Was ist neu

Bruder Ginepro

Seniors
Beitritt
03.07.2004
Beiträge
1.585

Bruder Ginepro

Zu den Männern, die mit Franziskus von Assisi ein Leben in Armut und Demut führten, gehörte auch Bruder Ginepro. Ins Deutsche übersetzt, hieße er Wacholder. Franziskus schätzte ihn sehr, andere Brüder eher weniger. Denn Ginepro ging nicht gerne mit den anderen auf die Landstraßen um zu predigen und zu betteln. Viel lieber saß er in der Portiuncula und versenkte sich ins Gebet.
Als die Brüder wieder einmal aufbrachen, auf die Straßen zu ziehen, bat Ginepro, bleiben zu dürfen. Als Franziskus es ihm erlaubte, fügte Bruder Leo hinzu: „Dann koch aber auch das Abendessen für uns, denn wir werden hungrig und müde sein, wenn wir heimkehren.“
„Das tue ich gerne für euch, aber was soll ich denn kochen?“
„In der Speisekammer sind genügend Vorräte. Nimm Dir, was Du brauchst“, erwiderte Bruder Masseo.
Als die anderen gegangen waren, schleppte Ginepro den großen Topf, in dem sonst die Kleider gewaschen wurden, zum Herd und hob ihn mit Mühe auf die Kochstelle. Er holte sich einen Hocker, stieg hinauf und füllte Wasser in den Kessel. Dann schaute er, was in der Speisekammer wohl so sei. Und da lag tatsächlich manches, was die Brüder geschenkt bekommen hatten und Ginepro schleppte einen Armvoll nach dem andern zum Topf. Da waren drei Bündel Möhren und vier Kohlköpfe, ein Säckchen Kartoffeln und zwei Hühner, dazu zwei Bündel Zwiebeln und ein Schock Eier, die er vorsichtig in den Topf legte, damit die Schale nicht kaputt ginge. Ein Säckchen mit getrocknetem Mais und eines mit Trockenerbsen landeten ebenso in dem Topf wie zwei Knäuel Wolle, ein Block Kernseife, einige verschrumpelte Pflaumen, alle wertvollen Gewürze und manches andere.
Schließlich war der Topf gefüllt und Bruder Ginepro begann, die Suppe mit dem großen Holspatel zu rühren und dabei zu beten. Er merkte bald, dass das Rühren weniger anstrengend war, wenn er sich ganz auf das Beten konzentrierte. Und so vertiefte er sich in sein Gebet und rührte ganz nebenbei und recht unbewusst in der Suppe.
Als die Brüder nach Hause kamen und Ginepro aus seiner Versenkung rissen, stellte er fest, dass er mal wieder gar nicht auf die Zeit geachtet hatte. Aber die Suppe schien ihm genau richtig zu sein und so begrüßte er die Brüder: „Gelobt sei der Herr. Ihr kommt genau zur rechten Zeit. Die Suppe ist jetzt fertig.“
Alle starrten auf den riesigen Topf. „Ist das alles Suppe?“ fragte Bruder Leo.
„Ja, ich habe vorgekocht. Dann haben wir in den nächsten Wochen mehr Zeit zum Beten.“
Bruder Masseo rannte in die Speisekammer und kam mit schmerzerfülltem Gesicht zurück: „Die Wolle, die Seife, die Teeblätter, die kostbaren Pfefferkörner ... alles in der Suppe.“ Stöhnend sackte er auf einem Stuhl zusammen.
Währenddessen hatten sechs kräftige Brüder den Waschkessel vom Herd gehoben und auf den Steinfußboden gestellt. Bruder Leo fasste angeekelt mit beiden Händen in den Topf und holte zwei schlaffe Säcke hervor, die mit Federn bedeckt, also wohl einmal Hühner gewesen waren.
Franziskus aber stand am Esstisch und sagte: „Kommt, lasst uns zu Abend essen.“
Zögernd schlichen die Brüder zum Tisch, Franziskus sprach ein Gebet und alle setzten sich. Ginepro füllte mit einer Kelle die Essschüsseln der Brüder und verteilte sie. Als alle eine Schüssel bekommen hatten, begannen Franziskus und Ginepro als einzige zu essen.
„Das schmeckt ja wirklich sehr gut, lieber Bruder Ginepro. Du bist ein hervorragender Koch.“
Alle Brüder starrten die beiden entsetzt an, ob ihnen vielleicht Federn oder Eselsohren wachsen würden. Aber die beiden aßen in der gespannten Stille mit großem Appetit weiter. Da wagte Bruder Leo einen Löffel, kaute, schluckte, nahm noch einen Löffel und dann schaufelte er die Suppe in seinen Mund so schnell er nur konnte: „Das schmeckt ja wirklich wunderbar.“
Jetzt aßen alle Brüder und manche überlegten, ob Ginepro ihnen mit den eigenartigen Zutaten nur einen Streich gespielt hatte, aber nachdem Ginepro erzählte, er habe den ganzen Nachmittag am Herd gebetet, war den meisten klar, dass Ginepro diese Suppe nicht alleine gekocht hatte.
Noch Monate später erzählten sich die Brüder, dass sie vier Wochen von Ginepros köstlicher Suppe gegessen hatten und dass sie jeden Tag einen neuen köstlichen Geschmack aufwies.
Ginepro durfte von dem Tag an auch immer zu Hause bleiben und in der Portiuncula beten. An den Herd ließen sie ihn aber nicht mehr, denn wie Bruder Leo erklärte: „Auf Wunder sollte man sich nicht verlassen.“

 
Zuletzt bearbeitet:

Die Legende aus den "Fiori" (Bruder Ginepro kam mir zu possenhaft vor und ich habe deshalb meine Version geschrieben.

Jobär

 

Hallo jobär,

also, ich muss sagen, deine Version liest sich gut und ich habe danach das Original gelesen. Ich könnte jetzt nicht sagen, dass das zu possenhaft wäre, wahrscheinlich ja mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es sich bei dem Text um eine Legende handelt. Letztendlich hast du dich an die Legende gehalten und ich denke, mit deiner Seife im Topf ist das nicht weniger possenhaft. Für mich jedenfalls. Ist aber ordentlich geschrieben und auch unterhaltsam.

Schönen Gruß
khnebel

 

Lieber jobär,

Das Wunder aus dem Suppentopf habe ich mit grossem Vergnügen gelesen.
Wenn ich an die Zutaten denke, die da hineinkamen!

Bei dem Satz: "Bruder Ginero merkte bald, dass das Rühren weniger anstrengend war, wenn er sich ganz auf das Beten konzentrierte", hätte ich zu gerne gewusst, was er gebetet hat. Vermutlich dachte er dabei gar nicht an die Suppe.

Eine wirklich gelungene Geschichte, die mein Gemüt erheitert hat. Vielen Dank.

Eine gute Woche wünscht Dir
Marai

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom