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Dein Mensch? - Mein Drache
Völlig durchnässt schaute Amira durch dichte, dunkle Wimpern auf ihre zitternden Hände. Sie ließ den Blick schweifen, doch dieser Ort war ihr fremd. Sie stand mit dem Rücken zu einem dicht bewachsenen Regenwald, vor ihr lag ein trüber und über den See hinaus konnte sie gerade noch eine verschwommene Bergkette in der Ferne erkennen. Das Platschen der dicken Regentropfen auf die Blätter kam ihr ohrenbetäubend vor in der ansonsten unnatürlichen Stille. Was mache ich hier bloß? Natürlich, sie musste geschlafwandelt sein.
Amira war schon häufig in der Morgendämmerung aufgewacht. Nicht etwa schlafend in ihrem Bett, nein, in letzter Zeit stand sie immer häufiger in einem Zimmer ihrer Hütte. Mal in der Küche, mal in der Stube, doch nicht einmal in ihrem Schlafzimmer. Doch bisher war sie nie außerhalb ihrer Hütte aufgewacht, geschweige denn außerhalb ihres Dorfes.
Auf etlichen Streifzügen durch die Natur hatte sie Wald und Felder erkundet. Manchmal war sie noch vor Sonnenaufgang losgezogen und erst wieder zurückgekehrt, als es bereits dunkel wurde und der Hunger sie heimtrieb. Doch diesen See hatte sie noch nie gesehen.
Immer noch zitternd und völlig verwirrt ergriff sie plötzlich ein starker Drang. Ein Drang, der keinen Sinn zu haben schien, sie aber tief im Herzen packte und unnachgiebig zog. Ein wildes Brüllen formte sich in ihrem Kopf, das genauso schnell verebbte, wie es gekommen war. Etwas ruft mich ...
Zögerlich schritt sie dem See entgegen und hinterließ dabei Abdrücke nackter Füße im Schlamm. Sie konnte kaum schwimmen, doch sie musste, musste es so schnell wie möglich erreichen und das bedeutete für sie, den direkten Weg durch den See, in Richtung Berge, zu nehmen.
Ihr ganzer Körper war bereits taub von dem ungewöhnlich starken Regen, was ihr nun sehr gelegen kam, als sie in das Wasser eintauchte. Es umspülte sie eiskalt. Ihr nachtschwarzes, hüftlanges Haar trieb dabei wie Seide über die Oberfläche.
Amira schwamm wie besessen. Zwang ihre steifen Glieder zu jedem weiteren Zug. Konnte kaum noch atmen, so durchgefroren war sie bereits. Als sie wieder Boden unter die Füße bekam, wusste sie nicht mehr genau, wie sie es bis hierhin geschafft hatte, aber es war auch egal, denn sie hatte es geschafft. Auf allen Vieren kroch sie aus dem See heraus, versuchte verzweifelt, sich aufzurichten, doch sie hatte keine Chance. Als hätte sich die Erdanziehungskraft vervielfacht, wurde sie nun gnadenlos hinabgezogen und konnte sich nicht dagegen wehren. Tränen stiegen ihr in die Augen, als ihr die Gewissheit kam, dass sie es niemals zu den Bergen schaffen würde und mit letzter Kraft schleppte sie sich bis zum ersten Hügel.
Langsam versank alles um sie herum in Dunkelheit …
Das Erste, was ihr beim Erwachen auffiel, war, dass dieser unerbittliche Drang verschwunden war. Sie seufzte vor Erleichterung. Es war ein Seufzen, das ein Mensch ausstößt, der sich gerade noch in den Schutz einer Höhle retten kann, bevor ihn die hungrigen Wölfe einholen.
Und dann spürte sie den warmen Sonnenschein auf dem Gesicht, neckend, als ob er sie auffordern wollte, über saftig grüne Wiesen zu rennen, zu hüpfen und zu lachen. Doch jeder Winkel ihres Körpers schmerzte und schrie ihr zu, sie solle doch gefälligst liegen bleiben und schlafen. Oder noch besser, sterben. Ihr Kopf hämmerte. Gerade als sie diesem Bedürfnis nachgeben wollte, hörte sie ein leises Atmen neben sich.
Langsam öffnete sie ihre Lider und blickte direkt in flüssiges Gold. Mit einem Klicken, rastete Etwas in ihr ein. Er hatte dieses dringliche Bedürfnis in ihr ausgelöst.
Die lodernden Augen gaben ihr die Kraft, ihre Hand auszustrecken und sie sanft auf eine schuppige Schnauze zu legen. Das Wesen zuckte sofort zurück, sodass Amiras Sicht auf den kompletten, massiven Kopf frei wurde. Staunend öffnete sie den Mund. Der Kopf gehörte einem wunderschönen, rubinroten Drachen, dessen Schuppen in der Sonne funkelten. Goldene Schwingen, goldene Hörner und goldene Krallen, die bei jeder noch so kleinen Bewegung blitzen und kräftige Muskeln, die geschmeidig unter den Schuppen hin und her glitten.
„Wer bist du?“, hörte sie sich krächzend fragen.
Doch der Drache antwortete ihr nicht. Schaute sie nur mit schief gelegtem Kopf an und schnupperte kurz an ihr.
„Du bist wunderschön …“, entschlüpfte es ihren Lippen.
Da stieß der Drache ein Geräusch aus, das sie nur als abfälliges Schnauben interpretieren konnte.
Donnernd durchfuhr sie der tiefe Bariton seiner Stimme: „Nicht gerade ein Kompliment, das einem männlichen und uralten Wesen angemessen wäre. Wenn du das nächste Mal einen meiner Art triffst, versuch es damit: In deinen Augen sieht man die unendliche Weisheit und Macht des wilden Ozeans. Oder: Du musst schon viele schreckliche Gegner mit deiner erbarmungslosen Kraft erlegt haben!“
Na toll, ein eingebildeter Drache, dachte Amira bei sich. Sie begann wieder zu zittern und ihr Magen knurrte laut.
„Was für Bedürfnisse hast du, Mensch?“, fragte der Drache sie kühl.
Amira verdrehte die Augen, was zum Teufel hat mich nur zu ihm gedrängt?
„Mir ist kalt und ich habe Hunger. Am liebsten hätte ich Honigbananen“, antwortete sie mürrisch und etwas quengelnd, sodass es sich wie 'Honigbanaaanen' anhörte.
Da wäre sie auf dem Weg zu ihm fast erfroren und er schien sie als Störfaktor zu empfinden.
Der Drache ging unbeeindruckt von ihrer plötzlich schlechten Laune zu einem verdorrten Busch ganz in ihrer Nähe und ließ kleine, blaue Flammen aus seinem Maul züngeln, bis der Busch lichterloh brannte.
„Wärme dich nun, Mensch. Ich werde dir Nahrung besorgen und dich dann zu deinem Rudel zurückbringen“
Er breitet seine unglaublichen Schwingen aus, stieß sich kraftvoll vom Boden ab und flog mit rauschenden Flügelschlägen davon. Seufzend begab sich Amira zum Feuer und legte sich erschöpft schlafen.
Als Amira zum dritten Mal an diesem Tag die Augen öffnete, stürzte sie sich sofort auf das Fleisch, das zum Braten über dem Feuer hing. Erst als die ersten Bissen in ihrem Magen gelandet waren, schaute sie, was sie da überhaupt aß. Der Drache hatte ein Stück Fleisch (ja, welches war das überhaupt?) auf einen Stock gespießt. Ich frage wohl besser nicht nach …
„Ich heiße übrigens Amira und es wäre nett, wenn du mich auch so nennen würdest“, sagte sie trotzig und fragte dann etwas versöhnlicher, „Wie heißt du?“
„Ich nenne dich bei dem, was du bist, Mensch und du musst meinen Namen nicht kennen. Unsere Wege werden sich bald wieder trennen“, war seine Antwort.
Danach schwieg er und ignorierte Amiras Versuch, ein Gespräch zu beginnen.
Schweigend aß Amira ihr Fleisch weiter und betrachtete dabei den See, der nun glitzernd und ruhig im Sonnenlicht lag. Es hätte ein schöner Tag sein können. Die Luft war angenehm, nun da Amira wieder Gefühl im Körper hatte, und geschwängert von Wald und Wiese und Wildblumen. Das Gras kitzelte sie im sanft wehenden Wind.
Als sie den letzten, faden Happen hinuntergeschluckt hatte, wollte sie sich zurück in die Wiese legen, doch ihr Körper stand von allein auf und bewegte sich auf den Drachen zu. Wie eine Marionette kletterte sie an seinem Vorderbein hinauf und setzte sich zwischen seine Flügel.
„Warst du das?“ Sie riss entsetzt die Augen auf.
„Natürlich war ich das, schließlich bist du mein Mensch.“
Als ob das eine Erklärung war. Doch sie konnte nicht weiter nachhaken. Mit einem Ruck erhoben sie sich in die Luft und hinterließen dabei tiefe Krallenfurchen.
Immer höher flogen sie. Die Luft war hier kühler und erst jetzt bemerkte die junge Frau die harten Schuppen, die an ihren nackten Oberschenkeln kratzten, und dann schossen sie nach vorne. Sie flogen so schnell, dass ihr langes, noch feuchtes Haar Amira senkrecht vom Hinterkopf abstand. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen, aber auch die reine Freude in ihr Herz. Ein Lachen drang ihr von der Brust in den Hals und sie konnte es einfach nicht zurückhalten. Dieses euphorische, pure Lachen klang ihr immer noch aus der Kehle, als sie in ihrem Dorf landeten. Und er sie zwang, abzusteigen …
„Ich habe mich nie nach einem Menschen gesehnt und deswegen werde ich mein Leben auch wie bisher weiterführen. Genau wie du.“
Damit wendete sich der Drache ab und flog wieder davon, als hätte es diese Begegnung nie gegeben.
Unter den Augen der Dorfbewohner brach etwas in Amira.
„Nein“, erst ein leises Flüstern, „NEIN!“
Mit ihrem gellenden Aufschrei lief Amira los. Rannte so schnell ihre Beine sie trugen hinter ihrem Drachen her. Tränen liefen ihr unaufhaltsam die Wangen herunter. Mit jedem Flügelschlag, den sich der Drache weiter von ihr entfernte, wuchs der Schmerz in ihrer Brust, bis sie es nicht mehr aushielt und ihre Beine unter ihr nachgaben. Schluchzend krümmte sie sich auf dem Waldboden zusammen. Als ihr die Farben vor den Augen zu verschwimmen begannen, hörte sie sein Brüllen. Schmerz und Wut vermischten sich zu einem markerschütternden Schrei, der den Boden erzittern ließ.
Einen Wimpernschlag später krachte alles um Amira herum zusammen. Holzsplitter flogen knapp an ihrem Gesicht vorbei und sie blickte auf den Drachen, der nur einen Steinwurf von ihr entfernt auf der Seite liegen blieb. Ein Tropfen Blut landete auf ihrem Unterarm. Amira rappelte sich halb auf und kroch auf ihn zu.
„Es ist zu spät, unsere Seelen sind längst miteinander verbunden. Der Schmerz würde uns umbringen Amira“, flüsterte der Drache, mehr zu sich selbst, als zu ihr. Seine Stimme war kaum mehr als ein Rumpeln.
„Ich weiß“, antwortete Amira lächelnd, „aber ich bleibe gerne bei dir. Meine Seele wusste schließlich, dass sie zu dir gehört. Aber wieso wolltest du fort von mir? Du musst doch auch gespürt haben, dass dich etwas zu mir zieht.“
Ein kleines Lachen entfuhr ihm: „Amira ihr Menschen erzählt euch in euren Sagen und Legenden von Drachenreitern. Sie bezwingen einen Drachen, zähmen oder befreunden sich sogar mit“, wieder dieses Lachen, „Doch das ist falsch. Irgendwann wird für jeden Drachen eine verwandte, menschliche Seele geboren. Also ja, ich wusste, dass es dich gibt und das sogar schon seit deiner Geburt. Auf deinen Streifzügen war ich immer in deiner Nähe, habe dich sogar in meinen Träumen verfolgt, ich kenne dich genauso gut, wie du dich selbst.“
Während Amira sanft über seine Schnauze streichelte, legte der Drache seinen Kopf in ihren Schoß.
„Aber das verstehe ich nicht. Warum wolltest du mich dann verlassen?“
Enttäuschung stand in ihre großen, haselnussbraunen Augen geschrieben. Ein Seufzen voller Kummer entfuhr dem Drachen. Es klang tausend Jahre alt.
„Wie mir von anderen meiner Art erklärt wurde, stehen uns nun die schönsten Jahre unseres Lebens bevor. Aber dein Kommen bedeutet auch meinen Tod. Wenn du stirbst, sterbe auch ich. Aber ich lebe gerne, deshalb habe ich versucht, mich von dir zu trennen, bevor es zu spät ist.“
Er hob den Kopf und drückte ihn gegen Amiras Stirn.
Ein Drachenkuss, dachte sie überrascht und dann begann ihre Haut zu prickeln. Ausgehend von ihrer Stirn durchfuhr es sie wie Feuer, aber es schmerzte nicht. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung auf ihrem Arm. Langsam breiteten sich fantastische Verschnörkelungen über ihre Arme, Hände und letztendlich auch über ihre Beine aus. Sie waren rubinrot, genau die Farbe seiner Schuppen.
„Aber lieber lebe ich nur noch einen Augenblick mit dir, als die Unendlichkeit der Erde ohne dich“, damit rappelte er sich auf, ließ sie auf seinen Rücken klettern und flog dem wolkenlosen Himmel entgegen.