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Der dunkle Wein des Madiran
Dieser Wein ist rau und grob, beinahe brutal.
Als Robert hier war, hat auch Lotta ihn probiert – und ausgespuckt. „Ich denke, du hast Weinverstand?“, hat sie gesagt, „Und dann trinkst du so was?“
Was konnte ich darauf antworten? Natürlich hatte sie recht.
Sie ist verstimmt, weil der Wein wirklich Ecken und Kanten hat – und ich bin beleidigt, weil sie mich vor Robert wie einen Trottel dastehen lässt. Wieso putzt sie mich in seiner Anwesenheit runter?
Hätte sie nicht sagen können: „Wow, ein echter Herrenwein!“ und gut wär’s gewesen – aber nein, sie muss den Finger in die offene Wunde legen. Solche Situationen zu schaffen, hat sie besonderes Talent.
Okay, der Wein ist zu jung. Ein wilder Kerl aus dem Vorland der Pyrenäen, das Gegenteil eines samtigen Burgunders – doch nach einigen Jahren wird er nicht nur runder, sondern erlangt eine beeindruckende Größe. Vielleicht reißt sich deshalb die ganze Welt um ihn; er gehört in die Kategorie ‚Must unbedingt have’. Ich hätte reifen Wein im Keller, muss mich selbst fragen, warum ich den Madiran raufgeholt habe. Aber eigentlich weiß ich es schon.
Es ist meine Eitelkeit. Ich wollte wieder mal angeben, zeigen, welche Schätzchen ich habe. Statt irgendeinen genussversprechenden Roten zu köpfen, musste es dieser Exot sein. “Irouléguy, Domaine Arretxea“ sage ich beiläufig.
Robert sieht mich verwundert an und meint: „Hubby, wär’s nicht besser, den noch paar Jahre liegen zu lassen?“, und ich muss kontern: „Ach, wollte nur mal sehen, wie weit er schon ist.“
Das war schon blöd genug, aber ich muss noch hinzufügen: „Macht nichts, hab ja genug davon.“
„Dir geht’s wirklich zu gut“, grummelt Robert, ich will ihn besänftigen und sage: „Nee, das nun nicht gerade, nur: Bordeaux hat jeder – den aber nicht!“
Wir haben bald aufgehört, zu politisieren, er müsse früh raus, sagte er. War sein letzter Besuch bei uns. Liegt schon viele Jahre zurück. Im gleichen Jahr ging Lotta.
Ich drehe am Dimmer der Schreibtischlampe, weich und milde wird das Licht, Lebenslicht! fährt es mir durch den Kopf. Ich kann bestimmen: hell oder dunkel, ein oder aus – nur so als Idee. Oder ich zerdeppere alles mit dem Hammer.
Solche Gedanken überkommen mich in letzter Zeit häufig. Ich merke, dass ich mich verändere, langsam, aber fortwährend. Seit Roberts letztem Besuch wird mir das klar. Weiß nicht, ob sich nur unangenehme Eigenschaften verstärken, oder auch die positiven. Schließlich soll man im Alter gütig und weise werden, mild und nachsichtig.
Sich selbst gegenüber nachsichtig? Oder doch eher grüblerisch, pessimistisch, an manchen Tagen depressiv.
Was soll dieses freudlose Siechen, der stumpfsinnige Tagesablauf? Zwar könnte ich machen, was mir einfällt, Geld hätte ich. Ein Trip nach New York, oder doch lieber Ladakh? Gott bewahre.
Ohne Lotta dimmt sich das Licht beinahe von selbst.
Dunkle Eiche, darauf die alte Briefwaage, Drehscheibentelefon, ein schwerer Brieföffner – Überbleibsel einer vergangenen Zeit, Deko für den matt glänzenden PC.
Vergangene Zeit? Nicht ganz, ich leb’ ja noch!
Und ich schreibe. Nach einigen Kurzgeschichten nun mein erstes Buch. Es handelt nur von mir, von Jugendsünden und Erwachsenwerden, geschäftlichem Erfolg und verratener Freundschaft. Das Drama mit Lotta bleibt ausgespart, das würde mich beim Schreiben nur verbittern. Wozu Frauen fähig sind! Da könnte ich ins Glas beißen, auch wenn sich der Mund mit Blut füllt statt mit Wein.
Je nun, sie hatte ihren Teil bekommen, hundertmal mehr als ihr zustünde. Es war ein scheußliches Ping-Pong – des einen Triumph war des anderen Schmach. Da wurde gefetzt und niedergemacht; vom Honorar der Anwälte hätten wir uns ein Schloss kaufen können. Unterm Strich blieb Verbitterung, auch Verwunderung, wie idiotisch sich erwachsene Menschen verhalten können. Ja, das galt auch für mich.
Wie oft hatte Lotta gesagt, dass mein Geld für sie keine Rolle spiele. Nur der Mann Hubertus würde ihr imponieren und nur wegen seiner Vorzüge und Fähigkeiten liebe sie ihn.
Weil aber mein Anwalt gerissener war als der Gegenspieler, vergaß sie ihre Beteuerungen und beschimpfte mich: Was ich mir einbilde, wie ich sie schikaniere, schließlich habe ich sie nicht auf dem Sklavenmarkt gekauft. Ist eine Frau aus Litauen weniger wert als eine deutsche? Und ich brauche mich nicht zu wundern, nur weil sie sich genommen habe, was ihr zustünde. Schließlich wäre es ihr gutes Recht, sich mit meinem Geld freizukaufen!
Ich greife zum Korkenzieher. Das kann sie nicht gemeint haben, der Anwalt hat ihr das eingeflüstert. Lotta ist anders.
Werden echte Gefühle als gefälschte dargestellt? Spielt jeder – sogar ich – nur eine Rolle, des eigenen Vorteils oder verletzter Gefühle wegen?
Ich werde noch verrückt, muss dieses Buch schreiben; meine letzte Chance, etwas Sinnvolles zu tun. Beim Schreiben werden sich die Gedanken ordnen. Und auch, wenn es kein Schwein lesen will, dann tu’ ich es eben für mich, basta.
Zu Ostern ist es so weit, dass ich allen Ernstes sage: „Das Werk ist vollendet“.
Das hallt merkwürdig in den hohen Räumen. Dass es gestelzt wirkt, nehme ich hin.
Ist doch einerlei, es hört ja niemand.
Bald kommen mir allerdings Zweifel, mir fehlt Lottas Urteil.
Die Selbstsicherheit ist weg und ich beginne, am Text herumzuoperieren.
Meine damals aufregenden Erlebnisse erscheinen jetzt immer läppischer und fader. Ich könnte sie anreichern mit tollen Begebenheiten, die ich irgendwann aufgeschnappt habe. Und das Gerede um Authentizität – da pfeif’ ich drauf! Wäre immer noch meine Geschichte, nur etwas ausgeschmückt. Die Leute wollen Sensationen. Es muss krachen und spritzen, Champagner, Blut, Sperma. Hauptsache Action.
Alles Blödsinn, einen Bestseller hab ich nicht im Sinn. Ich hantiere mit Worten, stelle um und tausche aus. Wie ein Maurer mit zu dünnem Mörtel die Steine nicht ordentlich in die Reihe bekommt, so verschiebe ich Sätze und Abschnitte; die Wand wird krumm, die Schreiberei strapaziert mich.
Etwas fehlt, das ich nicht genau benennen kann. Etwas Großes, Tiefes, Edles oder Tragisches – jedenfalls mehr als ein mit Vollgas gelebtes, aber flaches Leben.
Im Grunde genommen hab ich nur gekauft und verkauft, erst Zigarren und Wein, später Immobilien. Hab kein Menschenleben gerettet, niemandem geholfen, keinen Frevel verhindert – und eine Familie, für die ich mich hätte aufopfern können – hehe, die hätte mir gerade noch gefehlt!
Aber dann bin ich doch nach Vilnius gefahren.
Durch das ständige Grübeln entsteht das merkwürdige Gefühl, Termiten im Kopf zu haben, irre zu werden. Eine Cohiba wäre gut, doch die hat der Arzt verboten. Also muss kühler Wein her! Den gieße ich in hohem Strahl ins Glas, damit sich der leichte Rote mit dem Beerenduft wie ein magischer Trank mit tausend Luftbläschen vermählt und champagnergleich über die Zunge bizzelt. Der Sex der alten Herren – mit einem schiefen Lächeln strecke ich mich. Wie konnte sich dieser Wahnsinn mit Lotta entwickeln, hochschaukeln, aus dem Ruder laufen?
Der Lemberger ist ausgetrunken, doch ich fühle mich unzufrieden und verspannt. Der Wein war nett, mehr nicht – jetzt muss stärkeres Kaliber her.
Der Keller ist mein Stolz; es gibt Weine für jede Gemütslage, allerdings kann ich mich nicht entscheiden. Vielleicht ein Spanier, oder einer von der Rhône? Doch dann fällt mein Blick auf den Madiran – ich weiß noch, wie ich die Karte nahm und auf ein Kaff tippte, irgendwo zwischen Bordelais und Pyrenäen.
„Ich fahr’ mal ’ne Woche nach Maumusson“, sagte ich und wusste, dass Lotta sowieso zu Hause bleiben würde.
Dann düste ich dahin, mit dem großen Schlitten – achtzehn Stunden am Stück, kein Problem. Nur einmal hatte ich Sekundenschlaf, als mich die Motorradfahrer überholen wollten. Aber die sind ja für ihre gute Reaktion bekannt. Lotta hätte einen Nervenzusammenbruch gekriegt.
Fürs Dekantieren fehlt die Zeit, trotzdem ist der Wein großartig; nach neun Jahren hat er die Kratzbürstigkeit verloren und ein wundervolles Bukett entwickelt. Ich versuche, einen philosophischen Gedanken zu formen über Alter und Reife von Mensch und Wein, leider gerät mir alles zu platt.
Man sagt, bei Texten sei es auch so – die sollten ebenfalls etwas liegen, und obwohl sie allein dadurch nicht besser werden, gewinnt der Autor Distanz und erkennt bei erneutem Annähern gute und schlechte Seiten seines Werkes. Ich komme nicht umhin – Lotta muss mit ins Buch.
In dunklem Lila hockt dieser Koloss von einem Wein im Glas. Soviel Substanz sollte mein Text haben! Ich schwenke das Glas um und um, violette Schlieren haften am Inneren, eine betäubende Wolke von Schwarzbeer-Kirsch, Gewürzbasar und Eichenfass steht über meinem Schreibtisch. Ich trinke in kleinen Schlucken, bin in Gedanken wieder dort unten, sitze unter gigantischen Zedern und bekomme Appetit auf Ente mit Trüffeln. Und auf Leben.
Aber dieser Zug ist abgefahren. Mir bleibt die Tastatur des PC.
Mit Lotta war das besser, viel besser. Nur hat es keinen Sinn, daran zu denken. Und vielleicht vermisse ich sie nur, weil ich sie nicht mehr habe?
Ich weiß es nicht. Wäre sie da, würde ich zurückrudern in meinem verletzten Stolz, jetzt wäre ich bereit einzusehen, dass ich verrückt war, im Suff, im Erfolg, in meiner Rolle als Hans Dampf in allen Gassen.
Einmal geriet sie in Rage und hat mich ‚Egomane’ genannt. Ich weiß nicht, ob sie recht hat, doch möglich wär’s. Aber wie sonst hätte ich überleben können?
Ich fühle mich nicht gut, bleibe oft im Bett. Meine Freunde sind nicht mehr, aus verschiedenen Gründen. Alle Welt hat sich zurückgezogen. Nachdem Lotta gegangen war, fiel die Temperatur im Haus ganz empfindlich. Plötzlich Stille. Keine Musik, mal ein Zischen beim Espressomachen, das Summen der Mikrowelle – aber sonst? Ein Totenhaus.
Einmal hatte ich Dvoȓák aufgelegt. Jessas, da stiegen mir die Tränen in die Augen – so viel Schönheit, so viel Hoffnung, wie die Musik anschwillt, immer kraftvoller emporschwingt, mich herausreißen will aus meinem Trübsinn – aber ich umklammere mein Glas und heule. Alleinsein ist eine harte Disziplin.
Lotta war laut, oft zu laut. Ständig am Plappern, am Telefonieren, Schlagermusik, Stilettostakkato, Haarföhn.
Doch diese Stille quält.
Jetzt, wie der Wein Luft bekommt, dehnt er sich aus. Ich sehe die Reben hinter weißen Feldsteinmauern, mit wilden Brombeeren und Berberitzen, Maulbeerbäumen und Ginster. Im ganzen Raum wabert sein herrlicher Duft. Er kriecht in mich, mit jedem Schluck, knetet Herz und Seele. Wie ungestüm verliebt zu sein – ich denke an unser erstes Treffen in Vilnius und gieße andächtig nach, sitze in diesem verschnörkelten Kaffeehaus, mit seinen befrackten Obern und den verschnörkelten Törtchen. Eine große schöne Frau kommt herein, Haar wie Strandhafer, strahlende Augen, obwohl es ein regnerischer Tag ist. Ich glaube an ein Versehen, als sie auf mich zugeht. Aber nein, das ist mein Date!
Wir hatten uns beschwatzen lassen von ‚neuer litauischer Küche’, Restaurant „Avantgarde“ – unbedingt probieren!
Es war grauenhaft, glücklicherweise brach sie das Menü ab. Der Oberkellner fiel aus allen Wolken, zieh uns der Unkenntnis, und sie kochte für uns zu Hause etwas Schönes. Weiß gar nicht mehr, was das genau war, ich aß mit hungrigen Augen. Und es sprühte Gold, als wir feststellten, dass wir nicht nur bei Tageslicht fantastisch zusammen passten. Sie faszinierte mich, in ihren schönen Armen, zwischen ihren festen Schenkeln.
Der Wein füllt mich aus mit seiner geballten Kraft und Wärme. Winzer hätte ich werden sollen – etwas erschaffen aus Reben und Erde! Alles bestimmen, einen Wein keltern nach den eigenen Vorstellungen, als Kopie des eigenen Charakters. Mit einem Schuss Spiritualität die Kraft des Bodens verbinden mit dem Universum, um der kosmischen Unendlichkeit etwas irdisch Fortwährendes zur Seite zu stellen. Aber vielleicht würde der Charakter zerbrechen – wenn die Natur alle Bemühungen zunichte macht durch Hagel und Frost, durch Dauerregen oder Dürre – nur ein furchtsamer, demütiger Mensch bliebe übrig?
Die Beine werden schwer, doch vom Nabel aufwärts fühle ich mich federleicht.
Ich gieße den restlichen Wein ins Glas, leider gerät etwas Depot mit hinein. So ziehe ich den letzten Schluck durch die Zähne, und es knirscht ein wenig. Ich denke an die Erde des Weinbergs – Erde, zu der auch ich werde. Ich könnte sogar das Wann bestimmen. Das schwarze Eisen des Brieföffners schimmert. An schlimmen Tagen stelle ich mir vor, wie es sich blutrot überzieht – so dunkel wie der Wein des Madiran.
Nein. Ich werde von Lotta schreiben. Von mir natürlich auch, nichts werde ich auslassen, keinen meiner Fehler, und ihre Zickigkeit auch nicht.
Sie wird das Buch lesen, mich anrufen, und dann fahren wir los. In Nimes werden wir übernachten und in Maumusson unter Riesenzedern sitzen, getrüffelte Ente essen und dazu reifen Madiran trinken. Das wird ganz wunderbar, ich weiß es.