Der eiserne Händler
Der eiserne Händler
London zur Jahrhundertwende,
Von einem Zischen begleitet entfachte Herr Ross ein Streichholz. Er tat es auf die weise Art, die jede seiner Handlungsschritte zu begleiten schien und nie fehl am Platz wirkte. Nicht Lebenserfahrung durch hohes Alter, sondern Bildung und Wissensdurst waren die Urväter dieser Weisheit. Und er strahlte sie so umwerfend aus, wie ein weißer Schimmel das Majestätische, das ihn umgibt.
Der profitsüchtige Mr. Goyle hatte an diesem Abend jedoch miese Laune, obwohl dies nichts Sonderbares war, da er oft für einen jungen Griesgram gehalten wurde. Doch diesen Morgen hatte ihm ein Küchenpage, der ihm als Ersatz für seinen ehrwürdigen, erkrankten Butler Elliot den Tee ans Morgenbett brachte, jenen über den Schoß gekippt.
Sein deutscher Freund Theodor Ross, ein Fabrikant, der unter anderem auch Streichhölzer in Hülle und Fülle produzierte, die dann auf der ganzen Welt Lichter entzündeten, verstand diese Erzürnung aufgrund einer solch nebensächlichen Lappalie nicht. Vor allem nicht als Grund dafür, den Rest des Tages den Missmut ins Gesicht geschrieben zu haben.
Beisammen saßen die beiden jungen und gleichaltrigen Geschäftsmänner nun in der viktorianischen Wohnstube von Mr. Goyles großem Anwesen in der prachtvollen Hauptstadt Englands.
Es war mittlerweile später Abend und der Himmel wurde immer dunkler, bis seine rabenhafte Schwärze das Licht verschlang. Herr Ross zündete deshalb ein weiteres Streichholz an, um eine weitere Kerze anzufachen.
Mr. Goyle betrachtete das Anzünden von Kerzen seit langer Zeit als über alle Maßen risikoreich. Seine Vorliebe galt den Petroleumlampen, da diese nur sehr schwer entzündbar waren. Doch es war Weihnachten und Herr Ross hielt Kerzen deshalb für angebrachter, mit der Begründung, er würde sich von Kerzenlicht umgeben wohlfühlen.
Doch Mr. Goyle hielt Kerzen nicht ohne jeglichen Grund für gefährlich. Als die beiden Freunde damals zusammen studierten, legten sie unbeabsichtigt ein Feuer. Der damals schon sehr pessimistische und teilweise auch hysterische Hamish Goyle erschreckte aufgrund eines Vogels, der plötzlich von einem dumpfen Knall begleitet gegen das Fenster des Raumes krachte und leblos metertief in den grauen und mit nur wenigen Bäumen und Pflanzen verziertem Innenhof des Kollegs stürzte.
Goyle ließ erschrocken eine Kerzenlampe fallen und sie landete mit einem ohrenbetäubenden Klirren auf dem teuren Mantel eines Professors, welcher sich von seinem Haken an der Garderobe gelöst hatte und auf den Boden herabgefallen ist. Der Mantel stand in Flammen und letzten Endes wurde Goyles ehrgeiziger deutscher Mitstudent und Freund Theodor Ross mitverantwortlich gemacht, da er als einzige andere anwesende Person im Raum besser hätte aufpassen können. Seit dem besitzt Mr. Goyle eine Abneigung gegenüber Kerzen.
Sie unterhielten sich lange, während draußen der Schnee in seiner unverwechselbaren Schönheit auf die Straße fiel.
Als Kinder haben die beiden immer begeistert beobachtet, wie die Schneeflocken urplötzlich aus dem Nichts am Himmel erschienen und sich dann behutsam auf den harten Straßenboden legten und die Stadt so weiß färbten. Ein wundervolles Bild. Damals waren die Beiden immer dankbar dafür, dass sie in ihren warmen Betten schliefen und nicht, so wie die vielen Bettler, die jedes Jahr um Weihnachten das wunderbare Straßenpanorama Londons bei Schnee zunichte machten, auf kargen Stein ihre Nachtruhe finden mussten.
Der Händler Goyle war an diesem Tag offenbar nicht sehr gesprächig, obwohl es Weihnachten war. Auf jede freudige Aussage von Theodor reagierte der arrogante Engländer grimmig, jedes Schlürfen aus der Tasse empfand er als störend.
Theodor hatte alsbald genug von der schlechten Laune seines Freundes.
“Meine Frau und Kinder warten in der Heimat auf mich. Ich muss dich nun wohl alleine lassen, mein Freund.”, äußerte Theodor Ross gewohnt höflich, jedoch in unüberhörbarer Vorfreude darauf, die stümperhafte Laune von Hamish nicht mehr lange ertragen zu müssen.
Er ging zu dem Kleiderständer, an dem sein langer Mantel hing und an dessen Fuß sein Aktenkoffer stand.
Während er seinen Mantel schützend überzog, sah er durch das Fenster viele Bettler auf den Straßen. Überlegt griff er in seine Tasche und nahm dann seinen Aktenkoffer in die Hand.
Mr. Goyle hatte sich währenddessen aus seinem gemütlichen Sessel herausbewegt und reichte seinem Freund zum Abschied die Hand. Als Theodor diesen Abschiedsgruß erwiderte, spürte der Engländer Hamish einen leichten Gegenstand in seiner Hand. Nach einer Antwort suchend blickte er in das Gesicht seines Freundes.
“Schwerer als nötig, Hamish, genau, wie du.”, lauteten die Abschiedsworte von Theodor Ross, bevor er das Zimmer verließ, in die eisige Kälte hinausging und in das Deutsche Kaiserreich aus dem königlichen Großbritannien zurückzukehren beabsichtigte.
Mr. Goyle dachte nicht lange über diese rätselhaften, tiefgründigen letzten Worte, die er dieses Jahr von Theodor hören sollte, nach, denn er war genervt.
Als Theodor verschwunden war, legte Hamish Goyle die Schachtel in seinen Mantel und nahm seine Pfeife von der aus Ebenholz gefertigten edlen Kommode. Er folgte seinem Freund mit großem Abstand, um nicht in eine halbwegs peinliche Situation zu geraten, in das vom Winter geprägte London des späten 19. Jahrhunderts. Als er sich auf der Straße umsah, erblickte er Theodor noch, wie dieser den Fußgängerweg hinunterging und die Schneeflocken so offensichtlich und leicht an seinem Mantel kleben blieben.
Mr. Goyle ging weiter. Er fragte sich, wohin er gehen sollte.
Kurzerhand entschied er sich, in seinem Handelskontor am großen Hafen der Stadt nach dem Rechten zu sehen. Es war zwar Weihnachten, doch Mr. Goyle, der unter seinen Arbeitern, aufgrund seiner offenkundigen Gefühllosigkeit immer wieder mit dem Spitznamen “Der eiserne Händler” betitelt wurde, vertrat die Ansicht, dass man sich in die Arbeit zurückziehen sollte, wenn es im Privatleben nicht so läuft, wie man es sich vorstellt. Und umgekehrt.
Er ging weiter. Bettler für Bettler zogen an ihm vorbei, während seine teuren Schuhen, aus dem berühmtesten und namenhaftesten Schuhgeschäft Londons, ihre Spuren im flachen Schnee hinterließen. Jeder einzelne von ihnen bat ihn mit schwacher, verkratzter Stimme zitternd um einen Pfennig. Der eiserne Händler ging jedoch unberührt an ihnen vorbei und würdigte die teilweise verkrüppelten Gestalten, die für ihn nur verstoßene Silhouetten am Rande der Straßen waren, nicht einmal eines erhabenen, für ihn typischen prahlerischen Blickes. Er schämte sich oft beinahe dafür, dass seine Stadt so viele Bettler besaß und nichts gegen diese Verschmutzung tat.
An der nächsten Kreuzung, nicht weit entfernt von seinem Anwesen, hielt er an und holte seine Pfeife, sowie die Streichholzschachtel, die Theodor ihm geschenkt hatte, aus seiner Tasche. Die Schachtel war tatsächlicher schwerer als gewohnt. Als er sie öffnete, erkannte er darin ein 50 - Pfennigstück. Vor ihm saß ein Bettler am Straßenrand und sah ihn mitleidswürdig an.
Mr. Goyle war überwältigt. Theodors 50 – Pfennigstück schien wie für diesen Bettler gedacht, als hätte es die ganze Zeit über in seiner Streichholzschachtel auf ihn gewartet.
Hamish Goyle war in einer Situation, in der er sich normalerweise nicht befand. Er vergaß alles Griesgrämige und empfand Mitleid. Zu seiner eigenen Überraschung, oder zu seinem eigenen Entsetzen, machte er auf einmal einen Schritt auf den Bettler zu, hockte sich vor ihn und drückte ihm sogar liebevoll das 50 - Pfennigstück in die Hand. Er konnte sich nicht erklären, was geschah, doch vermutlich war genau dies die Absicht seines deutschen Freundes. Eine gute Tat, zu der man ihn nur zwingen konnte, weil er selbst kälter als das Wetter war. Irgendwie war Mr. Goyle für diese Lektion dankbar. Er war glücklich.
Hinter der nächsten Straßenecke stand ein Mann mit einem von Schneeflocken bedeckten Mantel und beobachtete das Geschehen stolz, fröhlich und sehr überrascht.
“Frohe Weihnachten, Hamish.”, flüsterte er, drehte sich zufrieden um und bahnte sich seinen Weg durch die belebten und verschneiten Straßen Londons. Seine Heimat wartete sehnsüchtig auf ihn. Und er auch auf sie.