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Der Anruf
Alice war nicht überrascht, als ihr Handy klingelte. Es war ja nicht das erste Mal. Sie geriet nicht mehr in Panik, rannte nicht mehr in die Notaufnahme und machte Ärzte und Pflegepersonal nicht mehr mit ihren Fragen verrückt. Sie hörte aufmerksam zu (Sie musste nicht mehr fragen, in welches Spital sie gebracht worden war., sie wusste aus Erfahrung, dass die 144 einen in Zürich immer ins Unispital brachte.) Seufzend erhob sich Alice vom Sofa, auf dem sie sich nach einem langen Tag im Büro endlich hingesetzt und sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte.
Ihr Beruf als Anwaltsassistentin langweilte sie zu Tode. Gescheiterte Existenzen zu ihrer Scheidungsgeschichte zu interviewen, empfand sie als Zumutung, genauso wie die Tatsache, dass sie Michael jeden Tag sehen musste. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr nicht absichtlich diese Fälle zuschanzte. Nach zwei Jahren hatten sie es aufgegeben. Also er. Er mochte nicht mehr zweite Geige spielen, sondern wolle ein normales Leben führen, verreisen und eine Partnerin haben, die frei war. Freier als Alice.
War es ein Klischee, sich vorzustellen, man wäre ein Vogel? Vogelfrei? Niemand sagte «Frei wie ein Maulwurf.» Oder ein Krokodil. Obwohl in Alices Augen alle Tiere frei waren. Freier als die meisten Menschen auf jeden Fall. Sie beneidete die Nachbarskatze, die tagaus, tagein auf dem Sessel auf dem Balkon lag und ab und zu reinging, um zu essen oder zu kacken. Gab es überhaupt freie Menschen? War nicht jeder gefangen in Konventionen, Erwartungen, Job, Miete bezahlen, Familie, Verpflichtungen?
Alice schaute sich im Flur im Spiegel an. Sie sah müde aus, abgekämpft. Alt für ihr Alter. Ihre Falten waren abends immer tiefer als morgens, das Make-up war leicht verschmiert, ihre mausbraunen Haare könnten wiedermal einen Schnitt vertragen. Langsam zog sie Stiefel und Mantel wieder an, nahm ihre grosse Handtasche vom Haken, schloss die Wohnungstür hinter sich zu und stieg schwerfällig die Treppe hinunter. Draussen nieselte es noch immer, nasse Blätter lagen auf dem glänzenden Parkplatz. Sie setzte sich in ihren alten Polo, starrte auf den nassen Parkplatz und schloss die Augen. Tief atmete sie den warmen, vom kürzlich gefallenen Regen dampfenden Asphalt ein. Wieso erinnerte sie dieser Geruch immer an ihre Kindheit? Als habe es damals nur Sommertage mit abendlichen Regenfällen gegeben. Schnee oder Wind erinnerten sie nie an ihre Kindheit. Nur Sonne und Regen, erst heiss, dann nass.
Ihre jungen Nachbarn kamen gerade nach Hause, mit Sack und Pack, hievten ihre schlafenden Kinder aus dem Rücksitz. Das Paar hatte es eilig, sie hielten die Kleinen ganz eng an sich geschmiegt, während sie zum Hauseingang ihres grauen Mehrfamilienhaues aus den Siebzigern hasteten. Alice seufzte. Ihr Magen zog sich für einen kurzen Moment zusammen. Sie hatte schon lange umziehen wollen, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, ihre enge Zweizimmerwohnung zu verlassen. Sie wusste ja nicht mal, wo sie lieber wohnen würde. Sie empfand einen nagenden Neid gegenüber diesen jungen Menschen, die wussten, wo sie hingehörten. Die sich umeinander kümmerten.
Kümmern musste sie sich zwar auch. Aber nicht freiwillig. Und nur einseitig. Sie konnte nicht mal mehr sagen, ob sie sich um Rosi wirklich Sorgen machte. Wenn sie ehrlich war, fuhr sie ausschliesslich aus dem immer gleichen schlechten Gewissen heraus zum Krankenhaus. Dieser Kieselstein, den sie seit ihrer Kindheit im Schuh hatte. Wie damals, als die Zigeuner sie an der Strandpromenade um Geld für ihre hungernden Kinder anbettelten. Sie wusste, es ist ein abgekartetes Spiel und dennoch gab sie ihnen Geld. Um ihr Gewissen zu beruhigen, um für ein paar Stunden nicht mehr über die Weltsituation und hungernde Kinder nachdenken zu müssen. Um ihre Ruhe zu haben.
Auch ihre Psychologin war dieser Meinung gewesen: «Sie tragen zu viel Verantwortung für Ihre Mutter.» No shit, Sherlock! Sie war damals 20 gewesen und war danach nie wieder hingegangen. Denn was hätte sie tun sollen? Ihre Mutter alleine lassen, ihrem Schicksal übergeben? Sie wusste selber, dass sie nicht helfen konnte, dass es theoretisch nicht ihre Aufgabe war, Rosi immer wieder wachzurütteln, über die Kloschüssel zu halten oder im schlimmsten Fall eben in die Notaufnahme zu fahren. Was wäre denn die Alternative gewesen? Hatte es je eine gegeben? Wie wäre ihr Leben wohl dann verlaufen?
Sie fuhr auf geradem Weg zum Unispital, nicht besonders schnell, sie hatte es nicht eilig. Es war praktisch, dass die Strasse von Schwamendingen zum Krankenhaus praktisch immer geradeaus ging. Als sie im ankam, wies man sie in ein Zimmer, dessen Storen runtergelassen waren. Alice konnte sich nur mit Mühe verkneifen, nicht rechtsum kehrt zu machen, der beissende Krankenhausgeruch bescherte ihr jedes Mal Herzrasen, ihr war leicht übel. Ihre Mutter lag in einem blendend weissen Bett, die strähnigen Haare klebten an ihrem Kopf, ihr Mund war leicht geöffnet, sie schlief. Ihre Wangen waren eingefallen und die Haut wirkte zerknittert und glänzte, wie das Papier, das der Metzger zum einwickeln der Steaks benutzte.
Alice war froh, noch etwas Zeit für sich zu haben, sie hätte sowieso nicht gewusst, was sie sagen soll. Nicht schon wieder. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, zog ihren Mantel nicht aus. Wenn ihre Mutter in 10 Minuten noch schliefe, würde sie wieder nach Hause fahren, sagte sie sich und riss an ihren Nagelhäutchen. Sie hatte schon zu viele Nächte am Krankenhausbett von Rosi verbracht.
Alice war sechs, als ihr Vater nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie hatte damals nicht gewusst, dass es Menschen gab, die man anrufen konnte, wenn jemand am Boden lag und nicht mehr antwortete. Als sie ihre Mutter im Schlafzimmer neben dem ungemachten Bett vorfand, dachte sie erst, sie schliefe, aber als sie nicht aufwachen wollte, begann Alice fürchterlich zu weinen. Sie schrie sich die Angst aus dem Leib und war gleichzeitig wie erstarrt auf den Knien sitzen geblieben. Sie heulte so laut, dass die Nachbarin irgendwann rüberkam, um sich zu beschweren. Und hatte dann die Ambulanz gerufen. Seither wusste Alice, was eine Notrufnummer war und musste die Nachbarin nie wieder mit ihrem Heulen belästigen.
Ab diesem Tag ging sie nicht mehr gerne in die Schule. Sie wollte nur noch den Unterricht möglichst schnell hinter sich bringen, damit sie nach Hause konnte. An normalen Tagen kam sie nach Hause, ihre Mutter hatte gekocht und sie assen zusammen. An den müden Tagen – wie Alex diese insgeheim nannte – lag ihre Mutter im Bett. Meist schlief sie nur. Bis sie dann wiedermal im Wohnzimmer oder im Bad lag und ihr Zustand kein normaler Schlaf war. Alice entwickelte ein sicheres Gespür dafür, wann sie die Ambulanz anrufen musste und wann sie es selber regeln konnte. Selber regeln hiess: starken Kaffee machen, Rosi Wasser einflössen, manchmal die Haare halten, wenn sie kotzen musste.
Mit den Jahren war es zu einer Routine geworden. Nachdem sie ausgezogen war – eine Entscheidung, für die sie zwei Jahre gebraucht hatte – ging sie je nach Laune ihrer Mutter fast täglich bei ihr vorbei, um zu sehen, ob alles «normal» war. Das war es zwar nie, aber solange sie atmete, war es Alice normal genug.
Rosi stöhnte im Schlaf. Ihre eingefallenen Wangen bliesen sich bei jedem Atemzug leicht auf, sie schnarchte leise. Gesicht und Haare schienen farblos, Rosi schien durchsichtig. Aber nicht auf eine romantische Jane Austin Art, sondern eher, als würde sie langsam verschwinden, wie Rauch, der sich verflüchtigte. Zehn Minuten waren vergangen, seit Alice sich hingesetzt hatte. Sie stand auf und wollte das Zimmer verlassen, als ein bulliger Pfleger die Tür öffnete. «Schläft sie noch?», fragte er Alice und schwebte ins Zimmer. Für seine Körpermasse war er erstaunlich leichtfüssig unterwegs. Bevor Alice antworten konnte, hatte er sich selber vergewissert, dass Rosi noch schlief, kontrollierte ihre Infusion und die piepsenden Geräte.
«Was ist passiert?», fragte Alice, obwohl sie das natürlich längst wusste. In der Regel nahm ihre Mutter Tranquilizer mit Alkohol, wobei dieser variierte. Rosi hatte es schon mit Vodka, Tequila und Wein versucht. Auch die Tabletten waren nicht immer dieselben gewesen: Xanax, Valium, aber auch Betablocker hätten ihr schon mehrmals ins Jenseits verhelfen sollen. Doch jeder Versuch war bisher gescheitert. Unter anderem daran, dass Alice sie jeweils fand und die Ambulanz anrief. Jeder dieser Versuche entfernte sie etwas mehr von der Person, die sie einmal gewesen war. Von Alices Mutter. Mama.
«Sind Sie die Tochter?», fragte der Pfleger, wohl aus Pflichtgefühl. Suizid war immer ein heikles Thema, das konnte man nicht mit jeder Dahergelaufenen besprechen. «Ja, Alice Schneider.» stellte sich Alice vor. Der Pfleger nickte. «Ihre Mutter hat Ihren Namen genannt, nachdem wir ihren Magen ausgepumpt haben. Sie hat Schlaftabletten genommen, zusammen mit Vodka.» Aha. Er liess diese Aussage im Raum stehen, ging wohl davon aus, dass auch Alice wusste, dass das keine gesunde Kombination war. Entsprechend nickte sie nur. Ob er wusste, dass es nicht das erste Mal war? Das stand bestimmt in Rosis Krankenakte.
Früher hätte sie sich noch geschämt. Für ihre Mutter. Aber vor allem für sich. Hatte sich verantwortlich gefühlt. Schuldig. Offensichtlich hatte sie als Tochter versagt, warum sonst wollte ihre Mutter nicht mehr leben? Wenn schon nicht für sich selber, dann wenigstens für ihre Tochter?
Der Pfleger verschwand so leise, wie er gekommen war. Rosi öffnete die Augen und sah Alice direkt an. «Es tut mir leid», hauchte sie und schloss die Augen wieder. Alice wollte ihre Augen auch schliessen, sie war müde, so müde. Wie oft hatte sie diese Entschuldigung ihrer Mutter schon gehört? Zehn Mal? Zwanzig? Zum ersten Mal als Sechsjährige, als sie vollkommen aufgelöst neben ihrer Mutter gesessen hatte und auf die Ambulanz gewartet hatte. Und dann in unregelmässigen Abständen bis heute, kurz vor ihrem 46sten Geburtstag.
Wieso hasste ihre Mutter ihr Leben so? So schlecht konnte es doch nicht gewesen sein? Zumindest nicht in Alices Augen, wenn sie über das Unglück so vieler anderen Menschen nachdachte. Aber Rosi fand ihr Dasein offensichtlich unerträglich. Und Alice mittlerweile auch. Es gab keinen Moment in ihrem Leben, in dem sie keine Angst um ihre Mutter gehabt hatte, in dem sie sich frei gefühlt hatte. Immer war da Rosi im Hinterkopf. Rosi, die sie brauchte. Rosi, die traurig war. Rosi, die Migräne hatte, weshalb sie Alice mitten in der Nacht weckte, damit sie ihr eine Tablette brachte. Oder sie machte gerade sonst eine Krise durch und Alice musste da sein. Nicht weg gehen, bitte bleib bei mir, lass mich nicht alleine!
Mit 23 hatte Alice es gewagt, von zu Hause auszuziehen. Schon die Ankündigung ein paar Monate im Voraus hatte für ein unsägliches Drama gesorgt, worauf Alice das Thema nie wieder ansprach, bis zum Tag des Auszugs. Ein Freund war gekommen, um ihr zu helfen, ihr Kinderzimmer auszuräumen. Während dessen sass Rosi im Wohnzimmer und heulte Rotz und Wasser. «Wie kannst du mir das antun? Gerade jetzt?» Wobei Alice nicht genau wusste, wieso gerade jetzt schlechter war als vor zwei Monaten oder in einem Jahr. Es war nie der richtige Zeitpunkt. Danach hatte Rosi Alices neue Wohnung kein einziges Mal sehen wollen. Wenn Alice erwähnte, sie wolle in die Ferien fahren, fragte Rosi sie ängstlich «Wie lange?». Als ein Jahr später eine Wohnung in Rosis Siedlung frei wurde, zog Alice ein, obwohl ihr die Gegend in der Agglo überhaupt nicht gefiel.
Rosi war wieder eingeschlafen und Alice nahm die Gelegenheit wahr, um sich endlich aus dem Zimmer zu schleichen. Es war bereits nach acht, sie wollte nur noch nach Hause, endlich ihr Glas Wein fertig trinken und irgendeine Serie netflixen. Bevor man sie zurückrufen konnte, hastete sie zum Parkplatz, stieg in ihr Auto und fuhr nach Hause.
Sie hatte sich gerade die Schuhe ausgezogen, da klingelte ihr Handy. Sie erkannte die Nummer auf Anhieb. Sie liess es klingeln und schlurfte in ihr Schlafzimmer. Dort zerrte sie den Koffer vom obersten Regal ihres Kleiderschrankes herunter. Einen Rucksack mit Rädern. Den hatte sie sich vor ein paar Jahren besorgt, als sie eine Weltreise plante. Damals dachte Alice, jetzt könne sie es endlich wagen und für ein paar Monate ihr eigenes Leben leben. Bis ein Anruf gekommen war.