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Eine historische Kurzgeschichte, die sich in Costa Rica etwa um 1963 abspielt.
Der Behördengang
Der Einsiedler Pancho stand beim ersten Krähen der Hühner auf, trank seinen Kaffe und schwang bald nach dem letzten Schluck die Machete durch sein Zuckerrohrfeld. Die Halme schnitt er direkt über dem Boden ab und entfernte am oberen Ende das zuckerlose Laub. Er ackerte unermüdlich bis zur Dämmerung. Eine Verschnaufpause gönnte er sich nur, wenn er den Klingenschärfer aus der Schutzhülle herausholte, um die stumpfgewordene Machete wieder scharf wie eine Rasierklinge zuschleifen.
Ein Segeltuchhut schützte wie üblich seinen Kopf vor den heißen Sonnenstrahlen und hielt die Schweißtropfen aus seinem Gesicht. Die hochgekrempelten Ärmel legten seine braun gebrannten Arme frei. Er bemühte sich das ganze Feld bei Tagesende, fertig abzuernten.
Pancho hatte die Absicht am folgenden Tag nach der Landeshauptstadt San Jose, zu reisen und dort einen fällig gewordenen Behördengang zu erledigen.
Plötzlich hörte er das zischende Geraschel einer brütenden grüngelben Palmlanzenotter, er drosselte sofort sein Tempo. Beim Anblick der spiralförmig zwischen den Stängeln sich keilende Schlange erschauderte er. Er ließ das bedrohliche Kriechtier in Ruhe. Seine Furcht überwand er nur, weil er sich verpflichtet hatte, einen bestimmten Ertrag Zuckerrohr an die Genossenschaft zu liefern.
Zwischendurch packte er einen Stapel Zuckerrohr auf jede Seite seines Gauls und trug die zur Ladefläche der bereitstehenden Anhänger der Kooperative. Am Abend seufzte er zufrieden, seine fünf Hektar große Parzelle ganz allein abgeerntet zu haben. Pancho konnte sich keine Hilfskraft leisten; diese Arbeit führte er seit nun zehn Jahre aus. Im Laufe dieser Zeit stritt ihm niemand das Stück Land ab, das er sich in Osa Canton ausgesucht und eigenmächtig besetzt hatte, nachdem es ihm im Guarco Tal landwirtschaftlich zu eng vorkam.
Aufgrund dessen stand ihm nach dem zehnten Jahr das Recht zu, das Anwesen sein Eigen zu nennen und beim nationalen Grundbuchamt auf seinen Namen eintragen zu lassen. Er freute sich bei dieser Aussicht, für die er beharrlich die zehn Jahre ununterbrochen sich abgerackert hatte.
Es entzückte ihn auch die Möglichkeit, die Reise nach der Metropole San Jose endlich zu unternehmen. Er hatte so viel Lobendes über die Landeshauptstadt gehört.
Am folgenden Tag holte er sich vom Büro der Genossenschaft den Scheck für seinen Ertrag ab und marschierte gleich zur Bankfiliale, ihn einzulösen.
Die Warteschlange vor dem einzigen Bankschalter bewegte sich kriechend voran. Der Kassierer plauderte mit jedem Kunden über das Fußballspiel vom letzten Sonntag. Pancho sah sich genötigt, wegen des langsamen Kassierers, seine geplante Reise um einen Tag zu verschieben.
Am nächsten Tag beim Sonnenaufgang sprang er auf seinen Gaul. Mittags erreichte er die Pulperia San Martin, einen Tante-Emma-Laden, der auch als Bushaltestelle für die Linie nach der Provinzhauptstadt, Puntarenas diente. Den Gaul brachte er zur Pferdeweide, die zur selben Pulperia-Familie gehörte.
Zufrieden stellte er fest keine Warteschlange, vor der Bustreppe, obwohl er vermutet hatte.
Die Reisende waren in kleinen Grüppchen im Geschäft verstreut. Eine Gruppe besorgte sich Proviant zum Naschen auf der Fahrt, eine andere wedelte sich mit bloßen Händen frische Luft zu, die Schweißperlen rollten ihnen vom Gesicht herunter, ein Pärchen knabberte abwechselnd an einem Brötchen. Alle warteten aufmerksam auf den Hinweis zur Weiterfahrt.
Kurz darauf winkte der Busfahrer und alle drängten sich zum Bus. Wenn jemand Pancho grüßte, guckte er weg. Er setzte sich und stellte den Sack mit seinen Klamotten auf den Platz neben sich. Der Schaffner fragte: »Wohin geht die Reise?«, er murmelte »Puntarenas« und zahlte den vollen Fahrpreis.
Auf halber Strecke nach Puntarenas Stadt schien der aus den USA eingeführte gelbe School Bus nicht mehr manövrierfähig, nachdem ein Felsblock auf der Schotterstraße, ein Loch in einen vorderen Reifen gebohrt hatte. Die Fahrgäste gerieten in Schreck. Zum Glück gewann der Fahrer schnell wieder die Oberhand und hielt das Kraftfahrzeug an.
Die Stunden vergingen, bis ein kleiner Lkw aufkreuzte, hinter dem Steuerrad ein junger Borsche, seine Kleidung teilweise mit Schmierfett verschmiert; er lädt einen Ersatzreifen ab. Der Busfahrer wechselte den Reifen aus und der Bus fuhr weiter. Die Fahrgäste klatschten alle vor Freude.
Zu spät in Puntarenas angelangt, verpasste Pancho den letzten Bus nach San Jose.
Die Pensionen im Umkreis der Endstation waren alle belegt, es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf einer Parkbank zu übernachten. Bald darauf wurde er brüsk von einem Polizeiknüppel wachgerüttelt. »Der Park ist keine Schlafstätte für Pennbrüder« hörte er schroff. Er sei kein Pennbruder, entgegnete Pancho, er hätte bloß den letzten Bus nach San Jose verpasst, morgen steige er in den ersten Bus ein. Das spiele keine Rolle, im Park sei es verboten zu pennen.
Ermüdet latschte er zurück zur Busstation, gesellte sich zu anderen, die auf dem Bürgersteig saßen, und fing sofort an zu schnarchen.
Der erste Bus nach San Jose platzte aus allen Nähten. Dunkle Rauchschwaden schossen aus dem Auspuffrohr, als der Bus sich bergauf abmühte.
Wie aus dem Boden gewachsen erschien ein Uniformierter auf seiner jaulenden Harley Davidson. Er gab ein Zeichen zum Anhalten. Der Busfahrer überreichte ihm einen Geldschein und erhielt den Wink zum Weiterfahren.
In San Jose angelangt, suchte sich Pancho ein erschwingliches Gästehaus in der Nachbarschaft des Busbahnhofs. Er erkundigte sich bei der Empfangsdame, wie man zum nationalen Grundbuchamt gelangte. Das liege am anderen Ende der Stadt. Es sei günstiger, mit dem Bus zu fahren, allerdings sei das umständlicher, wenn man sich in der Großstadt nicht auskennt. Etwas teurer, aber bequemer wäre ein Taxi, erklärte sie weiter. Man müsse frühmorgens sich dorthin bemühen, angesichts der unendlichen Warteschlangen dort; jetzt wäre es also zwecklos, dahinzufahren, fügte die Empfangsdame mit einem verlockenden Blick hinzu.
Hundemüde, aber von Neugier erfüllt, da zum ersten Mal in der Landeshauptstadt war, entschloss er sich, eine Runde durch die benachbarten Straßen zu drehen.
Pancho schaute sich die piekfein bekleideten Passanten an, manche Herren kamen im Anzug und Schlips; er sehnte sich nach seinem Zuhause. Die festlich ausgeschmückten Ladenfenster lenkten ihn ab. Ahnungslos bummelte er mitten im Geschiebe, vorbei an Geschäften, bei denen ein Gedränge herrschte.
Er hielt am Schaufenster eines Papierladens an. Guckte sich die Vielzahl an Aktenmappen an. Er stellte sich vor, seine Besitzerurkunde in einem solchen Ordner unter seinem Arm heimzutragen. So wird mein Geburtstagsgeschenk aussehen, dachte er.
Hungrig betrat er eine winzige Gaststätte am Marktplatz und bestellte sich etwas zu essen, steckte die Hand in die Hosentasche und erstarrte. Er tastete alle Taschen ab. Sie waren alle leer. Da erinnerte er sich an den Kerl, der vor einem Schaufenster mit ihm zusammengeprallt war. Ohne das bestellte Gericht anzutasten, verließ er das Lokal unter einem bösen Blick des Wirtes. Zum Glück hatte er eine Handvoll Geldscheine im Pensionszimmer unter der Matratze versteckt.
Pancho legte sich schlafen, das ständige Stöhnen aus den benachbarten Zimmern ließ ihn die Augen nicht schließen. Das Zirpen der Heuschrecken war tausendmal angenehmer zu hören.
Am folgenden Morgen stieg er halbverschlafen in ein Taxi zum Grundbuchamt. Schon eine beachtliche Menge Menschen stand vor den Toren des Amtes. Beim Reinlassen wurden sie angewiesen, im Innenhof eine Reihe zu bilden. Gleich wand sich die Menschenreihe wie eine Schlange. Pancho fühlte sich nicht so rosig, zumal er seit zwei Tagen nichts gegessen hatte.
Gegen sechzehn Uhr war er am Schalter dran. Er übergab dem Bearbeiter seine Papiere, der nach schnellem Überfliegen ihm mitteilte, er sei beim verkehrten Amt. Seit drei Jahren gäbe es für sein Anliegen ein eigens dafür geschaffenes »Instituto de Tierras y Colonizacion«, ITCO genannt. Dieser Vorgang liege nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des nationalen Grundbuchamts.
Die neue Behörde unterhielte eine Außenstelle in jeder Provinz der Republik und sei ausgestattet, seine Angaben nachzuprüfen. Sie hätten die Aufgabe, die Parzelle für ihn zu vermessen und rechtlich abzugrenzen. Das habe wochenlang in sämtlichen Zeitungen des Landes gestanden.
Gesenkten Hauptes bestieg Pancho den Bus zurück nach Hause, die linke Hand tief in der Hosentasche. Er begrüßte jeden Fahrgast einzeln und lächelte betreten. Beim ersten leeren Platz fragte er: »ist der Sitz frei?« Der grauhaarige Befragte antwortete: »Wenn du dich jetzt hinsetzt und die Klappe hältst, ist er nicht mehr frei«.