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Der Füllfederhalter
Mist! Jens keuchte. Er war zur Haltestelle gerast, trotzdem fuhr ihm der Bus vor der Nase weg. Und der nächste kam erst in zwanzig Minuten.
Er stellte sich im Wartehäuschen unter. Es war kalt und so dunkel, dass die Straßenlaternen angingen, obwohl noch früher Nachmittag war.
Aus den Augenwinkeln sah er etwas aufblitzen. Da lag was Funkelndes auf der Bank – ein Stift! Jens nahm ihn in die Hand. Er war dunkelblau, fast schwarz, und mit Lichtpünktchen übersät, die aussahen wie Sterne am Nachthimmel. Wer hatte diesen tollen Stift verloren? Er blickte sich um. Niemand zu sehen. Jens steckte ihn in die Tasche.
Zu Hause untersuchte er ihn genauer. Es schien ein Füllfederhalter zu sein. Jens holte sich einen Block. Er schrieb seinen Namen, in wunderschönen, gleichmäßigen Buchstaben. Die Feder glitt wie von selbst über das Papier und die Schrift glitzerte, als ob die dunkelblaue Tinte mit Goldstaub vermischt wäre.
Auf einmal passierte etwas sehr Merkwürdiges. Das Blatt fing an zu leuchten, als ob dahinter eine Kerze brennen würde, und jeder Buchstabe bekam einen Strahlenkranz, sodass er aussah wie ein Stern.
„Das muss ein ganz besonderer Füller sein“, dachte Jens. Und plötzlich wusste er, was er damit schreiben würde: nämlich seinen Wunschzettel.
„Liebes Christkind“, begann er, „ich wünsche mir, dass meine Oma schnell wieder gesund wird.“
Ja, das war sein größter Wunsch. Oma lag im Krankenhaus, und es stand noch gar nicht fest, ob sie vor Weihnachten rauskommen würde. Aber Jens konnte sich Heiligabend ohne seine Oma nicht vorstellen. Wenn sie nicht dabei war, machte Weihnachten keinen richtigen Spaß.
Er legte den Füller hin und schaute aus dem Fenster. Der graue Himmel hing tief über den Dächern. Jetzt fiel Jens noch was ein, was er sich ganz doll wünschte.
„Und bitte lass es schneien“, schrieb er.
Sein Blick wanderte wieder zum Fenster. Das gab’s doch gar nicht! Da fielen doch tatsächlich Schneeflocken vom Himmel, und es wurden immer mehr!
Jens riss das Fenster auf und hielt beide Arme hinaus. Die federleichten Flocken kitzelten auf der Haut. Im Nu bedeckte eine feine weiße Schicht die Bürgersteige, Autos, Bäume und Vorgärten. Auf dem Sims lag schon so viel Schnee, dass er einen kleinen Schneeball daraus formen konnte.
Über der Aufregung hätte er fast seinen Wunschzettel vergessen. Er setzte sich wieder an den Tisch und runzelte die Stirn. Was wünschte er sich noch? Eine Menge ging ihm durch den Kopf. Ein Skateboard, ein neues Fahrrad, ein Handy, wie sein Freund eins hatte, eine …
„Jens!“ Seine Mutter kam ins Zimmer gestürmt. „Oma hat gerade angerufen. Sie kommt schon morgen aus dem Krankenhaus!“
„O Mama!“, jubelte Jens. „Dann kann sie ja mit uns Weihnachten feiern!“
Seine Mutter strahlte. „Ist das nicht toll?“
Jens freute sich dermaßen, dass er brüllend durchs ganze Zimmer tobte. Und Mama war so froh, dass sie nur lachte und nicht sagte, er müsste leiser sein wegen der Nachbarn.
Als er sich ein bisschen beruhigt hatte, betrachtete er seinen Wunschzettel. Das war schon seltsam. Zwei Wünsche standen darauf, und beide waren in Erfüllung gegangen.
Er nahm den Füllfederhalter zur Hand. Viel Tinte hatte er nicht mehr übrig. Aber wie war die überhaupt in den Füller reingekommen? Man konnte ihn nirgendwo aufschrauben.
Jens wurde klar, dass er genau überlegen musste, ehe er den nächsten Wunsch hinschrieb.
Also, was sollte er sich noch wünschen? Er schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. Da brauchte er doch gar nicht lange nachzudenken! Immer wieder hatte er gebettelt, und Mama war dafür, bloß sein Vater nicht, und sie sagte: „Wenn Papa nicht will, können wir nichts machen.“ Aber wenn auch das Christkind einverstanden war, würde Papa bestimmt nicht mehr nein sagen. Deshalb schrieb Jens:
„Ich wünsche mir einen Hund“
Das d von „Hund“ konnte er noch schreiben, aber für das Ausrufungszeichen, das er dahintersetzen wollte, reichte die Tinte nicht. Jens legte den Füller vor sich hin. Man konnte zusehen, wie er sich veränderte. Die Sternchen verloschen, eins nach dem anderen, und bald sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher, dunkelblauer Füllerfederhalter. Auch der Wunschzettel wurde wieder zu einem normalen Blatt Papier. Nur der letzte Wunsch leuchtete noch.
Jens freute sich: über den Schnee, auf Weihnachten mit Oma - und auf den kleinen Hund, den das Christkind ihm bringen würde.
Den Füllfederhalter legte er in seine Schreibtischschublade. Wer weiß, vielleicht war nächstes Jahr in der Weihnachtszeit wieder Tinte drin?