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Der Angler
Jacob stieg umständlich von seinem Fahrrad und stellte es an einen Baum.
Das Rad war ziemlich voll beladen, also glich sein Vorhaben einem kleinen Balanceakt, bis es sicher stand und nicht wieder umkippte.
Eimer, Kescher, Spaten, zwei Ruten, Taschenkoffer, Klappsitz, Provianttasche. Alles, was Jacob für den heutigen Angeltag benötigte.
„Kruzitürken!“, schimpfte er lauthals über seine eigene Ungeschicklichkeit.
Er schnaufte, was durchaus berechtigt war, wenn man sein Alter und vor allem sein Gewicht bedachte.
Seine faltigen Hände griffen nach dem Spaten und rammten ihn in den weichen Wiesenboden. Er begann daran zu wackeln und es dauerte gar nicht lange, bis die ersten Würmer durch die Bewegung des Bodens an die Oberfläche kamen. Der alte Mann sammelte sie ein und verfrachtete sie in ein Einwegglas, das mit ein bisschen frischer Erde füllt war.
Die ganze Prozedur wiederholte er an mehreren Stellen, bis er genug Würmer zusammen hatte.
„Schöne fette Würmer für viele kapitale Fische“, freute sich Jacob und rieb seine Hände an der speckigen Hose ab.
Er verstaute das Glas und den Spaten, nahm sein Fahrrad und stieg umständlich auf.
Zwei bis drei Kilometer radelte er über Feld- und Bauernwege, bis er den toten Arm erreichte. Der tote Arm war ein Abzweig des Flusses, der sich einige Kilometer durch die Landschaft schlängelte und dann irgendwo aufhörte. Hier gab es die größten Fische und nur wenig Strömung.
Der alte Jacob hatte seinen bevorzugten Angelplatz erreicht, ein baumloses Uferstück mit niedrigem Gras, das bis ins Wasser reichte.
Er parkte sein Rad, nahm Klappsitz, Provianttasche, Taschenkoffer und die beiden Angelruten herunter. Nachdem er seinen Platz eingerichtet hatte, nahm er ein Zigarrenetui aus seiner grünen Weste und zündete sich eine Zigarre an. Er blies den Rauch aus und beobachtete die Wasseroberfläche und den Uferbereich. So versank er in den Geräuschen der Natur. Das leise Plätschern des Wassers, wenn irgendwo Blasen aufstiegen. Oder das Zirpen der Grillen im niedrigen Reigras. Hier hatte er schon manchen Tag gesessen und auch einige kapitale Fische an Land gezogen.
Jacob musste husten, weil ihm Rauch in die Nase drang.
Ja, er angelte gern. Zeit hatte er als Rentner ja wahrlich genug. Und das Angeln war im Laufe der Jahre zu seinem liebsten Hobby geworden.
„Was ist noch langweiliger als zu angeln?“, hatte ein Kollege ihn mal gefragt.
„Anderen beim Angeln zuzuschauen!“
Jacob konnte darüber nur schmunzeln. Sollten sie doch reden, ihm war das egal.
Die Nähe zur Natur war ihm sowieso wichtiger als der Umgang mit anderen Menschen.
Er ging zu seiner Provianttasche um die Dose mit den Hustenpastillen heraus zu fischen.
Dabei wäre er um ein Haar gestürzt, nur weil er nicht mehr an die im Gras versteckte Wurzel gedacht hatte.
Das hätte ihm noch gefehlt. Ins Wasser gestürzt und abgesoffen! Wo die Zeitungen sowieso schon voll sind von Geschichten, von nicht zurück gekehrten Anglern und Fischern.
Jacob griff sich jetzt eine Angelrute und fischte umständlich einen großen Wurm aus dem Einwegglas. Als er ihn gerade auf den Haken spießen wollte, fing der Wurm zu reden an.
„Bitte lass mich doch wieder frei!“
Der alte Mann dachte zuerst, er hätte sich verhört. Konnte das sein? Das Würmer plötzlich sprechen konnten?
Andererseits, es gab doch ganz andere Dinge hier auf Erden, von denen sich unsere Schulweisheit nie träumen lassen würde. Warum nicht auch sprechende Würmer? Er nahm es einfach gelassen hin.
„Warum sollte ich dich wieder frei lassen? Wo du doch so einen hervorragenden Köder abgibst?“
„Ich bin dereinst verzaubert worden, durch eine böse Macht. Wenn du mich freilässt, werde ich wieder zurück verwandelt und kann dir drei Wünsche erfüllen!“
Jacob überlegte, was er machen sollte. Er kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Das glaube ich dir nicht! Dann erfülle dir doch selber deinen Wunsch und verzaubere dich zurück in das, was du vorher warst.“
„Oh. Du tust mir unrecht. Ich kann nur bei anderen Wunder wirken, nicht an mir selbst. So funktioniert der Zauber nun mal nicht. Also lass mich doch bitte wieder frei!“
Jacob wusste nicht genau, was er machen sollte. Er traute dem Wurm nicht. Vielleicht sollte er ihn auf die Probe stellen?
„Also gut. Wenn du es schaffst, mir drei Fische zu besorgen, dann will ich dich wieder freilassen.“
Ohne die Antwort des Wurms abzuwarten, spießte er ihn auf den Haken und warf die Angel aus. Einige Zeit lang dümpelte der Schwimmer ruhig auf der Wasseroberfläche. Dann tauchte er mehrmals kurz unter, bis Jacob die Angel anschlug.
Er holte sie wieder ein und merkte gleich, das ein Fisch angebissen hatte. Eine kleine Brasse.
Als er diese vom Haken genommen hatte, wirkte der Wurm schon etwas ramponiert.
„Bitte, lass mich doch frei! Ich will dir jeden Wunsch erfüllen.“
Doch Jacob konnte dem Wurm nicht trauen.
„Denk’ an die Abmachung. Noch zwei Fische, die du mir anlocken sollst. Dann lass ich dich wieder frei. Aber diesmal sollte der Fisch schon etwas größer sein!“
Er warf die Angel wieder aus. Und wieder dauerte es gar nicht lange, bis der Schwimmer unter Wasser gezogen wurde. Der alte Mann holte die Angel ein, diesmal bereitete ihm das schon erheblich mehr Mühe. Ein großer Karpfen hatte angebissen.
Als auch der zweite Fisch im Kescher lag, wirkte der Wurm schon sehr ramponiert. Das hintere Ende war sogar abgerissen.
„Frei. Lass mich jetzt frei. Ich kann nicht mehr“, winselte der Wurm.
Doch Jacob konnte ihm immer noch nicht trauen.
„Nein, einmal wirst du schon noch aushalten können.“
Die Brasse und der Karpfen wanden sich im Kescher.
„Der zweite Fisch war schon groß, aber jetzt musst du wirklich einen großen Brocken anlocken, damit ich dich freilasse!“
Der alte Mann warf die Angel wieder aus. Nach kurzer Zeit wurde der Schwimmer kräftig unter Wasser gerissen. Jacob versuchte die Angel einzuholen, musste aber lange Zeit mit dem Fisch kämpfen, bis er es schaffte, ihn an Land zu ziehen. Es war ein kapitaler Hecht, fast einen Meter lang.
Der Wurm war jetzt dermaßen ramponiert, das er an vielen Stellen eingerissen war und der Hinterleib fehlte zur Hälfte.
„Lass mich jetzt frei!“, stammelte er.
Jakob sah ein, das er sein Versprechen halten musste. Der Wurm hatte seine Probe bestanden. Er hatte sein Vertrauen mehr als verdient.
Der alte Mann machte den Wurm von Haken und setzte ihn ins Gras.
„So entlasse ich dich dann.“
Jakob legte die Angel zur Seite und wollte jetzt wissen, ob der Wurm sein Versprechen hielt und ihm seine Wünsche erfüllte.
Der aber wuchs plötzlich ins Riesenhafte. Seine Verwandlung ging schnell und geräuschlos vonstatten. Binnen weniger Sekunden lag ein riesiger Waller, auch Wels genannt, vor Jakob im Gras. Der fast drei Meter große Fisch drehte sich herum zu ihm.
„Ich mochte Angler noch nie leiden, und ganz besonders nicht dich!“, sagte er gefühlskalt und verschlang den alten Mann mit mehreren schnappenden Bissen.
Dann schlängelte er sich zum Wasser und ließ sich hineinplumpsen.
Kurze Zeit später wirkte der Fluss wieder ruhig und friedlich.