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Das kann doch wohl nicht wahr sein!
15.03.2016
Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Es ist wieder so weit. Es ist Samstagabend und Herr Samsa bereitet das samstägliche Ritual vor. So holt er seinen siebenundzwanzig Jahre alten Lottoschein hervor, stellt ein Glas, eine Flasche Bier und eine Schale mit Erdnüssen auf den Tisch. Sodann schaltet er das Fernsehgerät ein und wartet auf die Ziehung der Lottozahlen. Mit seinem alten Lottoschein hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Wurde er doch niemals abgegeben und auch kein anderer im Laufe dieser siebenundzwanzig Jahre. Herr Samsa liebt es festzustellen, dass er wieder nicht gewonnen hat. So wird das hübsche Sümmchen, das er sich dadurch erspart hat– weil er ja den Schein nicht abgegeben hat – immer größer. Nun gut, das ein oder andere Mal hätte er drei, ja einmal sogar vier Richtige gehabt. Aber der Gewinn ist zu vernachlässigen.
Schon geht es los. Die hübsche Sprecherin hat den üblichen Spruch aufgesagt und die Kugeln rollen laut rumpelnd in die Ziehungstrommel. Die erste Zahl wird gezogen – eine sieben. Hat Herr Samsa. Die zweite Kugel, die neunzehn. Oh, Treffer. Die dritte Kugel zwölf. Herr Samsa wird langsam unruhig. Die vierte Kugel, die zwei. Stimmt auch. Die fünfte Kugel dreiundzwanzig. Auch seine Zahl. Die sechste und letzte Kugel ist die dreiunddreißig. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Er ist fassungslos. Die Hand, mit der er gerade sein Bierglas zum Munde führen will, öffnet sich und das schwere Glas kracht auf den Wohnzimmertisch. Das Bier ergießt sich und läuft über den Tischrand hinaus auf den Teppich. Herr Samsa ist kreidebleich und schnappt nach Luft. Sicherlich hat er einen Albtraum, aus dem er gleich erwachen wird. Er kneift sich. Aua, das tut weh. Der Mann springt auf und läuft wie ein gefangenes Tier auf und ab. Hin und her. Er setzt sich wieder, stützt seinen Kopf in die Hände und fängt haltlos an zu schluchzen. Die Knie zittern, der Blutdruck steigt und der Kopf fühlt sich an, als sei er in einen Schraubstock gespannt worden. Herr Samsa haut mit der Faust auf den Tisch, mitten in die Bierpfütze, dass es nur so nach allen Seiten spritzt.
„Du dämlicher Kerl“, schimpft er sich lauthals. „Wie konntest du nur so bescheuert sein, und Woche für Woche die Lottoziehung anschauen. Klar, ist ja auch lange gut gegangen und hat dich jedes Mal gefreut, dass du dein Geld nicht in den Sand gesetzt hast. Und jetzt? Sechs Richtige und keinen gültigen Lottoschein. Wer weiß, wie viele Millionen mir an der Nase vorbeigegangen sind. Was ich mir alles davon hätte kaufen können. Ein Haus, einen Porsche, ein Motorrad. Ich hätte eine Weltreise machen können. Oder noch besser, das Geld richtig gut anlegen und kräftig vermehren. Ich hätte stinkreich werden können. Bräuchte nie wieder zu arbeiten und könnte ein Leben in Luxus führen. Und was ist? Nada. Am besten, ich häng mich auf.“ Herr Samsa zuckt zusammen. Habe ich etwa an Selbstmord gedacht? Ist das eine Option? Das Scheißgeld bringt mich noch um den Verstand, obwohl ich es noch nicht einmal habe. Er springt wieder auf und setzt sein gehetztes Hin und Her fort.
Das Telefon schrillt. Herr Samsa bleibt abrupt stehen und braucht ein paar Sekunden, bis er begriffen hat. Er nimmt den Hörer auf und brüllt hinein: „Samsa hier, ich habe keine Lust mit Ihnen zu reden!“ „Sag mal Kurt, bist du noch bei Sinnen? Ich bin ´s, deine liebe Schwester Gerlinde. Nun, wie geht es dir eigentlich? Ich kann mir vorstellen – schlecht.“ So ist seine Schwester. Sie redet wie immer ohne Punkt und Komma und gibt sich auch noch die Antworten auf ihre Fragen selber. „Lass mich in Ruhe. Ich hab eine Scheißlaune. Also, Tschüß.“ „Nun warte doch Kurt. Ich weiß warum du so schlecht gelaunt bist.“ „Woher willst du das denn wissen? Kannst du jetzt auch noch hellsehen?“ „Na klar. Du hast gerade erfahren müssen, dass dir durch deinen stadtbekannten Geiz Millionen an der Nase vorbeimarschiert sind. Tut weh, ne?“ Herr Samsa ist perplex. Die kann ja tatsächlich hellsehen. „Gerlinde, wie kommst du denn darauf?“ „Halt dich fest. Vor drei Monaten habe ich deinen ausgefüllten und nie abgegebenen Lottoschein auf deinem Wohnzimmertisch gesehen. Die Zahlen habe ich mir notiert; und seit dem tippe ich Woche für Woche diese Zahlen. Jetzt bist du platt, was? Ich bin Millionärin.“ Herrn Samsa wird es schwarz vor Augen. Er ist einer Ohnmacht nahe. Bevor ihn die Sinne ganz verlassen, hört er seine Schwester noch sagen: „Selbstverständlich gebe ich dir die Hälfte ab. Sind ja schließlich deine Zahlen.“ Das holt ihn zurück.