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Der Engel mit dem verstauchten Flügel
Der Engel mit dem verstauchten Flügel
Timo konnte sich nicht losreißen, obwohl er richtig durchgefroren war. Es war aber auch zu schön auf dem Weihnachtsmarkt. Überall die geschmückten Stände und Buden, der riesige Weihnachtsbaum mit seinen Lichtern, der Duft von herrlichen Leckereien und vor allem der Weihnachtsmann, der in seinem Schlitten saß und für jedes Kind ein freundliches Wort hatte. Dass das ein Schauspieler mit einem Kostüm war, hätte ihm sein Freund Bastian nicht sagen brauchen. Der richtige Weihnachtsmann hatte doch zu dieser Zeit viel zu viel Arbeit, als dass er selber hätte kommen können.
„Hast du deinen Wunschzettel schon fertig?“, wollte Timo wissen.
„Ne, mach ich wohl auch nicht, weil das Kinderkram ist.“ Bastian setzte ein ernstes Gesicht auf und erklärte: „Weißt du, mein Vetter, der Peter, und der ist schon in der Schule, der hat gesagt, dass das alles nicht stimmt. Ist auch logisch bei so vielen Kindern auf der Welt. Der Weihnachtsmann kann das gar nicht schaffen, und darum machen die Eltern das alles mit den Geschenken und so.“
„Ich habe einen riesig langen Wunschzettel gemalt, da ist alles drauf, was ich mir wünsche und noch viel mehr“, antwortete Timo selbstsicher, „Dein Vetter will sich nur wichtig machen, der hat keine Ahnung. Jeder weiß doch, dass der Weihnachtsmann ganz viele himmlische Helfer hat, und dass Engel die Zettel der Kinder einsammeln. Meine Mama hat zwar gesagt mein Wunschzettel sei unverschämt lang, und ich müsse wohl nur mit ein paar Kleinigkeiten rechnen, aber ich habe nun einmal so viele Wünsche.“
Nachdenklich sagte Bastian: „Na ja, male ich eben auch einen, schaden kann es nicht.“
Dann entdeckte Timo etwas in Bastians Gesicht, was ihm nicht gefiel. Wenn sein Freund so die Augen und den Mund zusammenkniff, war er dabei etwas auszuhecken. Und so war es auch.
Die beiden Freunde lebten nebeneinander in der gleichen Straße, und auf ihrem Weg nach Hause hielt Bastian Timo am Ärmel zurück, sodass der Abstand zu ihren Mamas ein wenig größer wurde.
„Ich habe da einen Plan“, flüsterte er, „du wirst schon sehen, dass mein Vetter recht hat.“
Als er weiter sprach hielt er die Hand vor den Mund: „Wir haben einen alten Papageienkäfig auf dem Dachboden, den werde ich in mein Zimmer stellen und meinen Wunschzettel hineinlegen. Mit einem Gummiring, einem Stück Nähgarn und einem Hölzchen wird aus dem Käfig eine prima Engelsfalle.“
Timo fand das sehr gemein. Doch bevor er versuchen konnte, seinen Freund davon abzubringen, waren sie vor ihrem Haus angekommen.
„Na“, fragte seine Mama, „was habt ihr zwei wieder zu tuscheln? Dann fügte sie hinzu: „Komm Timo, lass uns hineingehen, Papa wird schon auf uns warten.“
Während des Abendessens erzählte Timo seinem Vater, was er auf dem Weihnachtsmarkt alles erlebt hatte. Auch berichtete er, was Bastians dummer Vetter vom Weihnachtsmann gesagt hatte. Über den hinterhältigen Plan seines Freundes aber schwieg er.
Als er dann in seinem Bett lag, konnte er nicht einschlafen, ihm ging einfach dieser Papageienkäfig nicht aus dem Sinn. Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere, als er plötzlich ein leises Schluchzen vernahm. Er setzte sich auf, knipste die Nachttischlampe an und rieb seine Augen.
„Hups“, entfuhr es ihm, legte seinen Kopf auf die Seite und lächelte. „Ich habe immer gedacht ihr Engel seid viel größer, aber schön siehst du aus. Hast du auch einen Namen? Ich bin Timo und kann nicht einschlafen!“
Der Engel, der da auf der Kante des Schreibtisches saß, antwortete nicht, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und sein kleine Körper wurde vom Schluchzen geschüttelt. Spontan wollte Timo aufstehen, um den Engel zu trösten. Doch dann dachte er, dass man Engel wohl nicht berühren dürfte, sie sahen so zerbrechlich aus. Er würde einfach warten, bis der Helfer des Weihnachtsmannes etwas sagen würde, denn dass das einer war und der seinen Wunschzettel holen wollte, war klar. Als er den Engel so betrachtete, fiel Timo auf, dass einer seiner Flügel ganz komisch nach unten hing und ihn durchfuhr ein schrecklicher Gedanke.
„Das war der Bastian oder?“, platzte es aus ihm heraus, „Der hat das gemacht!“
Der Engel blickte kurz auf und Timo erkannte ein schwaches Nicken.
Also hatte der gemeine Kerl wirklich seinen Plan in die Tat umgesetzt und die Falle gebaut. Seinen Wunschzettel hatte er in den Käfig gelegt und als der Engel ihn aufnehmen wollte, war die Falle zugeschnappt. Dann hatte sich der Engel befreit und dabei seinen Flügel verletzt. Auf Timos Frage, ob der Flügel gebrochen sei, bekam er ein Kopfschütteln als Antwort.
„Dann ist er verstaucht“, stellte Timo fest, „wäre aber besser wenn er gebrochen wäre“, fuhr er mit ernstem Gesichtsausdruck fort, „meine Mama hat gesagt, dass eine Verstauchung viel mehr weh tut.“
Wieder schluchzte der Bote des Weihnachtmannes, und Timo war klar, warum er so verzweifelt war. Nur mit einem Flügel konnte er nicht zurück und sicher konnte nur ein Engeldoktor die Verletzung heilen. Auf der Erde gab es so einen nicht, zumindest hatte Timo noch nichts davon gehört. Zudem durfte ihn auch keiner sehen, weil dann die Wünsche nicht in Erfüllung gingen, wusste er von seiner Mama.
Irgendwie musste er dem Engel helfen und obwohl er schnell eine Idee hatte, wartete Timo ab, bis der sich eine letzte Träne von der Wange gewischt hatte und zu ihm herüberblickte.
„Du musst keine Angst haben“, begann er beruhigend, „ich komme jetzt zu dir.
Über seinem Bett, an der Zimmerdecke, klebte ein sternförmiger, gasgefüllter Luftballon. Währen er aus dem Bett rutschte, griff er nach der Schnur die am Ballon hing und ging vorsichtig auf den Engel zu. Bei ihm angekommen zog Timo den Ballon nach unten und konnte den Engel davon überzeugen einen Versuch zu starten, indem der mit beiden Händen die Schnur umklammerte. Und wirklich, es funktionierte. Langsam, sehr langsam stieg der Sternballon mit dem Engel gegen die Decke und ein Lächeln huschte über dessen Gesicht.
Timo dagegen wirkte mit einem Mal nachdenklich, er hatte den Engel gesehen. Bedeutete das nun, dass er keine Geschenke bekommen würde? ‚Wenn der Himmelsbote hier bleiben muss’, dachte er und schüttelte seine Traurigkeit ab, ‚gibt es auch keine Geschenke. Wie auch immer, der Engel muss zurück in den Himmel.’
„Weißt du“, sagte Timo und sah zu seinem Wunschzettel, den er auf das Endloscomputerpapier seines Papas gemalt hatte, „der ist wohl ein bisschen zu schwer, das schafft der Ballon nicht, den wirst du nicht mitnehmen können. Aber vielleicht merkst du dir ein oder zwei meiner Wünsche.“
Wieder lächelte der Engel und blinzelte mit den Augen.
Timo öffnete das Fenster und langsam stieg der Ballon in den Himmel. Timo winkte und schaute ihm solange nach, bis der Sternenballon nur noch ein schillerndes Pünktchen, wie all die anderen Sterne am frostigen Nachthimmel war.
Die Zeit bis Weihnachten kam Timo unendlich lang vor, und dabei war er doch so gespannt darauf, ob und wenn, welche seiner Wünsche sich der Engel gemerkt hatte. Dazu hatte er gehofft, dass der Weihnachtmann noch einen anderen Boten schicken würde. Er hatte jeden Abend krampfhaft versucht wach zu bleiben, und dabei ging es ihm nicht nur um seinen Wunschzettel. Immer wieder musste er an den armen, verletzten Engel denken und hätte gerne gehört, dass es ihm besser ginge. Doch die Tage vergingen ohne eine Änderung, und wenn er seine Mama darauf ansprach, zuckte diese nur mit den Schultern und antwortete stets: „Warten wir es ab, es wird sich schon alles zum Guten wenden!“
Und dann war er da, der lang ersehnte Heilige Abend. Kurz vor der Bescherung, war Timo noch einmal in sein Zimmer gesaust, da er die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Nur sein Wunschzettel lag immer noch an der selben Stelle. Mit Bangen betrat er das Wohnzimmer und sein erster Blick fiel auf einen herrlich funkelnden Weihnachtsbaum. Und dann schaute er nach unten. Mit einem jubelnden ‚Juchhu’ riss er seine Arme in die Höhe, machte einen Schritt nach vorne und ließ sich auf die Knie nieder. Da lagen unter dem Baum Geschenke für ihn, und zwar die, die oben auf dem ersten Blatt seines Wunschzettels gemalt waren.
Sofort begann er sein neues Spielzeug auszuprobieren, und da er länger auf bleiben durfte, war er todmüde, als seine Mama ihn schließlich ins Bett brachte. Bevor er einschlief aber dachte er daran vielleicht doch auf seine Mama zu hören und zum nächsten Weihnachtsfest bescheiden nur ein Blatt für seinen Wunschzettel nehmen. Und dabei musste er grinsen. Im nächsten Jahr begann für ihn die Schule, er würde schreiben können; und wenn man ganz klein schriebe …