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Brückentheater
Eigentlich fängt alles ganz harmlos an.
Wie jeden Abend gehe ich zu Fuß nach Hause um erst einmal abschalten zu können. Aber heute gehe ich einen anderen Weg, einen etwas längeren. So kommt es, dass ich die Brücke überquere. Unter ihr verläuft ein Fluss, auf dessen Wasser sich die untergehende Sonne spiegelt. Ein wunderschöner Anblick. Ich verweile an der Brüstung und kann mich von diesem Blick nicht losreißen. Es sieht aus wie im Bilderbuch. Links und rechts ist das Gewässer von zwei kleinen Grashügeln umgeben. Die Brücke ist etwa so hoch wie ein vierstöckiges Gebäude, so dass ich einen fantastischen Ausblick habe. Ich verliebe mich in diesen Augenblick und bin mir sicher, dass ich ihn nie vergessen werde.
Ich träume vor mich her bis ich jemanden rufen höre. „Spring!“
Ich schaue mich um, suchend nach dem, der gerufen hat und wen er meinen könnte. Erst jetzt registriere ich, dass sich einige Leute um mich herum gesammelt haben und es werden immer mehr. Als ich erkenne, dass sie mich alle anstarren, bin ich anfänglich verwirrt. Dann wieder der Ruf „Spring!“, aber dieses Mal ruft es nicht nur einer. Der leise Verdacht, man könnte mich damit meinen, beschleicht mich. Es werden mehr und mehr, die das Wort wiederholen. „Spring! Spring! Spring!“ Alle sehen sie mich an, heben ihre Fäuste und feuern mich zu einer Tat an, die ich nicht tun will.
Ich bin doch glücklich mit meinem Leben, wieso soll ich so etwas machen? Ist das hier alles ein böser Scherz?
Ich versuche von der Brücke zu gelangen, doch die Meute versperrt mir den Weg, schubst mich zurück und kennt kein Erbahrmen. „Ich will doch gar nicht! Ich liebe mein Leben!“, versuche ich zu protestieren.
„Spring! Spring! Spring!“, lautet die Antwort. Sie wollen es gar nicht hören, es ist ihnen ganz gleich, was ich will.
Die Lautstärke schwillt konstant an, trotzdem kann ich eine mir bekannte Stimme herauskristallisieren. Ich drehe mich zu ihr um; und da steht meine Freundin. Mit erhobener Faust steht sie zwischen den Menschen und ruft. Jetzt weiß ich, dass es bitterer Ernst ist. Ich spüre Verzweiflung in mir aufkeimen.
Meine Freundin ruft: „Spring! Tu es für mich! Spring!“
Ich trete ans Geländer, Tränen rauben mir die Sicht. Wieso wollen sie, dass ich springe? Was habe ich ihnen getan?
Ich drehe mich dem Wasser zu, starre in die Ferne, klettere über die Brüstung und fühle diese Verzweiflung, dieses Nicht-Begreifen in mir. Ich bin doch bis eben glücklich gewesen ...!