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Das Nichtaufwachen

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09.06.2015
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Das Nichtaufwachen

Stillschweigend saß sie am Rande einer Sitzbank. Langsam und scheinbar immer im gleichen Abstand zueinander schritten schwarzgekleidete Menschen an ihr vorbei. Es glich beinah’ einem Tanz, bei dem sich alle an eine unausgesprochene Choreographie hielten. Einige hielten sich ein Taschentuch unter die Augen, andere nahmen ihre Frauen in den Arm und wieder andere folgten mit versteinertem Gesicht und gestrafften Schultern der Karawane von trauernden Gästen. Wie viele davon haben ihren Vater wirklich gekannt und welche waren hier, weil es einfach dem gesellschaftlichen Anstand entsprach? Sie hielt nicht viel von diesen Leuten. Sie waren hier, weil sie ihren Vater durch eine kurze Begegnung oder aufgrund eines Geschäftsessens kannten. Wenige davon wussten wirklich wer er war.
Es kam ihr vor wie ein makabres Puppenspiel, bei dem ihr selbst der Pastor wie von Fäden gezogen fehl am Platze erschien, obwohl er doch der einzige sein müsste, der einem in solchen Momenten als richtig vorkam. All diese Bewegungen; hundertmal hatte er sie schon vollzogen. Hundertmal hatte er beteuert, was für ein Verlust es wäre und wie früh er von uns genommen wurde. Hundertmal. Wie bei hundert anderen Beerdigungen. Und nicht zu einem einzigen Zeitpunkt, nein, nicht ein einziges mal, wusste er je wovon er da wirklich redete. Er war niemals persönlich involviert.
Mit einstudierten Gesten stellten sich die Trauergäste, nun wahrhaftig betroffen oder nicht, vor den Sarg und verschwanden nach einigen Sekunden wieder. Sie jedoch rührte sich nicht. Selbst als die kleine Kapelle, die sich am Rande des Friedhofs befand, leer war, blieb sie noch einige Minuten sitzen. Der Sommer war dieses Jahr sehr schwül und ließ ihr kaum eine Sekunde bevor die erdrückende Hitze schwer auf ihr lastete und sie kaum atmen ließ. Die großen jahrzehntealten Mauern schützten sie davor. Sie kühlten.
Bisher hatte sie es nie geschafft nach vorne an den Sarg zu treten. Warum auch? Sie fand, Menschen sollte man lebendig in Erinnerung behalten. Wie sie das letzte Mal gelacht haben. Wie sie zum letzten Mal rot angelaufen sind, weil ihnen jemand ein Kompliment gemacht hatte. Sie wollte solche Erinnerungen nicht mit einem Gedanken an eine kalte graue wachsähnliche Figur austauschen, die nichts über die Person aussagte, die sie früher einmal gewesen war. Denn alles andere schien ihr gar selbstzerstörerisch.
Sie konnte hören, wie sich die Leute draußen leise unterhielten und der Reihe nach, brav einer nach dem anderen, an ihrer Familie vorbeizogen, und ihr ihr tiefstes Beileid aussprachen. Nur noch wenige Sekunden würde sie für sich selbst haben. Jeden Moment würde einer von ihnen nur einen kleinen Schritt hereintreten und sagen, sie möge hinaus zu den anderen Gästen kommen. So als ob sie dazugehören würde. Als ob sie nicht diejenige wäre, die es am schwersten getroffen hatte.
Die üblichen Floskeln wie „Du bist so tapfer.“, oder „Ich weiß, es ist schwer, aber das Leben geht weiter!“ wollte sie nicht hören; zu wenig waren die Aussprechenden sich der wahren Bedeutung ihrer Worte bewusst, als dass sie sie hätte ernst nehmen können. Sie wollte sich nicht zusammenreißen müssen, um auch nur ansatzweise dazu in der Lage zu sein anderen Leuten gegenüberzutreten. Selbst wenn sie könnte, sie wollte nicht tapfer sein; sich lieber in sich selbst zurückziehen und sich vor der Außenwelt verschließen, ihre eigene kleine Insel sein. Doch dann hörte sie Schritte auf sich zukommen, aber umdrehen konnte sie sich nicht. Wie in Trance und dennoch mental anwesend, starrte sie mit rasendem Herzen weiter auf das Bild, das vor dem Sarg stand, umrahmt von einer goldenen Fassung. Als plötzlich eine Hand ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen. Ihr Körper verkrampfte sich, jeder einzelne Muskel spannte sich an und für eine Sekunde stockte ihr der Atem. Es dauerte einen Moment, bis sie sich von dem Bild abwenden konnte und ihrem Bruder ins Gesicht schaute. Wie immer fand sie seinen tröstenden Blick wieder und fühlte sich gleich wieder sicherer. So als würde der scheinbar schwindende Boden unter ihren Füßen wieder ein Stück zusammenwachsen. Er musste nicht aussprechen, dass es Zeit war sich der Realität außerhalb dieses Gemäuers zu stellen. Sie wusste es auch so.
Die Sonne, die durch die großen offenen Tore schien, blendete sie, als sie sich langsam, aber bestimmt zu ihr drehte und trotz der vielen Menschen draußen, auf die sie langsam zuging, war das Einzige, was sie hören konnte der gleichbleibende Rhythmus ihrer Schritte, deren monoton dämpfendes Klappern sich bis in alle Ecken der Kapelle ausbreitete, bis das ganze Gebäude von diesem Geräusch erfüllt war. Es war ihr als betrat sie eine andere Welt, als sie plötzlich von einer Hitzewelle erfasst wurde und es sich beinahe wie ein Schlag ins Gesicht anfühlte. Ihre Augen brauchten eine Weile bis sie sich an das gleißende Licht gewöhnt hatten, das in einem so markanten Kontrast zum schwachen Schein der Kapelle stand. So als ob sie sich auf der Schnittstelle zwischen Himmel und Hölle befand.
Zuerst wurden nur ein paar Leute auf sie aufmerksam. Die, die nicht wussten, wer sie war, drehten sich weg und widmeten sich wieder ihren Gesprächen, was ihr einmal mehr bewies wie wenig Selbstanteilnahme manche Menschen hier empfanden.
Andere, die sie wiedererkannten, kamen jedoch auf sie zu. Wollten sie in den Arm nehmen und ihre Hand schütteln, Mut zusprechen. Was man eben so tat, wenn man der Meinung war helfen zu können oder es gar zu müssen. Mit jeder weiteren Person, die sich ihren Weg zu ihr durch bahnte, begann ihr Herz schneller zu schlagen, bis man es wahrscheinlich durch ihr schwarzes Kleid hätte sehen müssen, würde man darauf achten. Ein Schleier aus Tränen vernebelte ihren Blick, sie konnte nichts mehr ausmachen, nichts erkennen und die Stimmen, die auf sie einredeten nicht mehr zuordnen. Mehr denn je schien die Hitze sie erbarmungslos zu Boden zu drücken, bis sie ihr nicht mehr standhalten konnte. Jemand umarmte sie, doch bevor sie sich entschuldigen, geschweige denn erkennen konnte um wen es sich handelte, riss sie sich los und rannte Richtung Parkplatz. Die Stimmen, die hinter ihr ertönten, klangen erst wie lästiges Gemurmel, das irgendwann zu einem Rauschen überging und plötzlich ganz verstummte und nur noch das Knirschen ihrer Schritte zu hören war.
Vorbei an alten Grabsteinen und Kieswegen, kleinen Brunnen und Denkmälern hastete sie zum Ausgang. Die Hitze spürte sie jetzt nicht mehr und erst als sie ihr Auto erreicht hatte und mit keuchendem Atem daran hinab rutschte, wurde ihr bewusst, wie sich immer mehr Schweißperlen auf ihrer Stirn sammelten und dann langsam an ihrer Wange hinunterglitten. Ob sie immer noch weinte, oder ob es wirklich nur der Schweiß war, war ihr nicht vollends bewusst, als sie mit stotternden Bewegungen nach dem Autoschlüssel in ihrer Tasche wühlte und schließlich die Fahrerseite aufschloss. Schwer ließ sie sich in den Sitz fallen und legte ihren Kopf in den Nacken. Eine Weile verharrte sie in dieser Position. Die Beerdigung, die sie Hals über Kopf hinter sich gelassen hatte, wirkte nur noch wie eine langsam verblassende Erinnerung. Sie fragte sich wie ihr Vater wohl in solch einer Situation reagiert hätte. Wäre er stärker als sie gewesen? Mit einem ruckartigen Kopfschütteln zerschlug sich der Gedanke. Langsam kam die Klimaanlage in Gang und kühlte den nassen Schweiß auf ihrem Hals. Als sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, öffnete sie die Augen. Es fühlte sich an wie eine schlaflose Nacht, die sie soeben durchlaufen hatte. Als ob sie ein paar Minuten bräuchte, um über einen Alptraum hinwegzukommen. Nur dass der Alptraum sie bis in die Realität verfolgte. Es war das Nichtaufwachen können, das einen Traum zu einem Alptraum werden lässt.
Die Knochen taten ihr weh und fühlten sich an wie Blei, während sie zitternd den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn umdrehte. Der Motor des alten roten Kombis hustete und sprang schließlich mit einem knatternden Keuchen an. Schnell befand sie sich auf einer Landstraße. Um sich herum nur das blühende Leben. Farbenfrohe Blumen, riesige grüne Flächen, soweit ihr Auge reichte, die schließlich an ein kleines Waldstück grenzten. Was für eine Ironie, schoss ihr durch den Kopf. Sie wandte ihren Blick ab und konzentrierte sich auf den Asphalt. Straßenschilder glitten an ihr vorbei, doch sie beachtete sie nicht. Sie wollte nicht wissen, wohin sie fuhr. Die Hauptsache war, dass sie sich mit jedem Schild ein Stück weiter von der kleinen trauernden Gruppe, der Kapelle und dem Friedhof entfernte. Irgendwie immer weiter ein Stück von der grausamen Wahrheit entfernt, die sie für ihr restliches Leben hinter sich lassen wollte. Und mit jedem weiteren Meter spürte sie wie die Last langsam von ihr abbröckelte...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola Becci,
willkommen bei uns! Du bist ja schon mittendrin in den Schreibaktivitäten, wie ich Deinem Profil entnehme. Aber das gelegentlich von Dir verwendete Semikolon hätte es eh’ verraten.
Dein Stil ist anspruchsvoll und gut formuliert – da merkt man die Routine. Auch der Aufbau ist logisch, als Leser komme ich gut rein. Den weiteren Verlauf empfand ich schleppend, verzögert. Viele Details, viele präzise Beobachtungen, ich trat ziemlich auf der Stelle. Die wenigen, sich aber verstärkenden Andeutungen bis zur ‚grausamen Gewalt’ brachten mich zu der Vermutung, dass der Vater sich an ihr vergangen habe.
Ich hoffe, dass die Leser durchhalten bis zum Schluss und nicht vorher abspringen, aber ich freue mich, dass ich Deine Geschichte gelesen habe. Am Ende habe ich als Leser das Gefühl, eine sehr gut gemachte KG gelesen zu haben! Vielen Dank.
Aber damit die Schreibwerkstatt nicht zu kurz kommt, hier noch ein paar Kleinigkeiten:

Wenige davon wussten wirklich Komma wer er war.

... bei dem ihr selbst der Pastor wie von Fäden gezogen fehl am Platze erschien, ...
Es ist klar, was Du meinst, doch diese Formulierung ist nicht sehr glücklich.
obwohl er doch der einzige sein müsste, der einem in solchen Momenten als richtig vorkam.
Auch hier gibt’s sicherlich bessere Möglichkeiten.
, ... nicht ein einziges mal,
... einziges Mal, ...
Der Sommer war dieses Jahr sehr schwül und ließ ihr kaum eine Sekunde K bevor die erdrückende Hitze schwer auf ihr lastete und sie kaum atmen ließ.
Liest sich merkwürdig.

Bisher hatte sie es nie geschafft K nach vorne an den Sarg zu treten.
Denn alles andere schien ihr gar selbstzerstörerisch.
Im Nachhinein dämmerts.

in der Lage zu sein K anderen Leuten gegenüberzutreten.
dass es Zeit war K sich der Realität außerhalb dieses Gemäuers zu stellen.
Es war ihr K als betrat (betrete) sie eine andere Welt,
... brauchten eine Weile K bis sie sich
einmal mehr bewies K wie wenig Selbstanteilnahme
Selbstanteilnahme braucht die erste Silbe nicht.

... man der Meinung war K helfen zu können ...
zu ihr durch bahnte,
Etwas unelegant.

erkennen konnte K um wen es sich handelte, ...

langsam an ihrer Wange hinunterglitten.
Nur an einer?

mit stotternden Bewegungen
Sprache kann stottern, oder Motoren.

Sie fragte sich K wie ihr Vater wohl ...

Es fühlte sich an wie eine schlaflose Nacht, die sie soeben durchlaufen hatte.
Das hat einen technischen Beigeschmack.

Langsam kam die Klimaanlage in Gang
Dazu müsste der Motor schon laufen, aber sie startet ihn erst später:
während sie zitternd den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn umdrehte. Der Motor des alten roten Kombis hustete und sprang schließlich mit einem knatternden Keuchen an.

Und mit jedem weiteren Meter spürte sie K wie die Last langsam von ihr abbröckelte...

Den Ärger mit den Kommas kannst Du reduzieren, indem Du Dir die Regeln zum ‚Infinitiv mit zu’ und zur Trennung von Haupt- und Nebensatz anschaust.
Aber das nur am Rande.
Becci, es hat mich gefreut!
José

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Hola Becci,
ich schon wieder!
Einige Stunden nach dem Einstellen meines Kommentars sehe ich mit ziemlicher Verwunderung den Tag 'Satire' über Deiner Geschichte.
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Besonders, weil ich glaubte, sie (wenigstens einigermaßen) verstanden zu haben.
Bitte mach mich schlau, denn ich tappe im Dunklen.

José

 

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