Der Beweis
„Ich habe bewiesen, daß es Gott nicht gibt“, sagte der Wissenschaftler, der hinter seinem großen grauen Schreibtisch in seinem weichen grauen Polsterstuhl saß.
„Wie interessant“, sagte Gott und trat neugierig näher an die Arbeitsfäche. Er warf einen Blick auf Taschenrechner, Füller, Bleistift und Radiergummi, die aufgereiht wie mit einem Lineal auf der grauen Platte lagen. Daneben: ein sorgfältig ausgerichteter Stapel Papier, beschriftet mit winzigen, schwer leserlichen Reihen von Zeichen.
„Das sieht aus wie Mathematik.“
Der Wissenschaftler nickte, müde lächelnd. „Das ist es auch! Die höchste Mathematik, die man sich nur vorstellen kann. Die Sprache des Universums!“
„Aber“, sagte Gott, „irgend etwas kann damit doch nicht stimmen, oder?“
„Nicht stimmen?“ Der Wissenschaftler beugte sich in seinem grau gepolsterten Stuhl nach vorne und sah Gott zum ersten Mal direkt an. „Natürlich stimmt es. Ich bin schließlich Wissenschaftler! Sie können mir glauben, daß ich alle Untersuchungen und Berechnungen mit peinlicher Genauigkeit durchgeführt habe.“ Erbost starrte er Gott an. „Verstehen Sie überhaupt etwas von der Materie?“
Gott zuckte ein wenig hilflos die Schultern. „Nicht so richtig. Trotzdem kommt es mir so vor, als müsse an dem Ergebnis etwas falsch sein.“
„Sie sind also ein Laie.“ Der Wissenschaftler seufzte, lehnte sich wieder zurück und ließ die Rollen seines Stuhls quietschen. „Fast hätte ich’s mir denken können. Laien meinen immer, daß sie solche Fragen aus dem Bauch heraus beantworten können, und scheren sich dabei einen Dreck um die Grundsätze der Empirie. Sehen Sie“, sagte er dann in etwas versöhnlicherem Tonfall, „ich habe es ja zuerst auch kaum glauben können. Es war ein Zufall, eine glückliche Fügung, die mich die eine große Formel entdecken ließ – den endgültigen Beweis der Nichtexistenz dessen, was wir als Gott bezeichnen.“
Er räusperte sich. „Ich habe Kopien meiner Arbeit an die bedeutendsten Mathematiker dieser Welt geschickt. Sie alle haben mir bestätigt, daß der Beweis absolut fehlerfrei und über jeden Zweifel erhaben ist.“
Einen Moment lang wußte Gott nicht, was er sagen sollte. Er glaubte dem Wissenschaftler, und noch mehr glaubt er allen Wissenschaftlern zusammen. Trotzdem blieben gewisse Zweifel an der Richtigkeit dieses Beweises, und er mußte eingestehen, daß er ein persönliches Interesse an der Aufklärung dieses Sachverhaltes hatte. Also nahm er seinen Mut zusammen und fragte:
„Darf ich auch mal nachrechnen?“
„Sie?“ fragte der Wissenschaftler. „Sie sind unqualifiziert, und sie verstehen nicht einmal die Grundlagen.“ Er deutete erbost auf das Bücherregal, das eine Seite des Raumes komplett einnahm und von der Decke bis zum Boden mit grauen, abgegriffenen Bänden gefüllt war. „Wissen Sie, wie lange man lernen muß, um all das zu verstehen?“
„Ich habe gerade ein wenig Zeit“, sagte Gott bescheiden. „Vielleicht dürfte ich mich ja für ein paar Tage oder länger hier niederlassen und Ihr Handwerk studieren, um dann später... nachzurechnen?“
Er wartete atemlos auf einen Hinauswurf, aber der Wissenschaftler runzelte nur die Stirn und dachte einen langen Moment nach. Dann lächelte er gutmütig und sagte: „Warum eigentlich nicht? Ich bin schließlich verpflichtet, den Wissensdurst jener zu fördern, die nach mir kommen. Außerdem: ob der Größe meines Werkes bleibt mir sowieso keine andere Wahl, als mich zur Ruhe zu setzen.“ Mit einer großzügigen Geste schob er Gott den Taschenrechner hin, bezeichnete ein Buch in dem Regal, daß er für einen geeigneten Beginn hielt, und verließ das Zimmer. Der graue Polsterstuhl wippte noch ein wenig.
Gott machte sich an die Arbeit. In der Schublade des Schreibtischs fand er leeres Papier zum Schreiben. Er nahm das Buch aus dem Regal, las es, machte sich Notizen und ging dann zum nächsten über. Hin und wieder wagte er einen Blick in den losen Stapel Blätter, der den Beweis enthielt, und jedes Mal verstand er ein wenig mehr.
Irgendwann verstand er alles, und er machte sich ans Nachrechnen. Er mußte jetzt häufig niesen, weil sich in dem Zimmer mittlerweile eine dicke Staubschicht angesammelt hatte.
Es war schwierig, den genialen Winkelzügen des Wissenschaftlers zu folgen, aber es gelang ihm. Als er fertig war, begann er von vorne. Und wieder, und wieder, und wieder, bis er endlich sicher war.
Alles war richtig. Es gab keine Fehler, keine Ungenauigkeiten, keinen Spielraum. Gott legte den Taschenrechner beiseite, wippte in dem gepolsterten Sessel hin und wartete darauf, daß er sich auflöste. Aber nichts geschah – nur die Rollen des Stuhls quietschten.
„Ich verstehe das nicht“, murmelte er vor sich hin. „Der Beweis ist hier. Ich bin hier. Aber ich bin mir völlig sicher, daß es einen von uns beiden nicht geben kann. Das ist doch logisch, oder?“