Das Netz
Das Metall ist kalt auf der Haut. Mit silbernem, breitem Klebeband, dessen Stücke sie mit den Zähnen abtrennt, bindet sie sich die Waffe, einen glänzenden Revolver, an ihr rechtes Bein, knapp überhalb des Knöchels.
Es ist recht kalt draußen, neblig. Eiskristalle hängen in den Spinnennetzen zwischen den Bäumen. Martha und ihre Freundin stehen am äußersten Rand des Parkplatzes, ein paar hundert Meter von der Konzerthalle entfernt.
In die Halle reinzukommen ist lächerlich leicht, Sicherheitskontrollen nicht existent. Die Luft ist feierlich in dem riesigen Gebäude, überall sind Menschen in bedruckten T-Shirts und langen Mänteln. Mehr Männer als Mädchen.
Martha überprüft, ob sie ihren Ausweis dabei hat, damit man später weiß wer sie ist.
Nachdem die Musik eingesetzt hat, wird sie noch genau drei Worte sagen und danach willentlich nie wieder etwas.
Sie schaut ihre schwarzaugige Freundin an und sagt:
- Dies ist die letzte Konsequenz. Die Welt ist ein Netz. Es gibt keine Zufälle und alles hängt zusammen, wird von unsichtbaren Fäden zusammengehalten. Das ist alles auf diesen Moment zugelaufen. Diesen einzigen, perfekten Moment.
Martha legt ihre Arme auf das Geländer und stützt den Kopf darauf.
Wartet.
Wartet.
Wartet.
Der Lärm wird immer schlimmer.
- Er ist hier, ich kann ihn wittern.
Die Masse explodiert.
Tausende Leiber springen auf und schreien, strecken Gliedmaße von sich, brüllen, Augen und Münder weit aufgerissen. Unten im Innenraum, wo Martha ganz vorne steht, drängt alles zur Bühne, in jedem einzelnen entflammt die Hitze, Schweiß bricht aus, nach vorne, weiter, nur ein paar Zentimeter. Lungen werden zusammenge-
drückt, Luft bleibt aus, Füße werden zertrampelt, manche Menschen stehen ohne jeden Bodenkontakt eingekeilt zwischen den anderen.
Ein Mädchen in der ersten Reihe weint.
Martha hebt den Kopf.
Da steht Er. Groß und völlig in schwarze Stoffe gehüllt, Sein Kopf ist eine riesige weiße Zielscheibe, die Lichteffekte überziehen ihn mit einem Netz. Seine Hände recken sich hoch, die eine weiß, die andere rot, von Geburt an entstellt mit einem Feuermal. Oder auch Teufelsmal.
Martha atmet die selbe Luft wie Er. In den Gerüchen um sie ist auch Er, die Wäre ist zu einem sehr kleinen Teil Seine Körperwärme. Nächtelang hat sie nur Sein Atmen gehört, nicht die Musik, nur Seinen Lidschlag gesehen, der das Schönste an Ihm ist, gesehen, nicht Sein Gesicht. Sie hat Seine Stimme erkannt. Die Stimme, die sie seit ihrer Kindheit verfolgt, aus einem ausgestöpselten Radio erklang, aus dem Mund eines Tieres, aus den Wänden selbst, in ihren Kopf eindrang und sie in ihre Träume verfolgte. Es war Seine. Nur hat Martha sie schon vernommen, als er noch gar nicht sang.
Er ist nicht Teil ihrer Seele, wie sie lange glaubte.
Jetzt steht Er vor ihr. Riesige schwarze Flügel mit schweren schwarzen Federn spreizen sich ab von Ihm und schließen sich, stehen jetzt in klassischer Position hinter Ihm. Verankert in Seinen Schulterblättern. Sie glänzen dunkel, annullieren das Nichts. Seidig.
Er ist ihr Dämon, ihr Monster vom Himmel, ihr gefallener Engel, Luzifer, Satanel, der Schönste von ihnen allen, der Strahlende, oh Morgenstern ...
Sie schreit seinen Namen und dann, leise:
- It’s me
Das Abreißen des Klebebandes hört niemand.