert.
"Es klingt bestimmt lächerlich, aber ich dachte an eine Weltreise."
M schaut nervös hoch, um Melissas Reaktion zu sehen. Sie hält dem Blick nicht stand.
"Brauchst du Geld? Ist es das?", fragt Melissa neugierig.
M ist vom Angebot überrascht und gerührt. Nun fällt ihr das Thema noch schwerer als zuvor. Ein leichtes Zittern spürt sie von ihr ausgehend. Sie glaubt nicht daran, dass sie Melissa etwas vorspielen kann.
"Ich wusste nicht, wie ich es ansprechen sollte. Es gibt noch keinen genauen Plan, aber ich dachte ..."
Geduldig wartet Melissa auf weitere Worte. Nur der Wind des Ventilators sorgt für ein Geräusch.
"Die Geigenstunde ist doch kein Problem! Du kannst jederzeit wieder einsteigen, wenn du zurück bist."
"Wegen dem Geigenunterricht bin ich nicht ... Das meine ich nicht", stottert M.
"Meine Güte, ich kriege ständig neue Anfragen von alten Bekannten. Geige oder Bratsche, egal, sie fragen ständig. Schüler kriege ich genug!"
"Was ist mit deinen Verwandten?", fragt M so respektvoll wie möglich.
"Es wäre mir neu, dass meine Familie Geige oder Bratsche lernen möchte. Selbst wenn, dann besorgen die sich einen Privatlehrer von irgendeiner angesehenen Hochschule. Wozu sollten die hierherfahren und sich dazu mit mir treffen?"
M schüttelt den Kopf. Sie fällt kopfüber ins Nichts, da ihr die Worte fehlen und sie trotz Anstrengung sprachlos bleibt. Melissas Verwirrung setzt sie unter Druck. Sie möchte aufklären.
Frustriert rennt sie mit ihrer Tomatenschüssel in die Küche und muss sich fassen.
"Bring mir etwas zu trinken mit! Ich schmelze", ruft Melissa.
Zurück ins Hier und Jetzt geworfen gießt M Saft in ein Glas, den die beiden aus frisch gekauften Zitrusfrüchten machten. Sie wirft zwei Eiswürfel hinein und einen Teelöffel Honig. Einmal tief durchgeatmet bringt sie ihr das Glas ins Wohnzimmer zurück. Als M steht und Melissa von oben betrachtet, kämpft sie gegen Tränen.
"Als du sagtest, dass keiner aus deiner Familie dich besucht, wollte ich mich bei ihnen melden. Ich war wütend und habe sogar einen Brief an deine Eltern vorbereitet", erzählt M peinlich berührt.
Schließlich beruhigt sie sich ein bisschen und setzt sich zurück auf den Sessel. Die Abendsonne bringt rötliches Licht. Der Ventilator steht auf der höchsten Stufe. Melissa nippt an ihrem Getränk und hört zu.
"Ich war besorgt. Ob du allein zurechtkommst", offenbart M mit einem leidvollem Gesichtsausdruck, "Deswegen habe ich nach deiner Familie gefragt."
"Du meinst doch nicht etwa, du kannst nicht reisen, weil du auf mich aufpassen musst?", fragt Melissa ernst.
Doch, wieder hat Melissa den richtigen Riecher. M fühlt sich erleichtert und zugleich verlegen.
"Ehrlich, mir ging so vieles durch den Kopf. Ich bin gerne hier."
"Was ich mache, soll nicht dein Problem sein. Ich komme zurecht", erklärt Melissa.
"Nur ... Du meintest doch, du bekommst kaum staatliche Unterstützung und ich fand nur ..."
"Du bist nicht rund um die Uhr hier. Es ist unverschämt, so etwas anzunehmen. Selbst wenn, kann ich jemanden anrufen", unterbricht Melissa mit einem strengen Ton.
M hält die Hand vor ihren Mund als wolle sie ihr Reden einstellen. Sie möchte ihre lächerlichen Gedanken unterdrücken und doch brechen sie immer wieder aus. Melissa stellt beleidigt ihr Glas auf den Tisch und zupft ihre blau-rote Bluse zurecht. Nach einer weiteren unangenehmen Pause stellt sie eine Frage.
"Was hältst du davon, wenn ich mir Gummistiefel hole?"
"Was willst du damit?", fragt M überrascht und skeptisch.
"Na, gegen die Pfützen und so. Dann werden meine Füße nicht nass", antwortet Melissa.
Melissa beginnt lautstark zu lachen und fordert M dazu auf, etwas lockerer zu werden. M ist nicht nach Lachen zumute und zeigt Reue, dieses Thema angesprochen zu haben. Melissa sitzt im Rollstuhl und M möchte sich nicht anmaßen, ihr das Tragen von Gummistiefeln zu verbieten. Nur sieht sie im Moment keine Verwendung dafür.
"Es ist deine Entscheidung. Nur gibt es, glaube ich, keine blauen Gummistiefel", sagt M.
"In der Nähe vom Rathaus gibt es eine tolle Boutique mit verschiedenen Modellen. Gelbe Stiefel sind aber völlig in Ordnung. Ich mag es bunt und knallig", erwidert Melissa mit einem herablassendem Ton.
M lächelt verlegen: "Ich weiß, du hast ein buntes Leben. Mein Alltag besteht aus Arbeit. Hättest du mich damals nicht angesprochen, hätte ich mich nie getraut, ein Instrument zu lernen. Ich wollte mich immer erkenntlich zeigen."
"Du brauchst dich nicht erkenntlich zeigen. Du bezahlst pünktlich und gehst mit meinen Sachen pfleglich um. Mehr kann ich mir nicht wünschen."
"Es ist nicht einmal der volle Preis!", erwidert M verlegen.
Melissa hält an ihrer Meinung fest: "Meine Entscheidung. Ich habe es dir angeboten und daran ändert sich nichts."
Melissa löst die Bremse ihres Rollstuhls und fährt zum Fernseher. Sie hat genug und stellt ihn aus. Dann fährt sie näher an M heran.
"Was hast du dir nur gedacht? Pass lieber selbst auf dich auf! Du konntest dir nicht einmal eine Geige leisten."
"Ich habe mir Geld zur Seite gelegt und gut gespart. Jetzt könnte ich eine kaufen", antwortet M.
"Und dann noch eine Weltreise machen! Ich mag manchmal etwas liegen lassen, aber organisiert bin ich trotzdem. Du musst erst einmal an dein Geld denken. Ich habe genug davon. Dafür haben meine bescheuerten Eltern gesorgt."
"Es war doch nicht ...", M stottert erneut, "Weil doch die Pfleger ..."
"Ach, lass die doch draußen! Ständig schickte man mir komische Leute. Das bisschen, was ich einkaufe, trage ich allein. Du bist Zeuge. Ich habe alles nach unten räumen lassen. Die oberen Schränke sind leer. Das Bad habe ich auf eigene Kosten umbauen lassen. Wenn ich ein Taxi brauche, rufe ich es. Kochen, waschen, sauber machen, schaffe ich allein."
M ist das Gespräch so unangenehm, dass sie wieder mit den Tränen kämpft. Melissa fährt mit Stolz fort, ihr zu erklären, dass ihr Leben genauso läuft, wie sie es brauche und dass M sich nicht in solche Dinge einmischen solle. M möchte zuhören und nichts sagen. Doch in ihrem Kopf läuft ein Film ab. Fragen kommen auf wie, warum immer wieder sie beim Kochen und Einkaufen hilft. Von der Familie ist abzusehen, trotz einiger weniger Familienfotos. Sie kennt keine Nachbarn, die so häufig bei Melissa auftauchen. Was hat es damit auf sich, wenn doch alles perfekt zu laufen scheint.
"Ich schwöre, es war nur, weil wir so viel zusammen unternehmen. Das alles tut mir leid. Seit Monaten weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll", sagt M.
Melissa seufzt und wischt den Schweiß von der Stirn.
"Vielleicht werde ich wieder reisen. Ich liebe es. Du wirst es lieben. Kümmere dich um deine Ersparnisse und dann flieg los! Wo willst du hin? Deutschland, Spanien, England, Frankreich, Amerika, Indien? Ich war schon dort. Ich kann dir viel darüber berichten."
"Vor einer Woche habe ich mit einer Reiseagentur gesprochen. Ich sagte, ich weiß nicht, wohin ich als erstes gehen möchte. Die Agentin meinte, ich solle Bekannte fragen."
"Damit bist du hier richtig!", meint Melissa.
M lächelt und antwortet: "Gut, dann überlege ich mir etwas und frage dich dann.",
Hinter dem Lächeln steckt die Überzeugung, dass sie Melissa sicherlich den Abend oder gar die Woche ruiniert habe. Inzwischen hat M etwas an Farbe verloren und kann ihren kräfteraubenden Gedanken nicht mehr folgen. Es nagt an ihr, so naiv gewesen zu sein, jemand wie Melissa brauche ausgerechnet ihre Hilfe. Die Freundin, die auf Juwelen, Ausstellungstücken und Antiquitäten sitzt. Die Freundin mit den internationalen Kontakten. Die Freundin mit der reichen Familie. Wie dumm sich M jetzt erst recht fühlt!
"Warum fragst du nicht jetzt?", möchte Melissa erfahren.
"Ich bin wirklich etwas müde. Vielleicht sollte ich jetzt nach oben gehen. Den Salat essen wir ein anderes Mal, einverstanden?"
M steht ohne zu zögern auf und nimmt ihre Tasche in die feucht gewordene Hand. Melissa folgt ihr in den breiten Flur bis zur Tür.
"Hör mal, lass dir das nicht zu Kopf steigen! Ich bin nicht nachtragend. Bleib so ehrlich und sage mir, wenn du etwas brauchst!", bittet Melissa hörbar ermüdet.
"Melissa, ich entschuldige mich ..."
"Deine Reise wird großartig", unterbricht Melissa, "Viele hier wagen nicht einmal das Träumen so einer Reise."
M ist den bewegenden Worten nicht gewachsen und verspürt wieder das leichte Zittern. Als beste Antwort wählt M eine Umarmung. Es ist eigentlich das einzige, was ihr im Moment einfällt. Sie hält Melissas schlanken Oberkörper lange und innig fest. Langsam erwidert Melissa die intime Härte der Umarmung.
"Du kommst doch wieder, oder?", fragt Melissa leise.
"Natürlich", antwortet M in einem noch leiseren Ton.
"Klar", haucht Melissa.
M lässt los und richtet sich auf. Sie blickt Melissa an und verabschiedet sich.
"Bis zum nächsten Mal! Am Freitag", ruft ihr Melissa vom Erdgeschoss hinterher.
M antwortet nicht. Sie steigt die altertümliche Treppe des Hauses hinauf. Der Boden ist marode. Aus einer Wohnung dringt die laute Übertragung eines Fußballspiels. M öffnet die Tür zu ihrer Wohnung und geht ohne lange Unterbrechung zum Badezimmer, um eine lange, kalte Dusche zu nehmen. In einem leichten Nachthemd geht sie in ihre Küche und holt einen Tee aus dem Kühlschrank. Allein sitzt sie auf ihrem Balkon. Tief sitzt sie im Stuhl. Die Augen schauen geradeaus. Durch die enge Gasse hört man Mopeds brummen. Jeder kennt die Besitzer dieser Maschienen. Aus diesem Grund hängen die Bewohner ihre Wäsche nicht mehr tief. Einige Bewohner begrüßen in den Innenhöfen diejenigen, die erst jetzt von der Arbeit heimkehren. Nach einigen Minuten verspürt M Appetit und holt sich ein Stück Weißbrot und Hartkäse. Auf dem Sofa liegt eine Weltkarte vom Reisebüro. Sie schaut nach Markierungen. Mit dem Essen und der Weltkarte setzt sie sich zurück auf den Balkon. Ihre Kreuze hat sie auf jedem Kontinent gemacht. Die meisten sind zwar in Europa, aber es wirkt doch ausgeglichen. Daneben stehen Bemerkungen zu Sehenswürdigkeiten und die Telefonnummer der Reiseagentur.
Spätestens, wenn die Dramaserien beginnen, ist draußen alles wie leer gefegt. Von Familie zu Familie läuft der gleiche Ton, was M auch vom Balkon aus mitverfolgen kann. Der Klang aus den Wohnungen schallt, bis er in der Luft verstummt.