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Der erste Stein (ca. 30 n.Ch.)
Sie wurde gezogen, gedrückt, von rauen Männerhänden vorwärts gezerrt, stolperte, doch fiel nicht zu Boden, denn die Griffe um ihre Arme waren eisern, ließen sie nicht fallen, schleppten sie einfach weiter.
Anfangs hatte Michal geschrieen, gekratzt, gebissen und dafür einige Faustschläge eingesteckt, doch nun fügte sie sich in ihr Schicksal. Sie wusste, dass die adeligen Männer in ihren schönen Gewändern, die sie mit sich rissen, recht hatten. Und auch der schreiende, wütende Mob um sie herum, der immer lauter wurde, hatte recht. Sie hatte es verdient.
In Gedanken sah Michal ihren Mann vor sich. Fünfzehn und Neunzehn waren sie gewesen, als sie geheiratet hatten. Da sie nach guter jüdischer Art die Toraschule absolviert hatte, und ihre Eltern angesehen waren, war sie keine schlechte Partie für den wohlhabenden Elkana gewesen. Langsam hatten sie sich nach der Hochzeit kennen und schätzen gelernt. Michal war ihm eine gute Frau gewesen, hatte ihre Pflichten erfüllt und ihren Mann tatkräftig unterstützt. Und auch Elkana war immer gut zu ihr gewesen. Er hatte für ihr leibliches Wohl gesorgt und war nie grob geworden.
Suchend blickte sich Michal um, doch sie konnte sein Gesicht in der Menge nicht erkennen. Sah er etwa nicht zu? Hatte er sich beschämt zurück gezogen? Er, der das größte Recht hatte sie zu bestrafen. Nein, er musste hier sein, es war seine Pflicht, schließlich war er ein Zeuge. Michal wandte den Kopf so gut es ging nach hinten und tatsächlich konnte sie einen kurzen Blick auf das Gesicht ihres Mannes werfen. Es war wohl das einzige Gesicht, das nicht wütend aussah. Eine unendliche Traurigkeit spiegelte sich darin..
Ein kräftiger Tritt warf Michal zu Boden.
„Ehebrecherin!“, brüllte jemand und das Geschrei um sie herum wurde immer wütender.
Sie war zu bekannt, ihr Mann zu beliebt, als dass diese Todesstrafe den ordentlichen Verlauf nehmen würde. In letzter Zeit war das Volk hitzig. Es brodelte gegen die römische Macht und war froh, wenn es die Wut an jemandem auslassen konnte. So wurden Steinigungen vom Mob vorgenommen. Irgendjemand begann zu werfen, noch bevor man vor die Stadtmauer gebracht worden war. Andere machten mit, und irgendwann kam von irgendjemandem der erlösende Wurf. Dann war der Gerechtigkeit genüge getan und alle gingen erleichtert nach Hause.
Michal blickte in schwarze, wutentbrannte Augen. Einer der Ältesten mit zerzaustem Bart packte sie erneut und zog sie hoch. Plötzlich setzte sich eine tiefe, kräftige Stimme gegen das Geschrei durch:
„Bringt sie zum Tempel!“
Der Älteste blickte auf. „Hinaus aus der Stadt, sie ist eine Ehebrecherin!“
„Ja“, unterstützte ihn ein anderer eifrig, „sie hat gegen das Gesetz des Mose verstoßen und muss gesteinigt werden!“
Inzwischen hatte sich der Störenfried durch die Menschenmenge nach vorne gewühlt und stand nun direkt vor dem Ältesten. Es war ein vornehmer Mann, der hämisch grinsend meinte:
„ER ist dort! Wir stellen ihm eine Falle. Er soll seine Meinung zu dieser Frau sagen. Verurteilt er sie nach dem Gesetz, so macht er sein Gerede von Barmherzigkeit zunichte. Niemand wird ihm mehr glauben. Verurteilt er sie nicht, so verstößt er gegen das Gesetz des Mose und wir können auch ihn steinigen!“
Die Ältesten sahen einander an.
„Das ist DIE Gelegenheit.“
„Wir werden die Ehebrecherin sowieso steinigen. Sie hat es verdient.“
Der Griff um Michals Arme wurde wieder enger und nun bewegte sich der Mob Richtung Tempelberg. Sie wollten sie also durch halb Jerusalem schleppen. Wie in Trance ließ sie sich fortreißen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Anfängen ihres Fehlers, der ihr das Leben kosten würde. Sie wanderten zu Medad.
***
Michal gefiel der aufrechte Gang ihres neuen Nachbarn. Medad war groß, stark, hatte ein offenes Gesicht und dunkle, warme Augen.
Eines Tages sprach er sie an und Michal blieb fast das Herz stehen. Später wusste sie nicht einmal, weshalb er sie angesprochen hatte, doch ab diesem Zeitpunkt sprach er immer mehr mit ihr, als ein Mann das mit einer Nachbarsfrau zu tun pflegte.
Medad interessierte sich für ihre Probleme und Nöte, aber auch Freude und Glück teilte er mit ihr. Er wollte die unwichtigsten Dinge über sie erfahren, fand es spannend, dass Blau Michals Lieblingsfarbe war und Feigen ihr am besten schmeckten.
Ihre Treffen wurden länger und heimlich. Manchmal saßen sie nachts auf dem Dach, blickten zu den Sternen und schwiegen. Dann bedurfte es keiner Worte, es sprach die Magie des Augenblicks.
Michal wusste, dass „man“ sich nicht in der Nacht trifft um zu reden. Das ungute Gefühl in ihr, hervorgerufen durch die Gesetze der Gesellschaft und der Pharisäer, versuchte sie als nichtig abzutun, zu verdrängen.
Medad begann, ihr liebevoll übers Haar zu streichen, oder ihre Hand zu halten, und es schien Michal die natürlichste Sache der Welt zu sein. Eines Nachts drückte er sanft seine Lippen auf die ihren und küsste sie immer inniger. Aus tiefstem Herzen erwiderte sie den Kuss. Genoss seine Berührung und Nähe.
Später redete sich Michal ein, dass sie noch immer nicht gegen das Gesetz des Mose verstoßen hatte. Ein Kuss bedeutete noch keinen Ehebruch.
Medad war ein Mann, der sie so liebte, wie sie bisher kein Mensch auf der ganzen Welt geliebt hatte. Und auch sie liebte ihn über alles. Das Feuer in ihr wurde immer stärker. Sie wollte Medad all ihre Liebe schenken, sich ihm ganz hingeben, und er nahm sie zärtlich und leidenschaftlich an.
Nun wusste sie es. Das siebte Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Dagegen hatte sie verstoßen, obwohl sie es nie gewollt hatte. Doch ihr Gewissen war schwächer als das Verlangen der Liebe. Es loderte in ihr wie ein Feuer, drohte sie zu verbrennen. So suchte Michal jede günstige Gelegenheit um mit Medad zusammen zu sein.
Wenn Elkana nach einem Fest seinen Rausch ausschlief, seinen Bruder in Jericho besuchte, oder zum Beten ging, dann traf sich Michal mit Medad, meist in ihrer Kammer, und genoss die innige Zweisamkeit.
Doch eines Nachts waren sie unvorsichtig. Ließen sich vom Schlaf übermannen und so nahm das Schicksal unaufhaltsam eine tödliche Wende.
Als am frühen Morgen eine Magd eintrat, erschrak sie über den fremden, nackten Mann in Michals Bett und begann zu schreien.
Michal schreckte aus dem Schlaf auf, erfasste blitzschnell die Situation, sah Medad an, der benommen im Bett saß, und drängte ihn:
„Geh, geh, schnell! Aus dem Fenster!“
Sie drückte ihrem Geliebten das Betttuch in die Hand, damit er sich bedecken konnte und als Elkana ins Zimmer stürzte sah er nur noch einen Schatten durchs Fenster hüpfen. Nur langsam begriff Michals Mann, was vorgefallen war und Medad war schon längst über alle Berge. Aber Michal war erkannt worden, von zwei Zeugen beim Ehebruch erwischt und das reichte für die Verurteilung.
***
Michal wurde voll Abscheu angespuckt. Um sie herum brodelte das Volk. Sie blickte auf und konnte die Tore des Tempels erkennen. Tränen rollten über ihre Wangen. Tränen des Schmerzes und der Scham. Wie oft war sie diesen Weg zum Tempel hinaufgegangen. Hatte Sühn- und Dankopfer dargebracht, hatte Gott gelobt, den sie so verehrte.
War es nicht, als hätte sie mit ihren Taten Gott selbst ins Gesicht geschlagen? Sie hatte sein Gebot mit Füßen getreten und auch ihren eigenen Namen entwürdigt. Er bedeutete: Wer ist wie Gott?
Nie hatte sie ihren Namen als eine Frage, sondern immer als ein Lob Gottes gesehen. Denn in ihr Herz war die Antwort geschrieben:
Niemand ist wie Gott!
Und ausgerechnet ihn hatte sie so enttäuscht.
Michal wurde geschüttelt vom Schluchzen, während sie mit der Meute den Tempelvorhof betrat.
Die Ältesten sahen sich suchend um. Plötzlich schien einer das zukünftige Opfer gefunden zu haben. Der Mob bildete einen Kreis um den Mann und Michal wurde in die Mitte gestoßen. Sie kannte ihn nicht, hatte nur gehört, dass er einer der vielen Wanderprediger war, der den führenden Juden Kopfzerbrechen bereitete. Nichts Außergewöhnliches in diesen Tagen.
Einmal sollte dieser Jesus von sich gesagt haben, er käme von Gott und so wuchs die Spannung um Michal herum, wie er wohl auf diese Situation reagieren würde.
„Meister!“, rief einer der Ältesten, „diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt!“
„Ja.“, bestätigte der vornehme Mann, der die Idee gehabt hatte Michal hierher zu bringen, „im Gesetz Mose steht, dass man solche Frauen steinigen soll. Was sagst du nun dazu?“
Scheu sah Michal den Fremden an. Sie duckte sich, denn ihr war bewusst, egal was er antworten würde, die Ankläger würden wütend oder selbstgefällig erste Steine nach ihr werfen.
Doch der Mann sah weder sie, noch die Fragesteller an. Er bückte sich nach unten und schrieb, scheinbar unbeteiligt, irgend etwas in die Erde, das Michal nicht erkennen konnte.
Ungeduldig warteten die Menschen auf eine Regung des Mannes.
„Meister, he, Jesus, was sagst du!“, riefen die Ältesten. Immer lauter klang es. Der Kreis um Michal wurde kleiner.
Es schien ihr, als hörte sie schon die ersten Steine fliegen, doch sie würde zumindest versuchen, ihre Strafe würdevoll tragen.
Da erhob sich Jesus. Der Lärm verebbte und eine angespannte Stille legte sich auf den Tempelplatz. Mit ruhiger Stimme sagte er:
„Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“
Michal schloss die Augen und gab sich in ihr Schicksal. Doch es blieb ruhig. Langsam blickte sie auf. Jesus schrieb wieder im Sand, die Menschen um sie herum sahen sich betroffen an. Plötzlich drehte sich ein Ältester um, und ging wortlos vom Platz. Die anderen folgten ihm. Auch der vornehme Mann, Elkana, selbst das einfache Volk. Einer nach dem anderen verließ die Stelle. Der Kreis der Ankläger löste sich auf.
Michal starrte auf Jesus, der sich erhob und ihr direkt in die Augen sah. Dieser Blick. Es schien ihr, als ob Gott selbst sie ansah. Dreckig und schäbig, außen wie innen stand sie vor ihm, und konnte nichts verbergen. Es war, als kannte er ihr ganzes Leben, ihr tiefstes Inneres. Doch sie fand keine Verachtung in seinem Blick, sondern eine unglaubliche Liebe und Freude. Wie Eltern ihr noch verschmiertes Neugeborenes ansehen, voll Glück und Stolz, so sah er sie an. Nicht, weil sie etwas geleistet hatte, einfach, weil sie war.
„Frau, wo sind deine Ankläger?“, hörte sie seine Stimme, „hat dich niemand verdammt?“
Michal schluckte. Tatsächlich, so war es, alle waren weg!
„Nein Herr, niemand“, antwortete sie und erwartete nun sein göttliches Urteil.
„So werde ich dich auch nicht verdammen. Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“
Mechanisch drehte Michal sich um und ging langsamen Schrittes aus dem Tempelhof.
Was soeben geschehen war konnte sie nicht erfassen, merkte nur, dass sie lebte, dass sie die Straße hinunter ging und dass sie frei war. Frei von den eisernen Griffen, frei von wütenden Menschen und anklagenden Blicken, frei von Schuld. Und geliebt. Sie fühlte sich umgeben von einer unfassbaren Liebe.
Die große Dankbarkeit, die sich in ihr ausbreitete rief eine unbändige Kraft und wilde Entschlossenheit in ihr hervor. Sie würde nicht mehr sündigen, wollte zu Elkana gehen, sie würden alle Steine liegen lassen und noch einmal von vorne beginnen. Alles andere würde die Zeit zeigen.
Michal rannte, hüpfte und ihr helles Lachen hallte in den Gassen wieder.