Bootsmann
Eigentlich sollte ich guter Laune sein. Wir drei waren auf dem Weg in unseren Urlaubsort. Die Autobahn war nur mäßig befahren, keine Staus. Tina und Benni vertrugen sich, waren sogar ein Herz und eine Seele. Sie spielten das ‚Fratzen-Spiel‘ wie sie es nannten. Abwechselnd schnitten sie eine Grimasse und der jeweils andere musste erraten, was der Fratzenschneider damit ausdrücken wollte.
Ich ließ sie gewähren, war froh, dass sie mich nicht mit Fragen quälten. Wieder einmal Gelächter aus der hinteren Reihe. „Falsch“ rief Benni seiner Schwester triumphierend zu. „Das sollte Mama gestern Abend bedeuten.“ Ich blickte fragend in den Rückspiegel. Die Kinder prusteten.
Gestern Abend. Es wurde recht hitzig beim Abendessen. Schon seit längerer Zeit kam das Thema „Hund ja oder nein“ auf den Tisch. Die Kinder wollten einen Hund. Die Rasse
war ihnen egal. Paul war auch nicht abgeneigt. Er würde, wenn er denn dürfe, zu einem Golden Retriever neigen. Ich hingegen lehnte einen Familienhund kategorisch ab. Mein letztes Wort war wieder einmal „Nein!“ Dann stand ich auf und verschwand vom Tisch. Nicht dass ich keine Gründe genannt hätte. Mehr als einmal. Sie steckten alle unter einer Decke und hatten gegen jedes Argument meinerseits eine Antwort parat. Ich reagierte wohl zu heftig gestern Abend. Auch mit Paul fand keine Aussprache mehr statt. Ich fuhr heute Morgen mit den Worten los: „Dann Tschüss bis zum Wochenende.“ Paul würde in ein paar Tagen nachkommen.
Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Meine Hände verkrampften sich am Lenkrad.
„Mama, spielst du mit?“ fragte Benni.
„Nein, das geht wohl schlecht. Ich muss mich auf die Fahrbahn konzentrieren. Soll ich etwa einen Unfall bauen?“
Die Kinder spielten weiter.
„Wann machen wir mal Pause?“ jammerte Benni.
„Gleich kommt eine Raststätte. Da halten wir an.“
Eigentlich hatte ich nichts gegen Hunde. Im Gegenteil. Ich erinnerte mich an Strolchi. Er war mir der beste Freund in meiner Kindheit, dem ich all meine Sorgen und Geheimnisse anvertrauen konnte. Warum kam mir gerade jetzt der Gedanke daran? Er war eine Promenadenmischung. Meine Freundin und ich versuchten ihn zu dressieren, spielten Dompteuse. Strolchi war recht störrisch. Er ließ sich mit Hundekuchen füttern, tat aber nicht das, was wir von ihm wollten.
Strolchi entlockte mir ein Lächeln.
Nach ein paar Kilometern folgte ich den Hinweisschildern zur nächsten Autobahnraststätte.
„Wir gehen zum Spielplatz!“ Tina riss die Tür auf.
„Ist gut, nimm Benni an die Hand! Achtet auf die Autos! Ich komm gleich nach.“
Sobald ich den Motor abstellte, stürmten sie hinaus. Es war irre heiß an diesem ersten Ferientag.
Während ich die Tür öffnete, hörte ich dieses Winseln, konnte es nicht einordnen. Ich meinte, das Geräusch käme von der Autotür.
Ein Hund – wie sollte das praktisch laufen? Wer würde sich letztendlich mit ihm die Beine vertreten? Ich natürlich. Mein lieber Paul geht auswärts arbeiten; die Kinder haben Schule und sonstige Nachmittagsvergnügungen und ich? An mir würde diese Gassigeherei dann letztendlich hängenbleiben.
Da war es wieder, dieses jämmerliche Flehen. Ich ging dem Geräusch nach, welches meinen Trübsinn nur noch verstärkte und war froh, die Kinder jetzt nicht bei mir zu haben. Sie hätten wieder mit dem Hundethema angefangen. Ich war nicht in der Stimmung dazu.
Obwohl - Gassigehen? Ich wollte doch schon lange mit dem Joggen beginnen. Das wäre doch eigentlich eine gute Gelegenheit.
Mein Herz klopfte. Ein paar Schritte weiter, gleich hinter den Blautannen vermutete ich dieses elende Wesen. Ausgesetzt, an einen Pfahl gebunden, halb verdurstet. - Wie er wohl aussieht ?
Es wird ja wohl Hundefutter in der Raststätte geben?
Was spräche dagegen, diesen armen Vierbeiner loszubinden und einfach mitzunehmen?
Im Kofferraum liegt ja noch die alte Decke.
In diesem Moment war ich Tina dankbar. Auf sie konnte man sich verlassen. Ich erinnere mich an meine Worte „...und was würden wir im Herbst machen, wenn wir in Urlaub fahren? Was wäre dann mit dem Hund?“
Tinas Antwort kam prompt: „Mama, die Pension ist auch für Hunde. Auch für Hunde ein Herzliches Willkommen steht im Prospekt.“
Zum Glück war Benni jetzt auf dem Spielplatz. Er hätte mir zugesetzt mit seinen exellenten Überredungskünsten. Und das mit seinen gerade einmal fünf Jahren. Dann hätte er sich natürlich seinem Vater gegenüber gebrüstet, mich herumgekriegt zu haben.
Nur noch ein paar Schritte.
Paul würde sich freuen über den unvorhergesehenen Familiennachwuchs; da war ich mir sicher. Im Ferienort gäbe es sicher einen Tierarzt. Wer weiß, ob dieses arme Geschöpf nicht schon an Unterernährung erkrankt wäre.
Im Geiste sah ich mich schon joggen, früh am Morgen mit einem zotteligen Kläffer an meiner Seite. Noch ein paar Schritte trennten mich von unserem neuen Gefährten. Welcher Mensch kann so ein Geschöpf seinem Schicksal überlassen? Da wäre ich der letzte! Sein Winseln öffnete mein Herz. Es begann zu klopfen.
Ich war schon in Höhe der Blautannen, als mich eine Stimme aus meinen Gedankengängen riss:
„Bootsmann! Ich bin doch schon da! Hab dir doch nur Wasser geholt!“
Ich blickte der Stimme nach; mein Tempo verlangsamte sich, sah einen jungen Mann, der in beiden Händen eine Schüssel mit Wasser hielt und hinter den Blautannen verschwand. Ich setzte meinen Weg fort. Dort sah ich einen Hund – angeleint an einen Wohnwagen - schwanzwedelnd. Das jämmerliche Gejaule veränderte sich zu einem freudigen Bellen.
Bootsmann – Unser neuer Hausgenosse wäre ein Golden Retriever gewesen.