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Der Ägypter
Er hatte den Motor nicht gehört, die Erschütterung nicht gespürt, den Lufthauch nicht bemerkt: Die große, dunkle Limousine war an Hans vorübergeglitten, als wäre sie ein Teil der Sommernacht. Wie eine metallische Fledermaus war sie an ihm vorbeigeschwebt, und Hans konnte den Fahrer nur Bruchteile von Sekunden sehen. Doch dieser Moment tauchte ein paar Sekunden später wieder auf, ein wenig matt, ein wenig verzerrt, wie hinter dickem Eis. Das Bild des Fahrers wurde langsam klarer, ein sonnengebräunter Mann mit dunklem Kraushaar, schweren Falten auf der Stirn, einer mächtigen Nase, mit massigen Gesichtszügen wie bei einem Ägypter. Dieser Ägypterkopf hatte einen ungewöhnlichen Gesichtsausdruck gehabt, als er in seinem rollenden Palast fast geräuschlos vorübergeglitten war.
Die Gesichter der meisten Autofahrer, die Hans täglich im Berufsverkehr sah, waren leer, doch bei dem Ägypter hatte sich die Oberlippe über das Zahnfleisch zurückgezogen wie bei einer Mumie, die oberen Scheidezähne standen frei, und die Unterlippe bildete einen nach oben gerichteten Bogen. Etwas Bestialisches spiegelte sich in diesem Gesicht. Etwas Bestialisches, was dieser Mann gesehen hatte, musste auf ihn abgefärbt haben.
Hans wurde aus seinen Phantasien geweckt, als sein Blick unversehens auf den Mond fiel, der sich, ohne dass Hans es bisher bemerkt hatte, zwischen den Tannenwipfeln zeigte. Obwohl der Himmel noch nicht ganz schwarz war, tauchte die blasse Scheibe das Tal in eine seltsame Atmosphäre. Der Mond zeigt eine schauerliche Schlucht: Dieser Satz fiel ihm ein. Wo hatte er das gelesen? Schauerliche Schlucht - Wolfsschlucht. Ja, das war aus dem Textbuch, das er gestern auf dem Flohmarkt entdeckt hatte. Freischütz. Dort hatte das in einer Regieanweisung gestanden. Der Mond zeigt eine schauerliche Schlucht.
Auf einmal lagen ihm seltsame Worte auf der Zunge: Gebein, Gevatter, Finsternis, Todesmut, Besessenheit, Riesenfaust, Teufelsfratze. Hans bemühte sich, einen Zaun gegen diese Sprache zu errichten, hinter dem er sicher war - sicher vor den dunklen Versuchungen, den verfemten Worten aus der Wolfsschluchtoper.
Was war bloß mit ihm? Er hatte einen dunkelblauen Audi A6 oder A8 gesehen, das neue Modell, wenn er es richtig gesehen hatte, und mit Ingolstädter Kennzeichen. Ein fabrikneuer Audi aus Ingolstadt mit einem Ägypter am Steuer. Mehr nicht. Alles andere waren Hirngespinste. Ein Audi-Kunde aus dem nahen Osten vielleicht, dem man für einen Ausflug einen Testwagen gegeben hatte. Kann sein, er wollte Autos für die ägyptische Regierung bestellen. Und das Grinsen? Nur das Produkt aus einem Zwölfzylinder mit Sechsgangschaltung und einem PS-geilen, schlichten Gemüt.
Hans zog die Schulterriemen seines Rucksacks fester. Es lag sicher an seiner Müdigkeit, an den Strapazen der langen Wanderung, die ihn heute vom Parkplatz in steilem Anstieg auf den Bergrücken gebracht hatte und dann, bergauf, bergab, immer den Kamm entlang, bis zum Abstieg brachte. Nun musste er die lange Straße zurück zum Auto gehen. All das steckte nun in seinen Knochen.
Seine Uhr zeigte genau einundzwanzig Uhr neun, die Hüfte schmerzte leicht, um einundzwanzig Uhr neun, kein Wunder nach dreizehnstündiger Wanderung, was hatte er heute alles gesehen, erlebt, gerochen, vom kühlen Morgen über den Mittagsschweiß bis zum warmen Abendlicht, wie oft hatte er einen leichten Schwindel gespürt, wenn er auf spärlich gesichertem Steig in die Tiefe geblickt hatte, eine Freundin hatte ihm einst gesagt, sie fürchte nichts so sehr wie diese Tiefblicke, nicht weil ihr schwindlig davon werde, sondern weil sie Angst habe zu springen. Ja, es gab solche Stellen, an denen die Tiefe einen hinabzusaugen schien, man konnte den Blick davon nicht wenden, und wenn es einen noch so grauste. Einmal hatte Hans sogar den linken Fuß gehoben, an so einer Stelle, er hatte über die Schuhspitze in die Tiefe gepeilt, hinab auf einen zackigen Grat, Hunderte von Metern unter ihm ...
Hans schreckte aus seinen Erinnerungen auf. Zwischen den Tannen rechts, da zuckte es gelb – da wieder, ein Licht, dann zwei, dann wieder weg. Seltsam: Hatte er sich das eingebildet? Halt, da war es wieder. Zwischen den Baumstämmen, die Hans nun in der dunkler werdenden Abendluft kaum mehr voneinander unterscheiden konnte, in dieser dickflüssigen Suppe des Waldes verschwanden die Konturen. Er blieb stehen und suchte, vor- und zurücktappend mit den schweren Bergstiefeln, eine Stelle, an der er die Lichter deutlich sehen konnte. Sie bewegten sich nicht mehr von der Stelle, aber unruhig blieben sie, ein Zucken war in ihnen. Sie flackerten wohl zweihundert Meter von ihm entfernt, rechts im Wald, weit abseits der Straße. Mit Sicherheit war das kein elektrisches Licht, auch keine Taschenlampen, sondern die wackelnden, zuckelnden Flammen von Fackeln.
Er ging weiter auf der Straße und kam nach kurzer Zeit an eine Stelle, wo ein Trampelpfad in den Wald hinein führte, nach rechts, ungefähr dorthin, wo die Fackeln brannten. Hans hielt inne und überlegte.
Dann schüttelte er den Kopf über sich. Der Umweg brachte nichts, so oder so. Seine Hüfte tat ihm weh. Er ging weiter und ersparte sich den Umweg, einen unnötigen Umweg, auch wenn es nur ein paar hundert Meter waren, er war müde, hundemüde. Für Hans ging es darum, den Wagen zu erreichen, er hatte wohl noch eine halbe Stunde zu gehen, das war weit genug. Außerdem: Was ging es ihn schon an, was die dort bei den Fackeln trieben.
Hans wischte über sein Gesicht, als wollte er die Flausen vertreiben, blieb stehen, zögerte noch kurz und drehte um. Er bog in den Waldweg ein. Er wollte wissen, was dort im Dunklen vor sich ging.
Immer langsamer und vorsichtiger ging er, je näher er den Lichtern kam, er bemühte sich, kein Geräusch zu machen, wenn er die schweren Stiefel auf den Boden setzte, einen nach dem anderen, so leise wie nur irgend möglich. Jetzt um Gottes Willen nicht auf einen trockenen Ast treten, dachte er, das würde ein scharfes Geräusch geben, ihn vorzeitig verraten.
Nur noch eine Biegung trennte ihn von den Lichtern. Hans pirschte sich vorsichtig heran und trat hinter einen dicken Baum. Langsam, Stückchen für Stückchen schob er seine Wange an der Rinde entlang und lugte um den Stamm herum.
Im Licht von sechs Fackeln, die im weiten Rund im Waldboden steckten und eine kaum bewachsene Fläche von etwa fünfzehn Metern Durchmesser erhellten, sah Hans eine seltsame Versammlung. Das unruhige Licht der Fackeln zeigte unter einer dunkel aufragenden Felswand, die direkt an die Lichtung stieß, vielleicht zwanzig Leute, alle in schwarze Umhänge gehüllt, die von ihren Schultern herabfielen wie bei einem Musketier.
Sie standen still, nur ein Murmeln war zu hören, wie von Mönchen, die aus ihren Schriftrollen lesen. Ihre Köpfe waren in eine Richtung gewandt, sie sahen auf eine Stelle, die sich links von Hans' Standpunkt befand, auf einen Fleck nahe der Felswand, und dort lag, zwischen zwei recht weit auseinandersteckenden Fackeln, ein länglicher, eckiger Gegenstand auf dem Boden, der von einer Decke verhüllt war.
Erinnerungen stiegen in Hans auf; er musste an ein Erlebnis denken, das wohl fast zwanzig Jahre zurücklag. Selten war er so erschrocken wie damals, als er im Kino gesessen hatte, vielleicht sechzehn oder achtzehn war er gewesen, er hatte sich in die Polster des Kinosessels verkrallt, als der kranke, schwitzende und schreiende Astronaut sich vor Schmerzen krümmte, als alles auf seinen schmerzgepeinigten, zuckenden Körper blickte: Gleich musste das Scheusal in seinem Bauch die Haut durchstoßen und seine grässliche Fratze zeigen, gleich musste das Monster hervorbrechen.
Vielleicht kam diese Erinnerung jetzt, weil die Anwesenden offenbar gespannt auf etwas warteten, etwas, was von dem rechteckigen Gegenstand dort ausgehen würde. Genauso hatten die Astronauten im Film gewartet, als sich das Hervorbrechen des Monsters aus dem Bauch des infizierten Astronauten andeutete: dieselbe gespannte Stille, dasselbe hirnlose Starren, dasselbe atemlose Warten.
Dann hielt Hans es nicht länger aus. Er machte abrupt kehrt und bewegte sich so schnell nur irgend möglich rückwärts, dann drehte er sich um, ging den Weg zurück, rasch von der Stelle weg.
Er hatte schon zwei oder drei Wegbiegungen hinter sich gebracht, da fiel ihm ein, was er damals im Kino getan hatte, als das Monster aus dem Astronauten herauswollte: Er war abrupt aufgestanden und hatte das Kino fluchtartig verlassen, und in dem Moment, wo er durch den Ausgang gegangen war, hatte er den Aufschrei der Zuschauer durch die sich schließende Tür gehört, den Aufschrei der Publikums, der sich mit dem Geräusch der aufreißenden Haut des Astronauten gemischt hatte.
Nur das jetzt nicht, schoss es Hans durch den Kopf, nur nicht noch einmal dieses Geräusch, aber er hörte nichts als seinen eigenen Atem, das viel zu laute Geräusch, das die Gummisohlen seiner Stiefel auf dem Waldboden machten und die laute Stille um ihn herum.
Je weiter er kam, desto ruhiger wurde er, die Panik ließ nach, er ging nun langsamer. Er war froh, kein Monster gesehen zu haben, froh, noch einmal heil davon gekommen zu sein, und er war schon wieder ganz bei sich, als er noch auf dem Waldweg auf eine Weggabelung stieß, die ihm auf dem Herweg nicht aufgefallen war. Welcher von den beiden Wegen führte zur Straße zurück? Der linke oder der rechte?
Er hatte keine Lust, sich in diesem Wald zu verirren, und womöglich plötzlich wieder auf die Versammlung zu stoßen, vor der er eben weggelaufen war. Aber die Straße konnte nicht mehr weit sein, und die beiden Wege führten fast in dieselbe Richtung. Keiner von den beiden Wegen konnte ganz falsch sein und so entschloss sich Hans für den rechten Weg, nahm sich aber vor, keine Biegung zu akzeptieren, sondern in diesem Fall lieber wieder umzukehren und den anderen Weg einzuschlagen.
Er nahm also den rechten Weg und erblickte schon nach Kurzem das Licht einer einzelnen Fackel. Vorsichtig ging Hans weiter und befand sich bald auf einem gekiesten Wegstück. Das hatte es auf dem Herweg nicht gegeben, er war also den falschen Weg gegangen. Aber er konnte nun schon die Straße sehen, so dass er beruhigt war. Plötzlich stand er neben der Fackel, die wohl ein Baum verdeckt hatte. An ihren Schaft war auf der zur Straße zeigenden Seite ein Pappschild getackert: "Religiöse Zeremonie" stand darauf in dicker schwarzer Schreibschrift. "Bitte nicht stören. Griechisch-orthodoxe Kirche, Murnau."
Hans atmete auf. Es war nichts Geheimnisvolles, nichts Schreckliches dort hinten im Wald, nur eine stille Zeremonie, ein paar christliche Mystiker. Erleichtert ging Hans weiter, trat aus dem Wald hinaus auf einen Parkplatz. Etwa ein Dutzend Autos stand dort, eines dicht neben dem anderen. Hans zwängte sich zwischen den Autoreihen hindurch und hatte fast die Straße erreicht, als er den Audi wiedererkannte, den Audi, den er vorher auf der Landstraße gesehen hatte. So löst sich also alles in Wohlgefallen auf, dachte Hans, der Ägypter war nur ein Grieche auf dem Weg zu dieser frommen Versammlung. Als seine müden Füße endlich wieder die feste Straße unter sich fühlten, hatte er den Schrecken hinter sich gelassen.
Zwanzig Minuten später erreichte er sein Auto, öffnete seufzend vor Erleichterung die Tür und hörte im selben Moment einen Schrei hinter sich, aus der Ferne, aus der Tiefe des Waldes, den Schrei eines Menschen oder eines Tieres, und mit einem Mal musste Hans wieder an das panisch-brutale Grinsen im Gesicht des Ägypters im Audi denken: Halb Mensch, halb Tier.
Börsenwörter: Sommernacht, Sechsgangschaltung, Schweben, Palast, Textbuch