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Das Kauf(rausch)paradies

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18.02.2014
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Das Kauf(rausch)paradies

Das letzte Türchen des Adventskalenders ist endlich geöffnet. Doch statt Besinnlichkeit herrscht an diesem Vormittag des Heiligen Abends enorm viel Hektik in der Stadt. In den Straßen wimmelt es nur so von Menschen. Besonders groß ist das Gedränge im Kaufparadies am Markt. Alle hetzen auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken durch die verschiedenen Abteilungen. Vor den Kassen bilden sich ellenlange Schlangen, als gäbe es für Jahre nichts mehr zu kaufen.

Auch Rudi, Felix und Lieschen eilen durch das Kaufhaus. Die Geschwister können es vor Erwartung auf die Weihnachtsgeschenke kaum noch aushalten. Links sehen sie knallbunte Plakate, rechts eine grelle Leuchtreklame. Lautstark kommentiert eine Stimme andauernd irgendwelche Super-Sonderangebote. Die Kinder hasten wie aufgescheucht durch die Abteilungen bis sie an eine große Pappfigur stoßen, die urplötzlich vor ihnen steht.
Irritiert sehen sie sich mitten im Gewimmel um, werden aber weiter geschoben und landen schließlich in der Spielzeugabteilung, die sie erst einmal gründlich inspizieren. Die Auswahl ist so riesig, dass Rudi plötzlich von Zweifeln geplagt wird.
„Ach hätte ich mir doch lieber die andere Spielkonsole zu Weihnachten gewünscht“, jammert Rudi und sinkt enttäuscht auf einen zur Weihnachts-Dekoration gehörenden Schlitten nieder. Der Schlitten steht halb in einer stilisierten Eskimo-Schneehöhle aus weißem Polystyrol. Auch Lieschen und Felix finden sich ein. Hier ist es gemütlich und etwas ruhiger. Angeregt unterhalten sich die Kinder über ihre Favoriten.
Auf einmal - oder haben sie es nur noch nicht bemerkt - ist alles still und dämmrig.
„Oh, welch himmlische Ruh?“, ulkt Felix.
Rudi dagegen ist alarmiert und ruft: „Ladenschluss! Wir haben den Ladenschluss verpasst!“
„Mama, Ich will zu meiner Mama“, schluchzt Lieschen.
„Kommt schnell!“, schreit Rudi.
Sie springen Stufe für Stufe die starr gewordene Rolltreppe hinunter, hetzen zum Ausgang, rütteln an der Glastür - doch die ist schon verschlossen. Rudi holt einen Schlüssel aus der Hosentasche und klopft damit heftig an die Tür. Doch draußen, im Lärm des Weihnachtsmarktes mit seinen Karussells und Glühweinbuden, bemerkt keiner die Eingeschlossenen.

„Und nun? Wie kommen wir hier wieder heraus?“, fragt Rudi ängstlich.
Felix zuckt mit den Schultern.
„Mama!“, ruft Lieschen nun noch herzzereißender.
„Wir müssen verhungern“, bangt Rudi.
„Ach Quatsch! Schau hier“, sagt Felix und stellt Pfefferkuchen und Schokoladen-Weihnachtsmänner auf eines der Kassen-Förderbänder.
„Das dürfen wir nicht!“, warnt Rudi.
Doch Lieschen meint: „Mmmm - die sind zum Anbeißen süß ...“
Nachdem alle bis zum Rand mit Süßigkeiten voll gestopft waren, ruft Rudi zappelnd: „Ich muss mich jetzt unbedingt bewegen.“ In seinen Armen und Beinen juckt und zuckt es. Sich Roller-Skates anschnallend verkündet er: „Wir machen ein Wettrennen!“
Felix stellt für sich einen Rennwagen, und für Lieschen einen Geländewagen, beide ferngesteuert, zum Start bereit.
„Versucht mich doch mit euren lahmen Kisten einzuholen, ich bin sowieso schneller“, prahlt Rudi und fährt zuerst den langen Gang zwischen Buch- und Schreibwarenabteilung entlang, biegt dann aber in die schmalere Gasse der Haushaltwarenabteilung ein.
Hier streift er Regale, reißt Töpfe, Deckel und allerlei Preisschilder vom Tisch. Lieschens Gelände- und Felix’ Rennwagen nehmen die Verfolgung auf. In der Porzellanabteilung testet Rudi sein Können im Slalomfahren aus. Dabei gelingt es ihm nur haarscharf die kostbaren Standvasen zu umfahren. Felixens Rennwagen folgt Rudi auf den Fersen, bleibt aber an den heruntergefallenen Preisschildern stecken. Nur Lieschens Geländewagen kann alle Hürden nehmen und überholt Rudi mit Karacho. Vor Freude hüpfend, ruft sie laut: „Gewonnen!“
Bevor Rudi in eine Pyramide aus fein geschliffenen Gläsern gerast wäre, kann er sich gerade noch rechtzeitig an einem Sessel, der schon zur Frisörabteilung gehört, festhalten.

„Erst einmal Dampf ablassen!“, hechelt Rudi und verteilt an jedes der Kinder Haarspraydosen. Imnu sind Lieschens lange braunen Haare zu einer Bretzel geformt; Felixens Blondschopf verwandelt sich in zwei lilafarbene Hörner.
„Wann gehen wir wieder nach Hause …?“, fragt Lieschen leise.

„Wie wär’s denn mit einer Modenschau?“, fragt Felix tröstend.
Schon ziehen sich die Kinder gegenseitig die schrillsten Sachen über und steigen damit ins Schaufenster. Sie tanzen und hüpfen um die Schaufenster-Puppen herum. Dabei kleben sie einer in Pelz gehüllten Puppe ein Stirnband aus Paket-Klebeband mit der Aufschrift „Vorsicht zerbrechlich“ an. Einer anderen hängen sie als Krawatte einen 3fach-Elektro-Verteiler um, eine dritte erhält als Ohren-Schmuck blauen Sternzwirn angehängt. Lieschens Haar-Bretzel wippt beim Schaulaufen lustig hin und her. Ein Ärmel von Felix’ hektisch und nur halb angezogenem Marken-Pulli weht wie ein Pferdeschwanz hinter ihm her.
Von draußen schauen im Vorübergehen Spaziergänger flüchtig in das Schaufenster. Eine Frau sagt zu ihrem Mann: „Schau mal, Tanzpuppen, ach wie originell.“ Eine Großmutter fragt ihre Enkelin:
„Ist das schon die Faschings-Dekoration?“
Wichtigtuerisch erklärt die Enkelin:
„Ach Oma, das ist flippelig-hippelig-in. Ich habe es schon in der Fernseh-Werbung bei „Trix-Trax-Trell gesehen.“
Lieschen winkt der alten Frau von innen zu, die Oma erwidert es und geht dann mit einem verzerrten Lachen weiter.
Enttäuscht darüber, nicht beachtet zu werden, verlassen die Kinder das Schaufenster.
„Das ist gemein, die Leute können mit ihren Familien Weihnachten feiern, und wir …?“, fängt Lieschen wieder zu flennen an.

„Wir beschenken uns eben selbst!“, ruft Felix und drückt Lieschen eine Barbie-Puppe in die Hand. Dann nimmt er noch eine zweite, eine dritte, vierte, fünfte… aus dem Regal, bis Lieschen strahlend von einem Puppen-Kindergarten umgeben ist. Indes sitzt Rudi andächtig vor einem Berg von Handys und Fotoapparaten.
„Sie gehören alle mir!“, ruft er gierig und versucht jedem Handy Klingeltöne zu entlocken. Mit den Fotoapparaten schießt er ein sinnloses Bild nach dem anderen. Felix hat sich an jedem Arm Dutzende von Uhren umgebunden. In den Hosentaschen ticken Taschenuhren.
Lieschen, des Puppenspiels bald überdrüssig, streunt traurig und ziellos durchs Kaufhaus. Sie holt hie und da etwas aus den Regalen, probiert es aus, legt es wieder zurück. Selbst die sonst so verkaufsfreundlich blickenden Schaufensterpuppen schauen nun eher sorgenvoll und traurig auf die Kinder, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigen.

Auf einmal zerreißt ein Scheppern und Rasseln die Stille des Einkauftempels. Ein Einkaufswagen, übervoll beladen mit Computern, Monitoren, Radiorecordern, Walkmans und vielem mehr, rollt direkt auf Rudi zu.
„Ich biete diese 24 Computer, 14 Laptops, 7 Radiorecorder und 5000 CDs … für einen Spaziergang im Freien an!“, erklärt Felix marktschreierisch. Er hatte den Wagen zuvor beladen und brachte ihn nun kurz vor Rudi zum Stehen.
„Lass den Quatsch!“ mault Rudi zurück, ein Paket CDs wütend in Richtung Kasse werfend, wo es sogleich die Rolltreppe hinunter poltert.
Brüskiert schaut Rudi den CDs nach, dann sagt er: „Ich wollte immer schon einmal mit dir Schlitten fahren“, und schiebt den Schlitten aus der Eskimohöhle an den Rand der herabführenden Rolltreppe.

Zuerst müssen wir die Rodelbahn kräftig einwachsen“, empfiehlt Felix. Von der Idee sichtlich begeistert, fängt er an, mehrere Familienpackungen Quark auf die Treppe zu schütten.
Rudi hilft mit Joghurt und Rasiercreme nach.
Lieschen sprüht aus zwei Sprühflaschen gleichzeitig Schlagsahne darüber.

„Ski und Rodel gut“ sagt Rudi und schiebt sich mit seinem Schlitten ab.
Mit einem zittrigen „Aaaaah“ holpert er Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Unten angekommen baut er zusätzlich noch eine Schanze aus dicken Kochbüchern auf. So rodeln die Kinder Stunde um Stunde. Rudi wird immer mutiger, fährt rückwärts und freihändig, bis er auf einmal das Gleichgewicht verliert und ohne bremsen zu können, gewaltsam vor einer Vitrine zum stehen kommt. Sein Kopf schmerzt, Arme und Beine sind geprellt. Lieschen streichelt ihm sanft übern Kopf und tröstet mit den Worten: „Keine Sorge, Rudi, bis zur Hochzeit ist alles wieder in Ordnung.“

Erschöpft fallen Felix und Rudi in die Betten der Einrichtungsabteilung. Lieschen sucht sich das von ihr lang ersehnte Himmelbett aus.
Die Kinder versuchen zu schlafen, doch kommen sie nicht recht zur Ruhe. Rudi gehen die unzähligen Süßigkeiten schwer im Magen herum.
Lieschen fängt zu wimmern an, weil sie sich statt der vielen Stofftiere nach dem lebendigen Meerschweinchen sehnt. Auch Felix ergreift die Wehmut. Beim Einschlummern wünscht er sich wieder einmal selbst gebackene Plätzchen und duftende Bratäpfel essen zu können.
Und Rudi denkt an das tägliche Fußballspiel mit seinen Freunden im Park. Im Traum sieht er plötzlich etliche Paare von Nikolausstiefeln im Gleichschritt auf sich zulaufen. Ihnen folgen Nussknacker, die gierig ihre Mäuler auf- und zuklappen. Gespenstisch kommt in Gestalt einer kopflosen Schaufensterpuppe der Herr Kaufrausch angelaufen. Er schiebt Kisten und Körbe voller Spielsachen heran, türmt sie um die Betten herum auf, bis sie schwanken und auf die Kinder einzustürzen drohen. Hoch oben im Kaufhaus hält der Pleitegeier nach Leseratten und Bücherwürmern Ausschau. All diese sonderbaren Wesen gieren anscheinend nach der nächsten Konsumwelle. Doch als diese anrollt und schon die erste Etage des Kaufhauses überschwemmt, rüttelt jemand kräftig an den Betten der Kinder.

„Aufstehen oder ich ruf’ die Polizei“, wettert eine Verkäuferin.
Die Kinder laufen noch schlaftrunken durch das grelle Licht. Sie haben lange geschlafen, inzwischen ist Weihnachten vorüber. Die Verkäufer beginnen schon die Weihnachts- gegen die Osterdekoration auszutauschen. Bevor sich ein großer Osterhase an sie heranschleichen kann, um ihnen zuckersüße Leckereien aufzudrängeln, erreichen die Kinder glücklicherweise den Ausgang des Kaufparadieses und laufen befreit hinaus.

Doch die Kunden und auch das Verkaufspersonal werden die Tage nach Weihnachten nicht so schnell vergessen, denn im Kaufparadies war einiges durcheinander geraten: Aus Sonderangeboten von 9,99 waren noch günstigere von -0,99 geworden, Auf statt 30 Prozent, gab es auf einmal auf alles 300 Prozent Rabatt. Wütende Kunden ärgerten sich über Senf im Konfitürenregal oder Kernseife am Käsestand. In Jacken-, Hemden- und Hosentaschen wurden noch Wochen später angeknabberte Marzipan- und Lebkuchenherzen entdeckt.

Doch Rudi, Felix und Lieschen fielen nicht wieder so schnell auf den Kaufrausch und seine Verlockungen herein.

 

Hallo RolandGebert,

ich will beide Seiten deiner Geschichte aufzeigen, die, welche mich ansprachen und die, die mir nicht so gut gefallen haben:

Pros: -Du hast die Charaktere der Kinder in diesem simplen, in sich geschlossenen Szenario gut charakterisiert. Sie fühlen sich beim Lesen tatsächlich wie wirkliche Kinder an. Das kriegen viele andere Autoren nicht hin und dezimieren sie auf nur wenige Aspekte.

-Dein Schreibstil ist, will ich sagen, "solide", man stößt sich an keinen geschwollenen oder zu ungeschickten/ plumpen Formulierungen. Diese Konstanz ist für solch eine Sorte von Erzählung gut geeignet.

Contras: - Wie man dem Titel und diversen Formulierungen deinem Text entnehmen kann, soll er eine Kritik an der Konsumgesellschaft und dem Kapitalismus sein, oder? Nur leider kommt das in all den Sätzen, in denen du dies nicht erwähnst, auch nicht rüber; durch diese unvoreingenommene Sicht der Kinder hätte das ganze eine originelle Sichtweise auf unsere heutige Gesellschaft ergeben können, aber es wird ja zu keiner Kritik.

Die Kinder haben, im Gegenteil, eine tolle und spaßige Nacht und schlafen dann (so gut wie) seelenruhig ein, lediglich geplagt von verschiedenen Verlangen und Sehnsüchten, die Kinder durchgehend heimsuchen.

Aus dem letzten Satz interpretiere ich, dass du diese Nacht als eine Art Kur darstellen wolltest, durch die den Kindern durch das Maximum an Konsum und Freiheit des Besitzens die Lust am Kauf und Besitz ausgetrieben wird, was aber, wie schon erwähnt, leider nicht wirklich funktioniert. Deshalb hat die Geschichte auch kein wirksames Setup und keine wirkliche Konklusion, sie steht einfach als kurzweiliges, lustiges Ereignis im Raum.

Nombreux

 

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