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Chaostage
Schon Monate vor den, für das erste Wochenende im August geplanten Chaostagen, riefen extreme Gruppierungen ihre Mitglieder und Interessenten dazu auf, die Stadt „in Schutt und Asche“ zu legen. Mit martialischen Sprüchen in Presse, Briefen und Internet machten sie ihre Absichten und Ziele im In- und Ausland bekannt. Dabei störte es überhaupt nicht, dass jede der Gruppierungen im Grunde genommen andere Ziele verfolgte; wichtig war nur, dass alles auf Chaos hinauslief.
Der Innenminister zeigte die Zähne. Natürlich nur im übertragenen Sinne. Aber immerhin soviel, dass ihm eine der großen Boulevardzeitungen, ich meine die, die sich immer unsere Meinung bildet, seinen Zähnen eine zentrale Schlagzeile auf der ersten Seite widmete. Soviel Aufmerksamkeit wurde dem Gebiss des Innenministers bis jetzt noch nie zuteil. Lediglich das Labor, das für den Zahnarzt des Innenministers arbeitete, konnte über dem Eingang zu seinen Geschäftsräumen stolz und in Gold gerahmt darauf hinweisen, dass es das Gebiss des Innenministers angefertigt habe.
Nachdem die Polizeidirektion in Verbindung mit Einzelhandelsverbänden, Versicherungsgesellschaften, karikativen Verbänden und anderen Vereinigungen in mehreren Nachtsitzungen einen detaillierten Krisenplan ausgearbeitet hatte, wurden über alle vorhandenen Informationskanäle beruhigende Nachrichten in der Öffentlichkeit gestreut. Selbst eine in japanisch verfasste Information wurde an alle Touristen aus dem Land der aufgehenden Sonne über das Radio verlesen. Nur keine Panik, bitte! Nach Ende der Durchsage verneigte sich die kleine japanische Sprecherin höflich vor dem Mikrophon im Radiostudio.
Aus dem ganzen Bundesland ließ der Innenminister viele Hundertschaften an Polizei und Grenzschutz in der Stadt auffahren. Benachbarte Bundesländer, die politisch mit unserem Innenminister sympathisierten, schickten ebenfalls Polizei und technisches Gerät zur Unterstützung. Wenn dann nach den Chaostagen alles gut gelaufen ist, können sich die befreundeten Innenminister den Erfolg auch auf ihre Fahnen schreiben. Also ein korrektes politisches Kalkül, das hinter dieser Aktion steckte.
So steuerten am Freitag Nachmittag lange Kolonnen von grünen Polizeifahrzeugen mit kreisendem Blaulicht, und bei Bedarf auch mit Sirenen, sternförmig von allen Seiten ins Zentrum der Stadt. Die ortskundigen Polizisten wurden dazu eingesetzt, ihre Kollegen verkehrstechnisch einzuweisen; sie trugen die Verantwortung dafür, dass keiner der auswärtigen Kollegen in der Großstadt verloren ging, bzw. sich heimlich davon machte, um seine Freundin, oder sonst eine Dame, zu besuchen.
Es war eindeutig und unmissverständlich: Bei den Chaostagen gab es keine Gnade. Jeder, der nur im geringsten auffällig wurde, musste mit harten Bandagen und Reaktionen seitens der Polizei rechnen. Keiner kam ungeschoren davon.
Und so kam es dann auch.
Am späten Sonntag-Nachmittag, so kurz vor siebzehn Uhr entdeckte eine Polizeistreife im Stadtzentrum einen jungen Mann mit kahlgeschorenem Kopf. Er saß inmitten fröhlicher Touristen in einem Straßenrestaurant und hatte einen schweren Bierkrug aus Glas vor sich stehen – bereits du dreiviertel geleert. Es handelte sich also eindeutig nicht nur um einen potentiellen Chaoten, sondern auch noch um einen, der mit einer schweren Schlagwaffe ausgerüstet war. Das bedeutete für die Polizeistreife „Alarmstufe rot“. Der Verbrecher las – wahrscheinlich um sich zu tarnen – in einer ausländischen Zeitung.
Die sofort über Funk informierte Einsatzzentrale koordinierte die Aktion. Der Polizeipräsident persönlich saß im Helikopter, der in engen Kreisen über der Fußgängerzone der Innenstadt kreiste. Mit ungefähr 350 Mann ließ er alle Zufahrtsstrassen hermetisch abriegeln. Gleichzeitig rückte eine Hundertschaft schwerbewaffneter und mit Schildern gerüsteter Polizisten auf das Straßenrestaurant zu. Von allen Seiten. Gleichzeitig. Zwei Wasserwerfer unterstützten die Aktion. Der Adrenalinspiegel der Gesetzeshüter drohte über die Ufer zu treten.
Vom jetzt niedrig über den Dächern stehenden Hubschrauber versuchte der Polizeipräsident den potentiellen Randalierer per Megaphon zu Vernunft und Ruhe zu bringen. Der junge Mann trank dabei ruhig sein Bier weiter. Entweder lag es daran, dass der extreme Dialekt des Polizeipräsidenten von diesem nicht verstanden wurde, oder das Dröhnen der Rotoren zu laut war. Jedenfalls schaute der junge Glatzkopf nicht einmal in Richtung des Helikopters und las konzentriert in seiner Zeitung weiter. Lediglich die Touristen schauten nach oben und fragten sich, welcher Idiot denn hier einen solchen Höllenlärm veranstalte.
Die Sache nahm ihren Lauf. Das Großangebot an grünen Polizisten und die beiden Wasserwerfer bahnten sich möglichst unauffällig den Weg durch die stark besuchte Fußgängerzone. Schnell wurde der Delinquent eingekreist. Mit barschen Handgriffen wurde der junge Mann von seiner Bierbank hochgezerrt, und seine Arme auf den Rücken gedreht. Mit einem trockenen Klick rasteten die Hand- und Fußfesseln ein. Das erleichterte Schnauben des Polizeipräsidenten war aus dem Hubschrauber, durch das immer noch nicht abgestellte Megaphon, zu hören. Alles weitere war Routine: Aufnehmen der Personalien des Verbrechers, ihn einem der 40 Haftrichter vorführen, die vorsichtshalber für das Wochenende der Chaostage dienstverpflichtet wurden – und dann den Bösewicht seiner gerechten Strafe zuführen.
Alles wäre tatsächlich Routine gewesen, hätte nicht beim Polizeipräsidenten das Handy geklingelt, noch bevor er wieder mit dem Hubschrauber im Hof der Einsatzzentrale landete. Der „bayerische Defiliermarsch“ war die Melodie des Klingelzeichens, das der Polizeipräsident auf seinem Handy programmierte.
„Sind Sie eigentlich wahnsinnig“, brüllte der Innenminister ins Telephon. Der Polizeipräsident war perplex. Er hielt den Handy in gebührende Entfernung vom Ohr und erkundigte sich beim Innenminister nach dem Grund seines Wahnsinnes. Er hatte doch in jeder Beziehung korrekt und nach Anweisung gehandelt. „Wo bleibt Ihr politisches Gespür“, zeterte der Innenminister weiter, „womit soll ich denn diese ganze Polizeiaktion, und die damit verbundenen Millionen, die wir in den Sand gesetzt haben, vor der Öffentlichkeit rechtfertigen? Einen einzigen Chaoten haben Sie bis jetzt dingfest gemacht – und das kurz vor Ende der Veranstaltung. Lassen Sie sich gefälligst was einfallen – sonst sind Sie Ihren Job morgen los, das garantier ich Ihnen!“ Mit einem leisen Knacken wurde die Verbindung unterbrochen.
Nach einer halben Stunde und einer halben Bier hatte sich der Polizeipräsident wieder gefasst.
Erst fuhr er sich mit dem Finger unter den verschwitzten Kragen, und dann kratzte er sich ausführlich am Kopf. Genau genommen gibt es nur zwei Möglichkeiten, die Sache politisch, also im Sinne des Innenministers, ins Reine zu bringen: Das Einfachste wäre es, gelänge es der Polizei, noch mehrere Hundert Randalierer festzunehmen. Er dachte schon daran, einige seiner Polizisten als Chaoten zu verkleiden und als Brandstifter zu mobilisieren, so quasi als Fanfare für die sich in der Stadt versteckten Randalierer, jetzt endlich loszuschlagen. Mit dem riesigen Polizeiaufgebot hätte er dann getrost und bestimmt erfolgreich zuschlagen können.
Aber das war unmöglich. Die meinungsbildende Zeitung wäre ihm bestimmt auf die Schliche gekommen – und dann wäre er seinen Job auch los gewesen. Er verwarf also diese Möglichkeit sofort wieder.
Blieb nur noch die zweite, und somit letzte Möglichkeit. Ein verschmitztes Lächeln glitt über das seit drei Tagen in der Hektik unrasiert gebliebene Gesicht des Polizeipräsidenten.
Ohne lange nachzudenken griff er sofort zum Telephon und rief den Haftrichter an, der den Fall bestimmt schon abgeschlossen hatte. Schließlich konnte sich der Polizeipräsident auf seine Leute verlassen. Und er hatte für diese Ausnahmesituation nur die Besten ausgesucht!
„Na, mein Lieber“, sagte er jovial, „wie viele Jährchen kriegt er denn?“ Nach einer längeren Pause meldete sich der Haftrichter mit einem ausgedehnten „Äähhhm“, dem er eine weitere, bedeutungsvolle Pause folgen ließ. „Wir haben zuerst die Personalien dieses Mannes untersucht. Es handelt sich um einen Schweizer Staatsbürger mit Wohnsitz in Zürich. Er konnte uns glaubhaft nachweisen, dass er eben eine lange und intensive Chemotherapie hinter sich hätte und nach dem Krankenhausaufenthalt jetzt als erstes eine Reise in unsere Stadt unternommen hätte. Dies alles erfuhren wir über den eilig herbeigerufenen Dolmetscher. Also ganz eindeutig ein Tourist, kein Terrorist. Trotzdem werden wir ihn bis nach den Chaostagen in Verwahrung nehmen. Sicher ist sicher.“
Nachdem der Polizeipräsident den Telephonhörer, der ihm aus der Hand gefallen war, wieder aufgehoben hatte, warf er ihn donnernd auf die Gabel. Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Mit jeder Minute wurde sein Plan klarer.
Noch zweimal griff er zum Telephon. Als erstes rief er seinen Freund bei der Bergrettung an und verlangte einen Hubschrauber mit einem auf alpine Rettung spezialisierten Piloten und drei weitere Spezialisten. Als zweites telephonierte er mit dem Pächter des Restaurants auf dem Fernsehturm und ließ – als polizeiliche Anweisung – das gesamte Restaurant sofort räumen. Alle Gäste mussten raus, das Personal sollte bleiben.
Die Zeit drängte, es war schon 19.30 Uhr. Er schnarrte eine Reihe von Befehlen – alle kurz und knapp – in sein Funkgerät, dann machte er sich auf den Weg zum Fernsehturm.
Der glatzköpfige Tourist wurde vom Helikopter der Bergrettung aus der Sicherheitsverwahrung geholt und punktgenau auf dem Dach des Drehrestaurants auf dem Fernsehturms abgesetzt. Dort wurde er vom Polizeipräsidenten persönlich begrüßt und zu einem opulenten Dinner eingeladen, zusammen mit einer Hundertschaft von Polizisten und einer Hand voll ausgesuchter Journalisten und Fotografen.
Die regionalen, überregionalen und internationalen Zeitungen, sowie natürlich die Boulevardpresse – alle hatten für den Montag ihre Schlagzeile mit hervorragendem Bildmaterial, das den Polizeipräsidenten in freundschaftlicher Umarmung mit dem Touristen zeigte, nachdem sie Brüderschaft tranken. „Die Polizei, Dein Freund und Helfer“, titelte die meinungsbildende Zeitung.
In einer Feierstunde am Montag Nachmittag wurde der Polizeipräsident als neuer Innenminister vereidigt, und dem Schweizerischen Botschafter wurde der Ehrendoktor der hiesigen Universität verliehen.