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Bucksonville - Eine wirklich wahre Geschichte
Bevor Sie sich nun in meine Geschichte hineinstürzen, muss ich Ihnen noch sagen, dass alles, was ich hier niederschreibe, wirklich passiert ist. Die Namen sind echt, die Umgebung, die Zeiten, einfach alles.
Woher ich das so genau weiß? Nun, ich habe es aus sicherer Quelle erfahren. Aus einer sehr sicheren Quelle.
Nun besteht allerdings die Gefahr, dass man, um eine Geschichte halbwegs interessant zu gestalten, hin und wieder ein paar Dinge hinzudichtet. Das kann so weit führen, dass sich der Autor von Seite zu Seite immer mehr in seine Fantasiewelt flüchtet, und am Ende stimmt nichts mehr mit der Wirklichkeit überein. Aber hier handelt es sich ja um eine wahre Geschichte und deswegen lassen wir die Fantasie einmal außen vor.
Gut, wenn ich ganz ehrlich bin, so muss ich gestehen, dass auch ich ein wenig in den Wald gelugt habe, welcher unsere Welt von der Welt der Träume, der Ängste, der Dämonen und der Monster trennt. Aber auch wirklich nur dann, wenn ich der Meinung war, es sei für die Handlung meiner Geschichte von großer Bedeutung und irgendwie einfach unerlässlich.
Wenn Sie nun Lust haben, mit mir an dem Rand des Mischwaldes aus Fantasie und Realität entlang zu schreiten, dann lade ich Sie herzlich dazu ein.
Aber hüten Sie sich, zu weit in diesen Wald vorzudringen und merken Sie sich den Rückweg. Denn hinter jedem Baum, hinter jedem noch so unscheinbar wirkendem Gebüsch, kann ein Wesen lauern, das Sie ohne zu zögern mit in seine schlammige Welt reisst; in seine Welt, tief unter der Erdoberfläche der Realität.
* * *
Es ist jetzt schon mehr als fünfunddreißig Jahre her, als ein kleiner Ort von einem Verbrechen heimgesucht wurde, das wohl keiner seiner damals fast zweitausend Einwohner jemals vergessen wird. Es war im Jahr 1966, genauer gesagt, im August 1966. Dieser Sommer war ein Sommer, der an Hitze wohl keinen weiteren mehr übertreffen wird. Na ja, zumindest gemessen an den Maßstäben von damals.
Der kleine Ort, von dem ich spreche heißt Bucksonville. Bevor Sie jetzt denken, wir befänden uns in den Vereinigten Staaten oder in England muss ich Sie enttäuschen. Bucksonville ist ein kleiner Ort mitten im alten, soliden Deutschland. Er wird auch nicht ausgesprochen wie das englische Backsenwill, sondern genauso wie man ihn schreibt. Hört sich vielleicht etwas seltsam an, aber seine Einwohner bestehen aufs Schärfste darauf.
Kommen wir also nun zu meiner eigentlichen Geschichte zurück. Es ging ja um dieses Verbrechen, welches am 26. August 1966 im Krankenhaus von Bucksonville passierte.
Die Tat geschah im Kreißsaal des St. Josef-Hospitals, und war von einer Grausamkeit, die wohl ganz Deutschland schockierte, vielleicht sogar die ganze Welt - zumindest diejenigen Teile unseres Globusses, die in den Genuss einer Zeitung kommen konnten.
Gemäß Zeitungsberichten geschah die Tat gegen 23.00 Uhr. Einige Zeitungen schrieben, es passierte um 22.00 Uhr, andere wussten aus sicherer Quelle, dass es gegen 0.00 Uhr geschehen sein musste. Also einigen wir uns auf 23.00 Uhr.
An jenem Nachmittag wurde eine Frau in das St. Josef eingeliefert. Sie war hochschwanger und stand bereits, laut Aussage einiger überlebender Schwestern, kurz vor der Entbindung.
Sie wurde mit einem schwarzen Rolls Roys gebracht - an dieses Auto erinnerte sich ganz Bucksonville, denn so etwas gab es in diesem Ort nicht alle Tage. Eigentlich gab es das bis dato dort noch nie.
Der Fahrer selbst brachte sie in die Aufnahme. Ob sich noch weitere Personen in dem Fahrzeug befanden konnte man nicht sagen, die hinteren Scheiben waren so schwarz wie die Kohle aus dem tiefsten Schacht einer Zeche.
Die Frau war in ein einfaches, blaues Kleid gesteckt und schrie erbärmlich. Eine Schwester erzählte später einem Reporter, an ihren Schenkeln sei eine dunkle, übelriechende Flüssigkeit heruntergelaufen. Sie hätte daraufhin sofort den zuständigen Arzt verständigt, Dr. Hermann Wambach. Ihn konnte man später leider nicht mehr zu dieser Sache befragen.
Man hatte diese Frau also auf dem schnellsten Wege in den Kreißsaal gebracht. An Formalitäten, wie Name oder Adresse dachte zu diesem Zeitpunkt niemand. Auch nahm niemand zur Kenntnis, dass der Fahrer des Rolls Roys mittlerweile bereits wieder verschwunden war.
Gegen 22.00 Uhr wurde dann die komplette Mannschaft, außer Dr. Hermann Wambach ausgewechselt. Dieser war darüber mehr als erfreut, denn in besagter Nacht hatte Schwester Marianne ebenfalls Dienst. Wenn er Glück hatte, würde nicht viel passieren. Er hatte die Liege in seinem Büro bereits vorbereitet, obwohl Marianne es lieber auf dem Boden oder auf seinem Schreibtisch machte.
Dies alles stand natürlich nicht in der Zeitung.
Etwa gegen 23.00 Uhr bemerkte die Schwester am Empfang einen üblen Geruch. Sie durchsuchte daraufhin sämtliche Mülleimer in ihrer Umgebung nach irgendwelchen Essen- oder Obstresten, musste aber nach kurzer Zeit feststellen, dass solch ein Gestank nicht von faulendem Obst stammen konnte.
Sie ging zurück zu ihrem Platz und rief im Büro der zuständigen Nachtschwester an. Als der Hörer am anderen Ende nicht abgenommen wurde, versuchte sie es bei Dr. Wambach, aber auch hier mit dem gleichen Resultat.
Folglich schloss sie daraus, dass der angebliche Notfall von heute Nachmittag, die schwangere Frau, nun doch zum Notfall geworden war, und dass sich alle im Kreißsaal befinden mussten.
Sie überlegte noch kurz, ob sie ihren Platz kurz verlassen sollte, da ihr dieses aber laut ihrer Arbeitsanweisung strengstens untersagt war, träufelte sie etwas Kölnisch Wasser auf ein Taschentuch und presste es sich vor die Nase.
Als dieses allerdings kurz darauf auch nichts mehr nutzte, versuchte sie es noch einmal mit dem Telefon. Doch auch diesmal nahm niemand ab.
Dann tat sie etwas, was nur in absoluten Notfällen erlaubt war - aber hier handelte es sich ja mittlerweile um einen. Sie wählte die Nummer des Kreißsaales. Irgendwie hoffte sie, dass niemand abheben würde, da sie in diesem Falle ja das Taschentuch von der Nase nehmen müsste, aber als nach dem zehnten Läuten genau dieses eingetreten war, wurde sie doch stutzig.
Irgend etwas musste im Kreißsaal passiert sein.
Vielleicht strömte irgendwo ein giftiges Gas aus und alle anderen waren bereits tot?
„Oh mein Gott“, murmelte sie unverständlich in ihr Taschentuch, und sie merkte, wie sich ihre Verdutztheit in Panik verwandelte.
Doch trotz allem stand die Angst vor einer Verletzung der Dienstvorschrift über der Angst an einem tödlichen Gas zu ersticken, so dass sie noch von ihrem Platz aus die Polizei anrief.
An diesem Abend hatte Hauptwachtmeister Rüdiger Hellmann Dienst, und er berichtete später den Reportern, er hätte kaum verstanden, was die Stimme von ihm wollte. Zuerst hatte er angenommen, eine stark angetrunkene Person wolle sich einen Scherz mit ihm erlauben. Doch dann erkannte er zwischen Würgelauten und platschenden Geräuschen die Worte: „Hilfe ... St. Josef ...“
Er ging dann davon aus, dass es sich nicht um einen Scherz handelte und alarmierte einen Streifenwagen. Er gab den Wachtmeistern Herbert Schmidt und Herbert Rottig den Auftrag, doch einmal beim St. Josef vorbeizufahren, um nach dem Rechten zu sehen.
Die Zeitungen stützten sich später alle auf die Aussage von Wachtmeister Herbert Rottig, denn sein Kollege lag drei Wochen lang, aufgrund eines gewaltigen Schocks in einem anderen Krankenhaus, dessen Name auch in keiner Zeitungsmeldung erwähnt wurde.
Aus geheimer Quelle erfuhr ich sehr viel später, dass Wachtmeister Herbert Schmidt nie wieder seinen Dienst angetreten haben soll. Meine geheime Quelle meinte sogar zu wissen, er sei mit seiner Frau in die tiefsten Wälder Kanadas ausgewandert, wo man zehn Jahre später in einer verfallenen Blockhütte ihre Skelette fand. Das Skelett der Frau soll keinen Kopf mehr gehabt haben; seine eigenen verblichenen Knochen hätten in einer Ecke gelegen, daneben ein altes Schrotgewehr. Er muss in einem Anfall von Wahnsinn wohl zuerst seiner Frau den Kopf weggeschossen haben, um danach selbst das letzte bisschen Gehirn, welches sich noch in seinem Schädel befand, mit einem weiteren Schuss an der Wand zu verteilen.
Nachdem also Wachtmeister Rottig und sein zu diesem Zeitpunkt noch sämtliche Gehirnzellen in seinem Kopf tragender Kollege Schmidt den Funkspruch erhalten hatten, fuhren sie auf direktem Wege zum St. Josef-Hospital.
Kennen Sie den Geschmack von Blut? Mit Sicherheit, auch wenn Sie nicht unbedingt ein Fan von englischen Steaks sind; aber Sie hatten doch bestimmt schon einmal eine kleine Wunde im Mund. Sei es, weil Sie sich voller Elan mit einer zu harten Zahnbürste die Zähne geputzt haben, oder weil Ihnen irgendein sadistischer Zahnarzt mit einem Lächeln auf den Lippen einen Weisheitszahn gezogen hat. Sollte wirklich nichts von dem auf Sie zutreffen, stellen Sie sich einfach vor, Sie würden an einem Stück Eisen lecken. Blut hat wirklich einen ganz individuellen Geschmack, nicht unbedingt unangenehm, aber wenn man einmal Blut geschmeckt hat, aus welchen Gründen auch immer, und man hat diesen Geschmack ein zweites Mal im Mund, weiß man augenblicklich, dass es sich um Blut handelt (oder aber um ein Stück Eisen).
So, und nun stellen Sie sich vor, Sie könnten diesen Geschmack riechen. Bevor Sie jetzt denken, ich werde langsam verrückt, warten Sie noch ein wenig. Ich versuche Ihnen nur eine Aussage von Wachtmeister Herbert Rottig zu verdeutlichen.
Dieser sagte nämlich später der Presse, als er und sein Kollege auf die Tür des Kreißsaales des St. Josef zugingen, habe es nach Blut gerochen.
* * *
Rottig wich zurück und prallte gegen seinen Kollegen. Jetzt nahm auch Schmidt diesen eigenartigen Gestank wahr, welchen er aber keinem der ihm bekannten Gerüche zuordnen konnte.
„Oh mein Gott“, hörte er seinen dienstälteren Kollegen keuchen, und auch Schmidt merkte, wie ein leichter Würgereiz in ihm emporstieg.
„Oh mein Gott“, stöhnte Rottig erneut, „riechst du das auch?“
Blöde Frage, dachte Schmidt. Wer diesen Gestank nicht wahrnahm, der musste entweder keine Nase mehr haben, oder aber in einer Jauchengrube aufgewachsen sein. Er sah, wie Rottig seine Waffe zog und tat es ihm gleich. Der Empfangsschalter, welcher sich etwa fünf Meter vor ihnen befand, schien unbesetzt zu sein.
„Soll ich Verstärkung anfordern?“ Schmidt versuchte nur noch ganz flach durch den Mund zu atmen.
„Lass uns erst mal nachsehen, was hier los ist; vielleicht ist ja nur eine Toilette verstopft.“ Aber beide wussten instinktiv, dass dieser Gestank nicht nur von überlaufenden Exkrementen stammen konnte.
„Versuch mal, ob du irgendwas findest, das die Tür offen hält“, sagte Rottig.
Schmidt ging zu der Sitzecke, direkt neben der Tür - sie bestand aus drei altersschwachen Holzstühlen, nahm einen und stemmte ihn gegen die Eingangstür. Er bezweifelte, dass es einen großen Nutzen bringen würden, denn auch jetzt um etwa 23.20 Uhr war es draußen alles andere als kühl. Aber vielleicht besser als nichts.
Rottig hatte mittlerweile den Empfangsschalter erreicht. Er trat vorsichtig um ihn herum; seine Waffe hielt er fest mit beiden Händen umklammert. Das Telefon war heruntergerissen und lag in einer großen Pfütze aus frisch Erbrochenem. Auch der Empfangsschalter selbst war auf dieser Seite über und über mit kleinen, halbverdauten Stückchen geziert.
Rottig nahm den säuerlichen Geruch wahr und befürchtete, den ganzen Schlamassel gleich noch zu vergrößern, also löste er eine Hand von der Waffe und presste sie sich gegen Mund und Nase.
„Hast du was entdeckt?“ Sein Kollege stand direkt hinter ihm und Rottig zuckte zusammen.
„Verdammt noch mal, schleich dich doch nicht so an!“, zischte er und Schmidt wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
„T´schuldigung.“
„Da hat jemand vor nicht allzu langer Zeit seinen Magen entleert.“ Rottig schien sich beruhigt zu haben und Schmidt trat wieder einen Schritt vor. Auch er musste sich jetzt Mund und Nase zuhalten.
„Vielleicht die Empfangsschwester, die Hellmann benachrichtigt hat“, vermutete er laut.
„Ja, vielleicht.“
„Soll ich jetzt Verstärkung anfordern?“ Schmidt blickte seinen Kollegen fragend an, der wie gebannt auf das Telefon in der riesigen Pfütze starrte.
„Hallo?“, rief Rottig jetzt. „Ist jemand hier?“
Aber wie erwartet antwortete niemand.
„Hallo!“, versuchte er es noch einmal, jetzt lauter.
„Ich rufe jetzt die Verstärkung“, sagte Schmidt entschlossen und drehte sich um.
„Beeil dich, ich warte hier solange.“ Rottig konnte sich immer noch nicht von dem Telefon losreißen. Wo war sie hingelaufen, oder besser gesagt hingekrochen, nachdem sie diese Sauerei angerichtet hatte? Rottig wandte sich ab.
Fünf Minuten später befanden sich beide auf dem Gang, der direkt zum Kreißsaal führte.
Die jeweils zwei Zimmer, die sich rechts und links des Ganges befanden und die Rottig vorsichtig mit vorgehaltener Waffe öffnete, waren leer. ´Muss wohl nicht viel los sein hier´, dachte er und war gleichzeitig froh, dass sie keine qualvoll erstickten Körper vorfanden.
Jetzt hatten sie die Tür zum Kreißsaal fast erreicht, und der Gestank hatte beängstigende Ausmaße angenommen.
Rottig blieb stehen. „Es riecht nach Blut“, sagte er, ohne sich dabei zu seinem Kollegen umzudrehen.
Schmidt zog die Augenbrauen hoch. Irgendwie hatte Rottig Recht, dem Gestank war wirklich ein warmer, metallischer Geruch beigemischt. Ihm lief ein eisiger Schauer über den Rücken: Wenn es hier draußen bereits nach Blut roch, was musste sie dann erst im Inneren erwarten?
„Was ist mit der Verstärkung?“, fragte Rottig leise, wieder ohne seinen Blick nach hinten zu wenden.
„Hellmann schickt sie raus“, antwortete Schmidt genauso leise. Er blickte dabei auf den ausrasierten Stiernacken seines Vordermannes. Rottig war ein Baum von einem Mann, und trotzdem hatte Rottig mit Sicherheit genauso die Hosen voll wie er selbst. Schmidt jedenfalls stand kurz davor, sich vor Angst in die Hosen zu scheißen. Er war jetzt seit zwei Jahren bei der Polizei und hatte bisher nicht mehr machen müssen als ein paar Strafzettel wegen falschen Parkens zu verteilen, oder irgendwelche Jugendlichen davon abzuhalten, sich gegenseitig die Zähne auszuschlagen. Und jetzt das hier.
Er schluckte einmal kräftig und seine Augen weiteten sich, als er sah, dass Rottig vorhatte, die Tür zum Kreißsaal zu öffnen.
„Was hast du vor?“ Blöde Frage; Schmidts Hand begann leicht zu vibrieren. „Lass uns doch warten, bis die Verstärkung hier ist.“ Doch gleichzeitig wusste er, dass seine Worte auf taube Ohren stoßen würden.
„Geh ein Stück zur Seite!“, befahl Rottig. Diesmal hatte er seinen Kopf gedreht.
„Sollen wir nicht lieber auf die Verstärkung warten?“ Schmidt versuchte es noch einmal.
„Stell Dich hier hin.“
Schmidt gehorchte. Was sollte er auch anderes machen? Rottig war sein Vorgesetzter und hatte auch wesentlich mehr Erfahrung als er. Er wird schon wissen, was in so einer Situation zu tun ist. Das hoffte Schmidt zumindest.
Er umklammerte seine Waffe mit beiden Händen und stand leicht geduckt mit der linken Schulter an der Wand. Genauso, wie er es in der Polizeischule gelernt hatte.
Er blickte auf Rottig und stellte fest, dass diesem dicke Schweißperlen auf der Stirn standen. Auch er schwitzte wie nach einem Fünf-Kilometer-Lauf. Seltsamerweise musste er daran denken, dass er die Sachen erst heute früh frisch angezogen hatte.
„Bereit?“, fragte Rottig leise.
Schmidt schluckte.
„Bereit“, antwortete er, doch es war mehr ein Krächzen.
„Okay, dann mal los!“ Und im selben Moment drückte er den Türgriff hinunter und stieß die Tür mit dem rechten Fuß nach innen auf.
Mit einem lauten Krachen schlug sie gegen die Innenwand.
„Polizei!“, schrie Rottig und richtete die Waffe ins Innere des Kreissaals. Schmidt tat es ihm gleich.
Eine Wolke metallischen Blutgeruchs schlug ihnen entgegen, und Schmidt musste würgen. Rottig stieg aus seiner gebückten Haltung empor und stützte mit dem rechten Fuß die Tür, um sie am Zuschlagen zu hindern.
Schmidts Unterkiefer klappte herunter. Das erste, was er sah, war die Entbindungspritsche. Die Frau, welche auf ihr lag, hatte den Kopf nach hinten gerissen, so dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Er erkannte ein blaues Kleid, welches bis zu ihren Achseln hochgeschoben war. Ihre Arme hingen an beiden Seiten der Pritsche herunter. Schmidt blickte auf ihren Torso. Dieser war von den Brüsten bis zur Vagina aufgerissen. Und zwar wirklich aufgerissen.
Irgendetwas musste in ihrem Inneren explodiert sein. Reste des Darms hatten sich nach außen gestülpt und hingen wie groteske Lianen an ihrer Seite und an den Schenkeln herunter. Der Brustkorb war an seinem unteren Ende ebenfalls aufgerissen, so dass einige Rippen, ähnlich ausgebleichter Pfähle nach oben ragten.
Schmidt hörte in weiter Ferne ein Scheppern, doch er registrierte nicht, dass es sich dabei um seine eigene Waffe handelte, die auf den Boden aufgeschlagen war.
Und dann sah er das Gesicht. Das Gesicht im Unterleib der toten Frau. Es sah ihn aus seinen blut- und kotverschmierten Augen direkt an. Er blickte auf den gekrümmten Körper, der zwischen den gespreizten Beinen der Toten auf einem kleinen Hocker saß; allerdings grotesk verdreht. Dann wieder auf das Gesicht, das ihn aus dem zerrissen Unterleib anstarrte. Und jetzt registrierte sein Gehirn den Zusammenhang. Es war das Gesicht der Hebamme. Ihr Kopf war durch die Vagina ins Innere gezogen worden.
Schmidt vernahm erneut ein aufschlagendes Geräusch, bevor er durch eine gähnende Schwärze erlöst wurde. Dass es sich dabei um seinen eigenen Körper handelte, der mit harter Wucht auf den Fliesen aufschlug, wusste Schmidt nicht.
Auch Rottig hatte seinen Körper nicht mehr ganz unter Kontrolle, er zitterte wie ein kleines Kind, welches in einem dunklen Zimmer allein in der Ecke saß und sich vor dem Schwarzen Mann fürchtete. Doch hatte er nicht das Glück, von einer alles einnehmenden Ohnmacht erlöst zu werden. So konnte er noch den Mann im weißen
-blutroten-
Kittel wahrnehmen; über einen Tisch an der linken Seite des Raumes gebeugt, die Hand nach dem Telefonhörer ausgestreckt. Der Kopf klebte an der Wand, direkt hinter dem Tisch. Er musste mit einer unglaublichen Kraft an ihr zerdrückt worden sein. Rottig konnte die rechte Gesichtshälfte erkennen; sie war noch fast ganz intakt, was besagte, dass der Druck gleichmäßig auf diese Hälfte verteilt gewesen sein musste. Das Gehirn war zu gleichen Teilen vorne und hinten aus der geplatzten Schädeldecke ausgetreten und hatte sich in einen bogenförmigen Strahl an der Wand verteilt.
Ein blutroter Regenbogen; wie wundervoll! Rottig musste grinsen. Es war ein irres Grinsen; ein Grinsen, das ihn davor bewahrte, sich in der nächsten Sekunde eine Kugel durch den Kopf zu jagen.
Links neben dem Tisch auf dem Boden entdeckte Rottig einen riesigen Fleischklumpen, aus dem eine kleinere Hand mit dunklen Fingernägeln herausragte. Er wollte nicht darüber nachdenken, um was es sich bei dem Fleischklumpen handelte.
Wo blieb die Verstärkung? Rottig blickte auf seinen am Boden liegenden Kollegen.
„Schmidt?“ Seine Stimme zitterte.
Wo, verdammt noch mal, blieb diese beschissene Verstärkung?
Rottig hörte ein lautes Schlagen aus dem Flur hinter seinem Rücken und zuckte zusammen. Er presste die Pistole an seine Brust und lauschte. Es muss die Eingangstür gewesen zu sein. Waren es seine Kollegen?
Er wollte gerade nach ihnen rufen, als ihn ein inneres Gefühl zurückhielt. Wenn es die Verstärkung wäre, würden sie sich nicht bemerkbar machen? Seine Kollegen wussten doch, dass er und Schmidt hier waren. Also würden sie auch rufen.
Rottig begann zu schwitzen. Auf einmal schien alles um ihn herum zu verschwimmen. Er lauschte, doch es war nichts mehr zu hören.
„Verdammte Scheiße“, flüsterte er in den Lauf seiner Waffe hinein. „Schmidt!“, etwas lauter aber immer noch geflüstert. Doch sein Kollege rührte sich nicht. Rottig war auf sich allein gestellt. Allein in diesem Kreißsaal des Schreckens.
Und dann vernahm er die Schritte. Gleichmäßig und hallend; tausendfach widergespiegelt von den kahlen Wänden des Flures. Rottigs Herz machte einen beängstigenden Sprung und schien für einen winzigen Augenblick in seiner Bewegung zu verharren. Dicke Schweißperlen liefen ihm in die Augen, und er kniff sie zusammen. Die Schritte kamen näher; schnell näher. Es waren die Schritte nur einer Person, stellte Rottig mit Entsetzen fest. Also konnte es sich nicht um die Verstärkung handeln.
Was um Himmels Willen sollte er tun? Er stand hier neben der Tür, die kalte Wand an seinem Rücken, die Waffe in den zitternden Hände fest an seinen Brustkorb gepresst. Was sollte er tun?
Seine Atmung ging stoßweise. Er würde ihn erschießen! Ja genau, sobald er hier hereinkam, würde er ihn erschießen.
Die Schritte wurden lauter. Jeden Augenblick musste die Person den Kreißsaal erreicht haben. Rottig ließ sich langsam zu Boden gleiten; er würde sich zunächst ohnmächtig stellen. Und dann im günstigen Moment ...
Die Schritte waren verstummt. Rottig blickte vorsichtig aus seiner Position heraus und erkannte zwei Beine in einer dunklen Anzughose, die direkt im Eingang zum Kreißsaal standen.
Die blutdurchtränkte Luft strömte in Rottigs Lungen. Er hatte die Waffe unter seinem Körper vergraben und wartete. Er sah, wie sich die Beine wieder in Bewegung setzten. Sollte er jetzt aufspringen? War das der richtige Moment?
Die Person ging auf den undefinierbaren Fleischklumpen zu.
Jetzt würde Rottig eingreifen.
Eine haarige Hand
- Klaue -
griff in den Klumpen hinein.
Oh mein Gott! Was war das? Wer war das?
Die Klaue riss den Klumpen auseinander. Ein Schwall dicken Blutes drang daraus hervor, wie träge Lava am Rande eines Vulkans.
Rottig spürte das innere Zittern, das durch seinen gesamten Körper drang. Er bräuchte doch nur aufzuspringen. Nur die Waffe auf diese schwarze Person richten. Doch sein Körper war trotz des Zitterns einer unlösbaren Starre verfallen.
Ein blutverschmiertes, kleines Wesen, einem haarigen Baby gleich, kroch aus dem fleischigen Brei hervor und reckte seine ebenfalls stark behaarten Ärmchen empor. Die beiden Klauen nahmen es hoch.
Rottig spürte, wie ihm kalter Speichel aus dem Mundwinkel floß. Er sah den breiten Rücken der Gestalt, sah das lange, schwarze Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Und dann drehte sie sich um und sah direkt zu Rottig herüber. Und dieser blickte in glühend rote Augen!
Und in diesem Moment erkannte Wachtmeister Herbert Rottig die Wahrheit. Er kniff die Augen zusammen und begann zu wimmern wie ein kleines Kind.
* * *
Sie sind der Meinung, Wachtmeister Herbert Rottig hätte den Leibhaftigen persönlich gesehen? Sind sie vielleicht doch zu weit in besagten Mischwald aus Fantasie und Realität vorgedrungen? Haben Sie sich den Rückweg nicht gemerkt? Ich denke, mit ein wenig Glück, werden Sie schon irgendwann wieder herausfinden.
Ich sagte ja vorangehend, dass Herbert Rottig überlebt hat. Er erzählte später, dass in dem Moment, als er wimmernd auf dem kalten Boden lag, die Rufe seiner Kollegen durch das Krankenhaus gehallt waren. Und als er daraufhin aufgesprungen war – allen Mut wiedergewonnen, da war die fremde Person verschwunden. Ebenso wie dieses kleine Wesen, das sie aus dem seltsamen Fleischklumpen gezogen hatte.
Tja, ganz Bucksonville hatte sich niemals von diesem Schock erholt, und das Krankenhaus wurde ein halbes Jahr später abgerissen.
Sie fragen mich, was ich glaube, wer Wachtmeister Rottig in dieser Nacht gegenübergestanden hat? Nun, ich habe da so meine eigene Meinung, und ich denke, Sie haben die Ihre. Und aufgrund meiner Meinung bin ich achtzehn Jahre nach meiner Geburt in den Dienst einer hohen Macht eingetreten, die alle Gläubigen Gott nennen. Und das, um den Menschen die reine Wahrheit zu lehren. Die einzig reine Wahrheit!
Und wenn es mein eingeschränkter Zeitrahmen einmal erlaubt, dann schreibe ich kleine Geschichten auf, die sich wirklich so zugetragen haben. Oder sind Sie da anderer Meinung?
Wie dem auch sei, ich stelle gerade fest, dass ich mich unbedingt wieder rasieren muss. Meine Körperbehaarung ist schon erstaunlich, vor allem an den Händen. Aber ich denke einmal, das ist genetisch bedingt ...