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Camouflage
Johanna zieht den Vorhang zurück und streift das Nachthemd ab, damit die Haut atmen kann. In ihrem Traum klebten die Sterne am Himmel, ohne ihn zu erleuchten, ein Terrier zog an der Leine, kläffte, schnüffelte, führte sie in Gegenden, die sie nicht kannte, an Bettlern vorbei, die sich auf dem Asphalt zusammenrollten, an Stadtpalastfassaden, aus deren Fenster Lachen, an Kellerverschlägen, aus denen Musik drang. Ihre Schritte waren so leicht, als wäre sie eine junge Frau. Wer am Haus vorbeigeht, zum ersten Stock hinaufblickt, könnte sie entdecken, die Unsichtbare, die Runzelfaltenoma, die sich in eine Venus, einen Ballerinenschwan verwandelt. Johanna atmet ein und aus, stellt sich auf ein Bein, hebt das andere an, faltet die Hände zum Sonnengruß und streckt sie über den Kopf. So wird sie zum Baum, verloren in der Yogafigur. Sie schließt die Augen,will die Tarnkappe ablegen. Ihr Geschlecht pocht. Endlich fühlt sie, dass sie lebt.
Freunde verschwanden in Nebelschwaden: Britta, Hans, Petra, an Krebs verendet, in der Demenz verloren, aufs Land verzogen, ihr Mann, der Freiherr, so lange tot, dass sie sich fragt, wie er wohl gerochen haben mag, wie die Küsse schmeckten, wie die Stimme klang. Nur Johanna bleibt. Ihre Söhne rufen alle paar Wochen an, die Besuche werden kurzgehalten, die Enkel bleiben fern. Vielleicht weil sie eine schlechte Mutter, eine noch schlechtere Großmutter war, vielleicht wegen der Distanz, den 200 Kilometern, die zwischen ihr und der Vergangenheit liegen.
Johanna isst Marmeladenbrot zum Frühstück. Himbeere mag sie am liebsten. Wegen der Körnchen, der Samenkugeln, die im Mund knirschen. Sie hat das Fenster geöffnet, sie will die Luft nicht verpassen, den Südwind, der vom Stadtwald herüber weht. Auf einmal, als käme das Geräusch aus dem Nichts, hört sie ein Flattern, ein Kratzen und bemerkt ein Vöglein, das sich am Vorhang verfängt, dann aber schnurstracks durch das Zimmer fliegt, immer rundum, als wolle es den Raum erkunden. Anstatt nach dem Ausgang zu suchen, wieder in die Vogelfreiheit zu entkommen, landet es nach einiger Zeit auf der Kommode, in der Johanna Geschirr, Gläser, Fotoalben, Vergangenheit aufbewahrt. Es sitzt da, schlittert über die Fläche, krallt sich fest, sucht nach Aufmerksamkeit und beginnt, sich das braungraue Gefieder zu putzen, senkt dabei das Köpfchen unter das Federkleid und taucht wieder hervor. Stecknadelaugen blicken Johanna ohne Furcht entgegen. Sie spürt, wie die Kälte aus ihrem Körper weicht, fühlt sich auf seltsame Weise gerührt, steht auf und schließt das Fenster. Der Sperling bleibt auf der Kommode sitzen, putzt sich in aller Ruhe, während Johanna lange nicht gekannte Empfindungen durchfließen, Freude, Glück, als wäre dieser winzige Vogel ein Baby, das seine Mutter suchte und nun in der Menschenbehausung Heimat, Geborgenheit, ein Nest gefunden hätte, wohin er zurückkehren könne, wenn draußen Gefahren drohten. Johanna beschließt, den Vogel nicht wieder fort zu lassen.
„Was machst du hier?“, fragt sie das Vöglein.
„Wegen dem Baum“, glaubt Johanna zu hören.
Johanna liest die Bedeutung aus Piepsen und Zwitschern heraus, versteht, gewöhnt sich an Worte, die aus dem Nebel dringen, Visionen, Irrlichter, die sich auflösen. Sie zwickt sich in den Unterarm, um sich zu versichern, dass sie sich nicht von einem Traum betrügen lässt, die Wirklichkeit verliert. Als der Schmerz sie durchzuckt, reibt sie die Augen. Das Vöglein hüpft von der Kommode auf den Tisch.
Johanna nähert sich, spürt das Piksen des Schnabels auf der Handfläche, streichelt die Federn, überlegt sich für einen Moment, dass sie das Vöglein zerquetschen könnte, so winzig fühlt es sich an.
Das Fotoalbum fällt ihr ein, die Kinderbilder aus dem Waisenheim, die Frau, die aus ihr wurde, damals in den 60ern, hochgewachsen, ballerinenschlank, grünstrahlende Augen, grellblonde Haare, der Freiherr im Frack, ostpreußischer Adel, die Hochzeitsbilder, der Blumenschmuck auf dem geliehenen Mercedes. Johanna Blume verwandelte sich damals in Johanna Freifrau von Wartenberg, trat aus dem Schatten in die Sonne, verließ die Halbwelt der Etablissements, in denen sie tanzte, sich zur Schau stellte, den Club, in dem sie den Freiherrn kennenlernte. Sie holt das Album hervor, blättert darin. Je mehr sie sieht, desto tiefer taucht sie ein. Die Vergangenheit blüht, lässt die Gegenwart hinter sich. Als sie auf das Bild stößt, das sie als Tänzerin zeigt, die Energie spürt, die von dieser Gestalt ausgeht, reift der Plan.
Den restlichen Tag bereitet sie sich vor, manikürt, pedikürt, zupft sich die Haare aus wie früher vor einem Auftritt. Wenn sie stillhält, die Gesichtsmuskeln nicht bewegt, die Haut mit Schminke überzieht, Maskencreme benutzt, verschwinden alle Falten. Johannas Haare saugen das Färbemittel auf, fühlen sich glatt an, glänzen perlweiß. Ihre Hautporen erschauern, als sie den Turbandutt formt. Sie staunt über die Frau, die ihr im Spiegel entgegenblickt, schön, eine Diva, ein Phantom, ein Stern. Sie muss nur das Gesicht stillhalten, nach innen lächeln, um nach außen zu strahlen. Vorbei sind die Tage der Selbstvergessenheit, des Betrugs an sich selbst, dem Blättern in sinnlosen Erinnerungen. Sie streift das Seidenunterkleid über, verzichtet auf Unterwäsche, die Brüste stehen ab, die Warzen ragen empor, als wären sie Nadeln, die auf sie einstechen, mit ihr sprechen wollten.
Johanna fürchtet normalerweise die Nächte. In der Dunkelheit ziehen Wölfe durch die Stadt, Schüsse knallen, Schreie erklingen, Rauch steigt auf. Menschenhorden streifen durch die Straßen, feiern, trinken, wilde Rhythmen dröhnen, Drogenschwaden steigen zum Himmel. Dennoch steigt sie am frühen Abend in die Pumps, schlüpft in den Mantel und schließt die Tür sorgfältig ab. Die Tarnkappe ihres Alters schützt sie in der Nacht.
Das Taxi bringt Johanna in die Stadt. Im Nachtclub dröhnt die Musik in ihren Ohren, lässt den Magen erbeben, derselbe Rhythmus erklingt, den sie von der Wohnung im obersten Stock kennt. Die Gerüche wechseln, je weiter sie sich vorwärtsbewegt, Bier, Desinfektionsmittel, orientalische Parfüms. Am Tresen sitzen Kerle, den Rücken an die Theke gelehnt, Cocktails und Bierflaschen neben sich. Ihre Blicke kleben an der Bühne, an stahlglänzenden Stangen, um die sich Mädchen winden, ihre Körper präsentieren, junge Frauen, die dauerlächeln, geduldig darauf warten, dass einer aufsteht, mit Scheinchen in der Hand zu ihnen stolziert, um ihnen das gefaltete Geld in die Strings zu stecken, einen flüchtigen Moment ihre Haut zu berühren. Johanna möchte, dass sie von Geldscheinen beregnet wird.
Sie legt den Mantel ab, setzt sich an einen der Tische vor der Bühne. Ihr Seidenkleid fällt an ihr herab, so kurz, dass die hautfarbenen Strümpfe, die blasse Haut hinter dem Saum, hervorlugen. Auf dem Kopf trägt sie einen geschwungenen Hut, wie er in den Dreißigern Mode war. Den Strumpfhalter mit den Trägerschnallen hat sie im Kleiderschrank gefunden, ein Überbleibsel der Leidenschaft, eine Erinnerung an den Freiherrn, den schönen Bernhard, den Bernhard’schen Frühling. Die Augen des Mädchens an der Stange blinken wie Sterne. Als Johanna die Beine übereinander schlägt, prallen ein paar Männerblicke von der Stangenfrau ab und gleiten über ihren Körper. Sie bestellt Sekt, was sonst. Wie sie vorgehen würde, hat sie sich auf dem Weg zum Club zurechtgelegt. Johanna folgt den Bewegungen des Mädchens, spürt die Katzengeschmeidigkeit, die von ihr ausgeht. So würde sie nie tanzen, aber darauf kommt es nicht an. Die Musik setzt kurz aus. Sofort beginnt eine neue Melodie, ein neues Mädchen erscheint. Johanna steht auf, winkt das Katzenmädchen zu sich, wedelt mit einem 50 €-Schein, bis sie hüftschwingend zu ihr tänzelt.
„Sie haben schöne Augen und tanzen toll, Kleines!.Das Mädchen lächelt, die Augen halten sich nirgendwo fest.
„Darf ich Ihnen etwas Trinkgeld geben?“
„Klar!“
„Ich möchte Sie etwas fragen.“
„Nur zu!“
„Ich will tanzen.“
„Sie?“
„Warum nicht?“
„Sind sie nicht ein bisschen zu alt dafür?“
„Lassen sie das meine Sorgen sein, Kleines. Wo finde ich den Inhaber des Etablissements?“
Arno grinst, die Gesichtshaut schimmert, die Muttermale treten deutlich hervor, das rote Haar ist militärgebürstet, am Hals zeichnet sich ein Runentattoo ab. Er sitzt alleine an einem Tisch in der hinteren Ecke des Saals, vor sich Blätter, ein Notizbuch, Bierflaschen.
„Sie wollen also tanzen?“
„Genau.“
„Mm, schlank sind Sie ja.“
„Und ich kann tanzen!“
„Ihnen ist schon klar, dass sie strippen müssen?“
„Macht mir nichts aus, ganz im Gegenteil.“
Anfangs schließt sie die Augen, um die Energie der Musik mitzunehmen, bewegt die Hüften erst langsam, dann immer schneller, will einer Schlange ähneln, befiehlt ihren Händen, über den Körper zu gleiten, den Bauch herauf über die Brüste bis zum Gesicht, zu den Augen, die sie schließlich öffnet, um allzu tiefen Träumen zu entgehen. Sie spürt die Schuhe, die Stelzen, auf denen sie steht, stellt sich vor, ein Stern zu sein, zu dem die Zuschauer aufblicken müssen. Während sie den Mantel öffnet, spreizt sie die Beine weiter auseinander. Die ersten stehen auf. Sie bemerkt die aus dem Bund gerutschten Hemden, ihr Grinsen, beugt sich herab, damit die Brüste, die Elfenbeinhaut umso besser zur Geltung kommen, spielt mit dem Rand des Spitzenhöschens, den Verschlüssen des Strapshalters, hebt die Arme, klatscht, winkt die Männer zu sich. Einer wirft einen Schein in die Luft, andere folgen. Das Geld schwebt und spiegelt sich in den Scheinwerfern. Ein Glatzenmann in Anzug, Weste und polierten Schuhen hält ein Bündel 10er in der Hand, lässt sie flattern. Dafür darf er die Halter lösen, ihre Seidenhaut sekundenlang berühren. Ein Kerl in Jeans, einem Polohemd, das die Prachtmuskeln zur Geltung bringt, lässt mehr Scheine regnen. Johanna dreht sich um, präsentiert Rücken und Hintern. Er öffnet den Verschluss. Die Warzen richten sich steiler auf, ihre Milchhaut atmet die Berührung, wie Laserstrahlen jagt die Begierde durch das Publikum. Ein Krähenmann nähert sich, nicht ganz so alt wie Johanna selbst, das Gesicht von Runzeln, Lebensfurchen übersät. Sie biegt sich, riecht das Bergamotte an ihm, spürt die raue Haut, als der Kopf sich ihrem Ohr nähert: „Gnädigste, darf ich sie von den letzten Hüllen befreien?“ Er deutet auf einen Packen von Scheinen, 10er, 20er, 50er, ein paar 100er. Sie nickt, streckt ihm den Hintern entgegen. Schauer jagen durch ihren Körper, so feucht und nahe am Höhepunkt befindet sie sich bereits. Die Menge johlt, spendet Beifall, ruft unverständliche Worte, während sie bemerkt wie seine Hände zittern, als die Scheine fliegen, wie der Mann grinst, eine Siegerpose einnimmt, die Finger über ihren Po gleiten, als er den Spitzenstoff herabstreift. Sie streckt sich dem Mann weiter entgegen, folgt der Sehnsucht. Zwischen den Beinen schimmern feuchte Sterne. Als sie sich umdreht, den Männern zeigt, was sie begehren, fließen Rinnsale herab. Ohne dass sie es will, gefangen in der Welt ihrer Träume, streichelt sie den Bauch, ihr Zentrum, eine Welle durchzuckt sie, Schnuppen verglühen. Sie kann die Bewusstlosigkeit gerade noch vermeiden, zittert und flüchtet ins Dunkel der Garderoben. Sie kauert sich zusammen, um die Schatten einzufangen, die über sie herfallen. Über ihre Wangen kullern Tränen, die sie nicht deuten kann, von denen sie nicht weiß, ob sie Glück oder Trauer ausdrücken.
Das Vöglein begrüßt Johanna mit Jubelgesang, zwitschert, flattert aufgeregt durch den Raum, setzt sich auf ihre Schultern, ihren Kopf. Das Unvermeidliche muss jetzt geschehen. Sie wartet, zögert, doch die Träume haben sich als Hochstapler erwiesen, als Illusionen, wie die Tänze, die verblasste Haut, die Sterne, die einfach so vom Himmel fielen, weil sie nie existiert haben.
Irgendwann beruhigt sich das Vöglein, setzt sich auf die Kommode wie damals, als es zum Fenster hereinflog. Johanna legt die Hand über ihr Vöglein, umschließt es ganz, als wolle sie das Nest schützen, hebt es hoch und öffnet das Fenster. Nichts regt sich. Anstatt die Finger aufzuklappen, es fallen zu lassen, zu beobachten, ob es die Flügel entfalten und davonfliegen würde, drückt sie fester zu, so kräftig sie kann, bis sie das Knacken hört, heißes Blut fließt. Johanna erschrickt, beugt sich über das Fenster und sieht den Sternen entgegen.