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Der Besuch
Der Besuch
Anja kannte den Weg im Schlaf.
Vorbei an der Rezeption, den langen Flur entlang bis zum Fahrstuhl.
Dritter Stock, Zimmer 309.
Wie jedes Mal in den letzten Wochen verkrampfte sich ihr Magen, sobald sie das Krankenhaus betreten hatte. War es die Angst um ihn? Oder lag es an der typischen Luft, die das Haus durchflutete, ohne jemals zu entweichen ?
Anja hatte das Zimmer erreicht. Wie mochte es ihm heute gehen?
Halb geöffnete Augen, eingefallene Wangen, bleich, so furchtbar bleich. Die Hände ruhend auf seiner Brust, so als wäre er schon ...
Dieses Bild hatte sich in ihren Kopf festgesetzt, verfolgte sie in ihren Träumen.
Jeden Tag befürchtete sie, dass die Vision ihrer Angst Wirklichkeit werden würde.
Langsam öffnete sie die Tür. Sie versuchte zu lächeln und hoffte, dass es nicht zu verkrampft wirken würde. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie den Raum betrat. Es gab nur ein Bett in diesem Zimmer. Das Bett ihres Großvaters. Doch es war leer. Der Ständer, an dem bei ihrem letzten Besuch noch eine Infusionsflasche gehangen hatte, warf einen knochigen Schatten an die Wand. Das Kopfkissen lag auf dem Boden. Die Bettdecke zusammengeschoben am Fußende.
“Opi?” Anjas Sinne waren verwirrt. Sie wußte nicht ob sie Freude oder Schrecken empfinden sollte. Sie bemerkte die angelehnte Badezimmertür.
Er kann aufstehen, dachte sie, es geht ihm besser, oh Gott, ich danke dir.
Sie näherte sich der Tür. “Hallo Opi, ich bins!”
Doch kein noch so leises Geräusch drang aus dem Raum.
“Opi?” Anjas Herz bebte, als sie das Bad betrat. Nichts, er war nicht da. Verflogen war ihre Freude. Was war passiert?
Mit schnellen Schritten verließ sie das Krankenzimmer, schaute sich nach einer Schwester um. Nur wenige Meter entfernt öffnete sich die Fahrstuhltür. Anja hörte eine aufgeregte Männerstimme. Ein Rollstuhl wurde herausgeschoben. Zuerst sah sie die Straßenschuhe, Beine, gehüllt in blaugrün gestreifte Pyjamahosen. Ein dunkler Blazer, ein Hut auf dem Kopf ihres Großvaters. Zwei Pfleger redeten beruhigend auf den kleinen alten Mann ein.
“Ach hör doch auf, ich wollte nur meinem Besuch entgegen gehen.”
Mit einer heftigen Bewegung versuchte Anjas Großvater die Hand des Pflegers von seiner Schulter zu schütteln.
Anja schaute ungläubig auf die Szene. Eine Schwester kam angelaufen.
“Wir haben ihn gerade noch vor dem Ausgang abfangen können”, sagte einer der Pfleger. Die Schwester schenkte ihm kaum einen Blick. Besorgt und doch um Fassung ringend nahm sie das Handgelenk des Patienten und prüfte seinen Puls. “Herr Olefs, um Gottes Willen, Sie können doch nicht einfach..."
Der Rollstuhl war bei Anja angekommen.
“Natürlich kann ich”, unterbrach der alte Mann die Schwester. Ohne weiter auf ihre Ermahnungen zu achten, ergriff er Anjas Hand und zwinkerte ihr zu.
Anja durchströmte ein warmes Gefühl. Lächelnd beugte sie sich zu ihrem Großvater. “Du bist wunderbar”, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Anja musste draußen bleiben, während er zurück ins Zimmer gebracht wurde.
Sie hatte sich an die Wand gelehnt und schmunzelnd den Kopf geschüttelt.
Typisch Opi, er war schon immer ein liebenswerter Dickschädel gewesen. War er einmal von etwas überzeugt, konnte ihn niemand mehr davon abbringen.
Nur kurz huschte die Frage durch ihren Kopf, woher ihr Opi die Kraft genommen hatte, alleine nach unten zu gelangen. Und wem wollte er entgegen gehen? Obwohl Anja sich nicht erklären konnte, wodurch die Besserung seines Zustandes hervorgerufen wurde, hätte sie singen können vor Freude. Ein plötzliches Gefühl sagte ihr, er würde es schaffen, ihr Opi hatte den Willen, wieder gesund zu werden. Prostatakrebs muss ja nicht tödlich enden. Und, mein Gott, was sind denn heute schon achtundsiebzig Jahre?
Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich.
“Sie können jetzt zu ihm”, sagte die Schwester. Der vorwurfsvolle Ausdruck in ihren Augen belustigte Anja.
“Ich kann nichts dafür.” Sie versuchte der Schwester ein Lächeln abzuringen. Doch diese rauschte mit ausdrucksloser Miene an ihr vorbei.
“Dann eben nicht.” Achselzuckend betrat Anja das Krankenzimmer.
Ihr Großvater saß halb im Bett. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen glänzten. “Komm her, Kind, komm!”
Wie aufgekratzt er ist, der kleine Ausflug hat seine Lebensgeister geweckt, dachte Anja, als er ihre Hände nahm.
“Alles in Ordnung zu Hause, was machen die Kleinen, läuft das Geschäft?”
“Oh ja ...” Anja fehlten die Worte. Wie lange hatte er schon nicht mehr nach ihrer Familie gefragt. Doch bevor sie wirklich antworten konnte, sprach er weiter. “Gut, dass du da bist”, sagte er und seine Stimme senkte sich zu einem geheimnisvollen Flüstern. “Du musst etwas für mich tun, Onkel Josef und Tante Klara kommen gleich, wir wollen einen Ausflug machen.”
Anjas Herz überschlug sich.
“Bring mich an den komischen Leuten vorbei, die hier überall rumlaufen, ich weiß überhaupt nicht, was die hier wollen.” Eine Zornesfalte hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet.
Anjas Verstand weigerte sich zu begreifen.
“ Wieso wohnen die eigentlich hier?”, fragte ihr Großvater.
“Ich kann mich ja in meinem eigenen Haus nicht mehr frei bewegen. Die sollen ausziehen, aber sofort.”
Wie gelähmt starrte Anja ihn an.
“Aber Opi!” Ihr Mund wurde trocken, ihre Hände zitterten. Empörte Augen bohrten sich in ihre.
“Opi, du bist hier ..." sie räusperte sich ... "im Krankenhaus.”
“Unsinn, deine Oma liegt im Krankenhaus und da will ich hin, mit Onkel Josef und Tante Klara.” Er hatte Anjas Hände abrupt losgelassen, als wäre er böse über den vermeintlichen Blödsinn, den sie gerade von sich gegeben hatte.
Anjas Körper verkrampfte sich. Ihr war als würde die Welt über ihr zusammenbrechen. Der Funke Hoffnung, der noch vor wenigen Minuten ihre Seele beflügelt hatte, explodierte in ihrem Kopf und erlosch.
Was redete ihr Großvater da? Wieso glaubte er zu Hause zu sein? Wie kam er darauf, dass Onkel Josef und Tante Klara kommen würden? Bekam er neue Medikamente, die seine Wahrnehmung veränderte? Zwei Tage war ihr letzter Besuch her. Da hatte er schwach gewirkt, aber nicht verwirrt.
Vorsichtig berührte sie die Hand ihres Großvaters.
Mit gebrochener Stimme sagte sie: “Du kannst Omi nicht besuchen und Onkel Josef und Tante Klara können auch nicht kommen. Sie sind schon lange ...”
“Wir haben gestern zusammen Kaffe getrunken, sie waren hier bei mir und das lasse ich mir nicht ausreden.” Bockig drehte er seinen Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster. Anja folgte seinem Blick. Die Sonne war untergegangen und hatte am Ende des Horizonts ein in Rot und Gelb schimmerndes Wolkenband hinterlassen.
“Ach Opi”, Anja schluckte die aufkommenden Tränen hinunter.
Langsam fanden seine Augen zu ihr zurück. Wehmut klang in seiner Stimme, als er sagte: “Glaubst du wirklich, das ich phantasiere?”
Schweigend versanken ihre Blicke ineinander. Was sollte sie ihm sagen? Worte flogen durch ihren Kopf, doch sie liessen sich nicht ordnen.
Plötzlich veränderten sich seine Züge. Ein sanftes Lächeln hatte sich auf seine Lippen gezaubert. Er schaute an Anja vorbei. “Sie sind da”, unterbrach er die Stille.
“Wie bitte, wer ist da?” Anja erschauerte.
“Onkel Josef und Tante Klara, hinter dir.”
Anja glaubte, jemand würde ihr das Herz aus der Brust reißen. Sie schloss ihre Augen, widerstand der Versuchung über die Schulter zu blicken.
Nein, sie wollte nicht sehen was sie sehen könnte und doch nicht sehen würde.
Die kalte Hand ihres Großvaters schloss sich um ihre.
“Und nun zähl mit mir”, sagte er.
“Zählen, warum willst du zählen?” Anja wollte aufschreien, die Gespenster des Todes vertreiben. Sie wollte nicht akzeptieren, was gerade hier geschah. Doch das Bitten und der aufkommende Ausdruck von Freude in seinen Augen, legte einen magischen Mantel um ihre Seele. Im Gleichklang mit ihrem Großvater, formten ihre Lippen die Zahlen.
“Eins, zwei ... neununddreißig, vierzig ...
Sie sah die Veränderung in seinem Gesicht.
Neunundvierzig ... fünfzig ...
Die Bilder ihres Traumes wurden Wirklichkeit.
Sechsundsechzig ... siebenundsechzig.
Eingefallenen Wangen, bleich, so furchtbar bleich.
Dreiundsiebzig ... vierundsiebzig ...
Sie konnte nicht aufhören zu zählen.
Anjas Sinne öffneten sich. Leichtigkeit und Friede strömten ihr entgegen.
“Siebenundsiebzig ...”
Die Lider ihres Großvaters senkten sich. Der Druck seiner Hand wurde schwächer.
“Achtundsiebzig.”
Anja schluchzte auf.
Ein sanfter Hauch streifte ihr tränennasses Gesicht, als das Leben den Körper ihres Großvaters verließ.