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Das Allerletzte Schwarze Einhorn
Höre, die Einhörner, edel anzusehen
seit ewig für Frühling sie stehn.
Auf! Lass uns eines schlachten gehn,
und sehn, wie der Frühling wohl schmeckt.
aus: Neb Nezwisch, Schöne Miederländische Schlaflieder,
5. Gesang, 15. Strophe.
Aus Garmuffs Zelt drang das gekitzelte Kichern von Mirindia, der hübschen Heilerin. Seit der Zauberer das Letzte Schwarze Einhorn erlegt hatte, nutzte er offenbar ununterbrochen die magischen Fähigkeiten des amputierten Horns für seine Zwecke. Kein Weib war vor seinen Zudringlichkeiten sicher – nicht einmal Mirindia, die immerhin seit vier Tagen mausetot war. Mit solchen Verlusten musste eine Gruppe Abenteurer rechnen, wenn sie Schwarzen Einhörnern an ihr bestes Stück wollte.
Vor dem Zelt beobachtete Garmuffs Lehrling Paff einen grünen Tausendfüßler, der den Abfall der Reisenden nach Nahrung oder einem Fortpflanzungspartner mit der richtigen Beinzahl durchsuchte. Im Geiste ging Paff die Beschwörungsformel für mehrgliedrige Kleinsttiere durch, aber ihm fiel nicht mehr ein, was nach pafka dada wurmgut kam.
Plötzlich bemerkte Paff, dass es im Zelt still geworden war. Außerdem hatte er das Gefühl, als würde jemand hinter ihm stehen.
Er fuhr herum.
Es war Mirindia, die Heilerin, und sie war offenbar gerade dabei, ihr Nachthemd anzuziehen – allerdings hatte sie gewisse Schwierigkeiten mit dem dünnen, schwarzen Kleid, das sich in ihrem silbernen Haarreifen verfangen hatte.
Sie sah überaus ansprechend aus, wenn man das ungesunde Loch knapp oberhalb ihres Bauchnabels ignorierte. Ansonsten stimmte alles: Lange, weiße Haare, leuchtend grüne Augen, kleine feste Brüs ... Paff schluckte trocken. Er hatte nie zu hoffen gewagt, ein solch begehrenswertes Wesen einmal ungestraft unbekleidet betrachten zu dürfen. Denn Hoffnung hieß, die Realität auf dem falschen Fuß erwischen zu wollen.
Mirindia lächelte höflich. »Habe ich dich erschreckt, uks?«
Aufgrund ihres Lochs im Bauch quälte die Heilerin ein endloser Schluckauf. Berücksichtigte man die Tatsache, dass es sich um eine absolut tödliche Verletzung handelte, die ihr das Schwarze Einhorn beigebracht hatte, war das ein Symptom, mit dem sie recht gut leben ... tot sein konnte. Paff besann sich und hörte auf, die nackte Heilerin zu begaffen. Er sah wieder zu Boden.
Der Tausendfüßler verwechselte gerade die dort stehende Tasse Tee mit einem anregenden Kräuterbad.
Klirr!
Ein schwarzer, gespaltener Huf sprengte die Tasse in Scherben und verdarb dem Tausendfüßler sein erfrischendes Bad. Paffs Blick wanderte muskulöse, glänzende Schenkel hinauf und stellte sich dann auf die Spitze eines dunkelroten Horns scharf. Der Zauberlehrling erstarrte.
»Wo ist dein Meister?«, fragte das Letzte Schwarze Einhorn.
Paff machte den Mund auf, aber heraus kam nur eine Wolke schlechten Atems. Dann erst fand er seine Sprache wieder: »Aber, aber ... ich dachte, das Letzte Schwarze Einhorn ist seit ein paar Tagen tot?«
Gemächlich schwankte das Horn hin und her. »Das ist ein verbreiteter, recht ärgerlicher Übersetzungsfehler. Die korrekte Bezeichnung unserer Rasse lautet in eurer Sprache: Listige Schwarze Einhörner«, brummte die tiefe Stimme, mit der das Einhorn jede Jungfrau in Hörweite angelockt hätte. Das war genau der Grund dafür, dass unschuldige Mädchen die miederländischen Wälder nach Möglichkeit mieden.
»Das erklärt einiges«, meldete Mirindia sich zu Wort, »uks.«
Das Einhorn schien sie erst jetzt zu bemerken. Es beäugte sie und überlegte vermutlich, ob es zuerst ihre unangenehme Verletzung oder ihr unangezogenes Nachthemd ansprechen sollte.
Diese Sekunde nutzte die Heilerin. Sie packte das dunkelrote Horn und zog. »Lauf«, schrie sie, während das Einhorn wütend schnaubte und versuchte, seine Peinigerin abzuschütteln.
Paff sprang auf, griff nach seinem Rucksack und nahm die Beine in die Hand. Er sah gerade noch, wie Mirindia versuchte, dem Einhorn mit ihrem Nachthemd die Augen zu verbinden. Er hörte Schreie, Kreischen und Hufgetrampel hinter sich, drehte sich aber nicht mehr um.
Verschwitzt und völlig außer Atem erreichte Paff ein paar nahe Felsen und ließ sich in eine Nische fallen. Nervös schaute er durch eine schmale Lücke und sah ... einen Bauchnabel. Er prallte zurück, gleich darauf sprang Mirindia zu ihm ins Versteck. »Uks!« Die Heilerin hatte eine ganze Reihe Kratzer abbekommen und ein zweites unschönes Loch direkt neben dem ersten.
»K...kannst du dir das hier anziehen?«, fragte Paff und zog einen braunen Umhang aus seinem Rucksack. »Sonst guck ich ständig, äh ...«
»Auf meine Verletzungen? Uks.«
Mirindia sah an sich hinunter und zwinkerte ihm dann zu. Paff erkannte, dass er in diesem Moment auf sich allein gestellt war: Sein Meister war nicht da, um ihn vor Dummheiten zu bewahren oder mit geistreichen Hinweisen zu versorgen. Genaugenommen tat er das sowieso nur dann, wenn er zuviel Wein getrunken hatte.
»Darf ich dich küssen?«, rutschte es Paff heraus. Er hatte dabei das Gefühl, als hätte er gerade versehentlich ein Einhorn zum Abendessen eingeladen und wurde rot.
Die Heilerin schwenkte den Zeigefinger. »Uks. Dummerchen.«
Paff ließ die Schultern hängen. »Kannst du eigentlich auch Dummheit heilen?«, fragte er frustriert.
»Uks. Diese Gabe verleihen die Götter nicht.«
»Kein Wunder. Dann hätten sie weniger zu lachen«, grummelte Paff.
»Gräm dich nicht, uks«, lachte die Heilerin, »in Gegenwart einer nackten Frau sind doch alle Männer dumm.«
Der Zauberlehrling brachte ein gequältes Lächeln zustande. Während Mirindia endlich den Umhang überzog, beobachtete er stur die Umgebung. Um das Zelt herum war alles ruhig – keine Spur vom Einhorn oder Meister Garmuff.
»Warum passiert sowas immer mir«, murmelte Paff.
»Schonmal was vom Zufall gehört? Uks?«
»Ja, und?«
Die Heilerin zuckte mit den Schultern. »Irgendwann erwischt er jeden.«
Das Gespräch versiegte. Paff überlegte, ob die aktuelle Wetterlage ein paar Sätze wert war. Noch während sich in seinem Kopf ein komplizierter Satz formte, in dem Begriffe wie Wolkenfetzen, Sonnenlicht und Mondschatten einander die besten Plätze streitig machten, unterbrach ihn die Heilerin: »Wie es wohl, uks, unserem Garmuff ergangen ist?«
Paff verdrehte die Augen, sah dabei zufällig nach oben und stieß sich vor Schreck den Kopf am Felsen.
»Mir geht es hervorragend«, versetzte der Zauberer, der wie ein Geier über ihren Köpfen schwebte. »Bekanntlich können Einhörner nicht fliegen. Im Gegensatz zu mir.« Seine Stimme enthielt eine gehörige Portion Arroganz, eingebildete Überlegenheit sowie den Geruch halb verdauter aphrodisierender Kräuter. Der Lehrling fragte sich, wozu sein Meister diese Drogen brauchte, wo er doch das magische Horn hatte. Paff fiel auf, dass Garmuff ihm nie erklärt hatte, was es mit den Einhörnern auf sich hatte. Er war sowieso immer mehr damit beschäftigt, seinen Leidenschaften zu frönen, als seinen Lehrling zu unterweisen.
Während Paff stur weiter nach streunenden Letzten Einhörnern Ausschau hielt, landete der Zauberer mit verschränkten Armen neben Mirindia und ihm.
»Da ist ja mein Schätzchen«, gurrte er und kitzelte Mirindia unter dem Kinn.
»Uks, hihi«, machte die Heilerin. Offenbar stand sie immer noch unter dem Einfluss von Garmuffs Liebesmagie.
»Ist mein Täubchen mit einem anderen durchgebrannt, hm?«, fragte der Zauberer und brachte es dabei fertig, wie ein auslaufendes Honigfass zu klingen.
»Äh, ich ...«, begann Paff mit einer Erklärung.
»Manchmal«, sagte Garmuff mit erhobenem Zeigefinger, »muss man Mädchen anbinden, damit sie nicht weglaufen.« Mit einer komplizierten Bewegung seiner kleinen Finger erschuf er ein Seil aus dem Nichts.
»Uks.«
Paff hatte nicht den Eindruck, aus dieser Lektion etwas für seine Zukunft gelernt zu haben.
Fröhlich schlang der Zauberer die Fesseln um die bloßen Handgelenke der Heilerin. Das Grinsen verging ihm, als das Seil durch Mirindias Arm glitt, als wäre er aus Marmelade. »Nanu?«
»Uks! Upsi!«
»Sie löst sich auf«, hauchte Paff.
Garmuff verzog das Gesicht. »Das war zu befürchten. Immerhin hat sie seit ein paar Tagen nicht mehr durch die Gegend zu laufen, sondern gehört in ein gemütliches Grab. Scheinbar haben die Götter das gerade mitbekommen.«
Paff schluckte trocken. »Aber ... kannst du denn nichts tun?«
Garmuff schüttelte den Kopf. »Nein. Das Horn lässt sich nur einmal anwenden. Einmal bei jedem Menschen, genau genommen.«
»Das Horn? Aber ich dachte ...«
»Sein Mark verlängert das Leben, wenn man den Aufguss trinkt. Was dachtest du denn?« Meister Garmuff verzog traurig das Gesicht. Fassungslos sah Paff zu, wie der Zauberer sich sein Seil um den eigenen Bauch legte und langsam zuzog. Garmuff war plötzlich dünner als ein Kleiderständer, sein Umhang schien nur Luft zu verhüllen. Auch ihn hatte das Einhorn also vor vier Tagen erwischt, und auch bei ihm ließ die magische Wirkung des Horns nach.
»Meister ...«, hauchte Paff und streckte die Hand aus. Sein Meister ergriff sie. Der Händedruck erinnerte Paff an einen Schwamm, den jemand in einen Eimer mit kalter Luft getunkt hatte.
»Tja«, sagte Garmuff hohl, »die Götter lassen sich eben nicht betrügen.« Er sah zu der Heilerin hinüber, deren Körper mittlerweile die Beschaffenheit einer mit Lumpen bekleideten Schäfchenwolke hatte. Ihr brauner Umhang rutschte zu Boden. Ein letztes »Uks« entwich einer unsichtbaren Kehle, als Paff nach dem Schemen griff, der noch übrig war.
»Ein anderer wird deine Ausbildung beenden müssen«, sagte Garmuff, »und hüte dich vor Schwarzen Einhörnern.«
Sein Lehrling nahm eine würdevolle Haltung ein. »Ich werde daran denken, Meister.«
»Diese Viecher sind echt das Letzte«, ergänzte der Zauberer dünn.
Paff fragte sich, ob es möglich war, mit weniger weisen Worten aus dem Leben zu scheiden. Als der Zauberer nur noch aus einem Häufchen zweitklassiger Kleidungsstücke bestand, hatten die Götter ihren Ordnungstrieb gestillt. Paff wünschte sich, sie wären in jeder Hinsicht so gewissenhaft. Dann bliebe den Menschen viel Ärger erspart.
Den Rest des Nachmittags beobachtete Paff Käfer, die emsig das Moos durchstreiften – vermutlich waren sie auf der Suche nach passenden Weibchen. Die Götter leiteten ihre trippelnden Schritte sicher die ganze Zeit in die falsche Richtung, nur so aus Spaß.
Irgendwann sah Paff auch das Listige Schwarze Einhorn wieder, das immer noch das schwarze Nachthemd der Heilerin über den Augen trug und ähnlich orientierungslos schien wie die Insekten.
Stunden vergingen, und die Käfer suchten immer noch. Unermüdlich.
Schließlich richtete Paff sich auf, setzte einen Fuß vor den anderen und verließ die nicht existierenden Überreste seines Meisters, dessen Heilerin sowie seine eigene Vergangenheit. Während er durch den Frühling wanderte, atmete er den Duft seines neuen Lebens ein und holte sich ein paar Blasen an den Füßen. Aber die waren ihm völlig egal. Denn er lebte. Lebte in genau diesem Moment. Und in diesem. Und in diesem.
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trotzdem für Su
21.3.-29.3.
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editiert: dies entspricht jetzt genau der bei der Lesung in Mettmann vorgetragenen Version.