Corellien
1
Was? Schon vierzehn Uhr? Das konnte doch nicht sein! Heute lief doch wirklich alles schief.
Ihre Beine trugen Sonja, so schnell sie konnten, hinab zur Bushaltestelle. Fußgetrappel, hupende Autos, eine sich zu früh schließende Autobustür, ein verzweifelter Seufzer und ein wutverzerrtes Gesicht folgten.
Toll, echt super. Den Bus hatte sie jetzt auch verpasst. An Tagen wie diesen wollte Sonja einfach 'mal abschalten. Gar nicht hier sein. Einen anderen Gefühlszustand haben und einfach nur glücklich und in Ruhe mit ihren Fantasiefiguren, irgendwo draußen, auf einer einsamen Insel leben.
Das Mädchen wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie hatte wohl einige Blicke auf sich gezogen, als sie über die Straße gerannt war, obwohl dort der Verkehr tobte.
Noch dreißig Tage, ein ganzer zäher, langweiliger Monat, bis die Schule endlich vorbei sein würde, und sie in Ruhe die Ferien genießen konnte. Niedergeschlagen beschloss sie, daheim anzurufen um zu sagen, dass sie wohl doch später kommen würde. Es nervte, alles nervte. Der Kern, der war falsch, alles von Grund auf an. Anrufen würde sie von der Telefonzelle aus. Ein langer Weg bis dorthin.
Und warum? Weil ihre Eltern blöd waren. Da gab es nicht mehr zu sagen. Schluss, aus. Einfach blöd. Kein Geld und auch kein Handy. Kein Geld, keine Paradefreundinnen, die man herzeigen konnte. Keine Paradefreundinnen, kein guter Ruf. Kein guter Ruf, kein Freund. Kein Freund, kein Spaß. Warum war diese Welt nur so unfair?
Sie trottete den steilen Weg hinauf. Was würden ihre Eltern sagen. Würden sie wieder tun, als wäre sie, die dumme kleine Tochter, sich wieder einmal zu wichtig gewesen, den Bus zu erreichen? Und wenn schon! Es war ja jetzt sowieso schon egal.
Sie verpasste der Mülltonne an der Ecke einen Schlag mit dem Fuß. Eine schlechte Note noch dazu, die sie heute kassiert hatte. Ein Dreier. Ihre Eltern waren Lehrer. Nicht auszudenken, wie sie darauf reagieren würden. Bestimmt würden sie schon am Telefon fragen, denn Noten, das war das Wichtigste in ihrem verkorksten Familiensystem. Die Schwester hatte es schon geschafft. Sie war diejenige, die aus dem Narrenhaus schon draußen war.
Alles kam Sonja vor wie ein ewiger Kreis. Alles was sie tun konnte war, sich hinzusetzen und zu warten, bis endlich alles vorbei war. In Gedanken würde sie wo anders sein......
2
... sie klopfte sich den Staub aus ihren anmutigen Flügeln. Immer war es das Gleiche. Die Zeit auf der Erde war eine andere als hier. Wenn man eine Woche nicht träumen konnte, dann wusste man nicht mehr, wo man war, in Corellien. Inzwischen hätte sich alles dermaßen verändert, dass sogar Sonja es nicht mehr erkannt hätte. Einen Menschentag nicht hier, in ihrer eigenen Welt zu sein, hieß, dass zehn Jahre in Corellien vergehen würden. Währenddessen, stand die Elfe, Sonja still. Sie bewegte sich nicht.
Der Staub rieselte von allen Seiten herab. Schrecklich! Ein einziger stressiger Tag in der Schule, an dem man keine Zeit zum träumen hatte, und schon war hier alles voll mit Staub.
"Inaf" schrie eine schrille Stimme und es hallte an den Wänden des riesigen Saales wider, "Inaf, wo bist du? Komm doch her mein Süßer".
Sonja musste lächeln. Die alte Moe hatte es anscheinend schon wieder mal geschafft, ihr echsenartiges Gruselvieh von Drachen zu verlieren. Glücklicherweise konnten diese biestigen Dinger nicht größer, als zwanzig Zentimeter werden. Sie hätten sonst wahrscheinlich schon ganz Corellien versengt.
"Hi Moe", brüllte Sonja durch die Halle und ging dem kleinen Lichtstrahl, der von der gegenüberliegenden Tür zu kommen schien, entgegen.
"Du! Woher kommst du? Dachte mir schon, du hast wieder mal vergessen. Zehn Jahre, Sonja! Bist dir wohl schon zu gut, uns hier öfter zu besuchen."
Das Grinsen war Sonja mit einem Mal vergangen, als sie das alte, jämmerliche Gesicht von Moe sah. Sie wirkte irgendwie kränklich.
"Es tut mir leid. Stress in der Schule.... ich hab viel zu lernen."
Moe sah sie im gleißenden Sonnenlicht der drei Monde misstrauisch an "Jemand sollte dir diesen Menschenunsinn austreiben. Komm doch endlich zu uns. Du musst dich entscheiden. Hast nur Flausen im Kopf, wenn du dauernd Welt und Zeit wechselst. Ist kein Leben, die Hälfte Mensch, die andere Elfe zu sein. Bist wie deine Mutter, die hatte auch ihren eigenen Dickschädel. Bis sie sie gefunden haben. Jetzt ist sie tot. Pah, und du kennst sie nicht mal! Wirst doch nicht so dumm sein und den gleichen Fehler machen, oder doch Sonja?"
Ein sehr eindringlicher Blick und eine unheimlich starke Aura der Macht, ging von Moe aus.
Sonja suchte nach einer trotzigen Antwort "Falls dus noch nicht mitbekommen haben solltest: Ich habe eine Mutter, eine leibliche Mutter, also erzähl mir nicht solche Gruselgeschichtchen!". Genau in dem Moment, in dem Sonja diesen Satz gesagt hatte, wurde ihr klar, wie lächerlich dessen Inhalt eigentlich war. "Oh, Sonja, nun stell dich mal nicht so. Du weißt genau, was ich meine. Die Gedanken, die Fantasie. Ohne sie könntest du nicht hierher, und das hat dir deine Mutter gegeben. Die Kraft, die aus ihr entstand, bevor sie sie umgebracht haben. Das hat die Gabe in dir ausgelöst und du weißt, dass es deine gedankliche Mutter ist!"
"Schon gut, Moe, schon gut. Ich weiß was du meinst, du hast es mir oft genug erzählt."
Ein Gefühl der inneren Unruhe breitete sich in Sonja aus.
Der Wind blies ihr ins Gesicht, als sie ihre Flügeln mit kräftigen Impulsen in weiten Schlägen ausbreitete. Klar, es war kitschig, doch es war schön. Und hier in Corellien konnte sie niemand sehen.
Sie wusste es, seit sie das erste Mal hier gewesen war. Sie würde hier bleiben. Doch es war kein einfacher Weg.
Sonja verwarf den Gedanken, schloss die Augen und baute sich eine Landschaft im Dunkel auf. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war die Landschaft da. Aber nicht so, als wäre sie neu gewesen. Nein, es war ein Gefühl, das von dieser Landschaft ausging als hätte es sie seid Ewigkeiten gegeben. Die Bäume sangen ein trauriges Lied.
3
"Bist du dann soweit, dass auch mal andere Leute telefonieren können?"
Peinlich! Immer das gleiche. Immer musste das passieren. Sie war schon wieder mal völlig abwesend gewesen. Für eine Minute war sie, Sonja, starr in der Telefonzelle gestanden. Mit dem Hörer in der Hand!
Genau wie sie es sich gedacht hatte. Die Eltern waren stinksauer gewesen. Hatten herumgebrüllt. Den ganzen Nachmittag über. Sie hatten das Thema "Drei auf Französisch" hundert mal diskutiert und beschlossen, sie in die Hauptschule zu stecken, wenn es mit den miserablen Noten so weiterging. Vielleicht würde sie dort ja halbwegs mit den Fächern klarkommen.
Ihre Tochter hatte in letzter Zeit überhaupt immer irgendwelche Flausen im Kopf. Zum einen, dass sie Interesse für männliche Wesen entwickelte. Gut, andere Mädchen taten das zwar auch, doch die wurden alle schwanger. Es galt also, ihr Gedanken, wie Jungs, oder Fantasie so schnell wie möglich auszutreiben. Mit viel Herumgenörgel, Geschrei und Heulerei würde das schon funktionieren.
Sonja hatte die Nase voll. Sie schmiss sich auf ihr Bett, und versuchte beklommen an etwas anderes zu denken. Corellia. Wo war es? Früher hatte sie es doch nicht suchen müssen. Es war einfach da, wenn man es brauchte. Vielleicht musste sie es sich ja auch nur wünschen.
Sie presste fest die Augen zusammen und wünschte sich den einzigen Wunsch, den sie sich je richtig gewünscht hatte.
Nichts.
Prioritäten setzen.
Alles ging so schnell, dass sie nicht weiter darüber nachgedacht hatte und das Messer war spitz.
Unter großem Schmerz auf der linken Seite der Brust, fiel sie nach vorne. Eine gedankliche Mutter mehr war gestorben. Kein Corellien für Sonja.
[Beitrag editiert von: Merdania am 22.12.2001 um 09:10]