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Der gute Vitri

Monster-WG
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04.03.2018
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Der gute Vitri

An einem Sommermorgen verschwand mein kleiner linker Zeh. Es war nicht so, dass er sich infolge einer Verletzung oder eines anderen schmerzhaften Prozesses verabschiedet hätte. Vielmehr bemerkte ich sein Fehlen zufällig beim Duschen. Ich sah das schrumpelige graue Ding noch im Strudel über dem Abfluss kreiseln, dann war es weg. Die Haut an der Stelle, wo er fehlte, war nicht einmal gerötet, sie war glatt. Als ich mit dem Finger darüberstrich, spürte ich ein feines Prickeln, eine ungewohnte Irritation, die gut auszuhalten war.
Die Einschränkung hielt sich zunächst in Grenzen. Das Fehlen des Zehs behinderte mich nicht beim Gehen, dazu kam es erst später, als die anderen Zehen ebenfalls verschwanden. Von einem schleichenden Prozess zu sprechen, mag angesichts der deutlichen Vorfälle unpassend erscheinen. Dennoch geschah die Ablösung weiterhin schmerzfrei und das beiläufige Auffinden der Mehrheit von ihnen an unerwarteten Plätzen erweckte den Eindruck, die Zehen würden sich der Reihe nach wegschleichen. Nachdem sich der letzte davongemacht hatte, erwartete ich, die Flucht der Körperteile hätte ein Ende gefunden. Und so verspürte ich trotz der Malaise eine gewisse Erleichterung – wenngleich es mir ab dem Zeitpunkt nicht mehr gelang, die Veränderungen zu kaschieren.
Das mag an meiner merkwürdigen Art zu gehen gelegen haben oder an den Krücken, ohne deren Hilfe ich nicht mehr von der Stelle kam. Herr Nachbar meinte jedenfalls, ein orthopädischer Schuhmacher könne da helfen, die wären solche Fälle gewohnt. Ich dürfe mich nicht so hängenlassen und müsse ein wenig Übung in die Arme investieren. Bestimmt sei da noch Einiges zu holen.
Bevor es dazu kam, fielen die Füße ab und ich tauschte die Krücken gegen einen Rollstuhl. Ich kann nicht sagen, dass ich ausschließlich traurig war, denn das Humpeln war zuletzt doch sehr schmerzhaft gewesen.
Den Gebrauch der Räder hatte ich schnell erlernt und fand manch Freude an der neuen Art der Fortbewegung, doch blieb es insgesamt eine kräftezehrende Angelegenheit. Auf mein Inserat in der lokalen Zeitung hin meldete sich Vitri, der das fortan stundenweise für mich übernahm. Wir kamen richtig gut miteinander aus, was wohl auch der Grund dafür war, warum der Vitri meinen abgestorbenen Unterschenkel ohne Murren aus dem Bett entfernte. Ehrlich gesagt roch der schon ein wenig, was dem Vitri nichts auszumachen schien.
Fortan legten wir eine Decke über die Beine, sobald wir das Haus verließen, was dazu führte, dass wir den zweiten Unterschenkel beinahe unbemerkt im Park verloren. Ohne das Holpern, als der Reifen darüberfuhr, wäre uns das durchgegangen. Dem Vitri übergab ich am Ende des Tages einen Bonus, weil er das stinkende Etwas ohne Zögern in die Büsche geworfen hatte.
Die Oberschenkel ließen noch einige Wochen auf sich warten. Nach einem heißen Bad im späten Herbst lagen sie friedlich nebeneinander im knisternden Badeschaum, der zurückblieb, nachdem ich das Wasser abgelassen hatte.
Den letzten Rest der Beine zu verlieren, war nicht weiter tragisch. Dem wohnte etwas Befreiendes inne, als würde Ballast von mir genommen. Der Vitri erfand sogar eine Methode, mich im Rollstuhl zu polstern und den Oberkörper zu fixieren, damit ich ohne Beine aufrecht sitzen konnte. Herr Nachbar meinte dazu, das wäre lösungsorientiert und bewundernswert, er hätte uns diesen Erfindungsreichtum nicht zugetraut. Zur Bestätigung nickte ich und verwies bescheiden auf Vitri, dem das die Röte in die Wangen trieb.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der gute Vitri seine Einsätze von stundenweise auf ganztägig aufgestockt, was in seinem Fall acht Stunden bedeutete. Natürlich kamen Amt und Kasse zur Hilfe und übernahmen nicht nur sein Salär, sondern ebenfalls das seiner Kollegen für Nächte und Wochenenden. Doch ehrlich gesagt versorgte mich niemand von ihnen so gekonnt wie der Vitri. Selbstverständlich musste er sich erholen können, das mit mir anzusehen, war schon schwer für ihn. So bin ich mir sicher, das Abfallen der ersten Hand hat ihn ärger getroffen als mich, zumal der Hund vom Herrn Nachbar sofort zuschnappte und geräuschvoll die Knochen zermalmte. Durch beharrliches Zureden meinerseits hatte der gute Vitri seine Nerven nach einer Weile so weit im Griff, dass er weiterarbeiten konnte.
Ohne Hand geriet das Schieben des Rollstuhls zur Unmöglichkeit und da nun meine Schreibhand fehlte, konnte ich mit der anderen nur noch kritzeln, was mir auf Dauer als unbefriedigend aufstieß. Richtig anstrengend wurde es dazu nach dem Abfallen der mittleren drei Finger der zweiten Hand. Das Halten des Stiftes wurde zur regelrechten Tortur. Somit war ich nicht sonderlich betroffen, als der kleine Finger zuletzt vor dem Bett lag. Eine Weile noch konnte ich dem guten Vitri Daumen hoch signalisieren, dann hatte sich auch das erledigt.
Eines Nachts habe ich davon geträumt, mit einer Hand einen Fuß kratzen zu müssen und bin schweißgebadet aufgewacht. Ich fand es regelrecht erhebend, das im wachen Zustand ausschließen zu können.
Das Prickeln in den Stümpfen wurde erträglicher, als mir beide Arme den Laufpass gaben. Diesmal war der Hund des Herrn Nachbar nicht anwesend, was für Vitris Nerven ein regelrechter Glücksfall war. Seitdem ist der gute Vitri mit Schieben, Versorgen und den Diktaten rund um die Uhr ausgelastet, wenn nicht gar überlastet. Nie beklagt er sich, allein seine Augenringe zeigen, dass er nachts keine Ruhe findet. Doch auch in dieser Hinsicht ist ein Ende absehbar, denn jetzt warte ich darauf, dass der Kopf abfällt, weil er längst überfällig ist. Um den Torso soll er kein großes Gewese veranstalten, habe ich dem guten Vitri gesagt, um ihn wegen seiner Tränen zu trösten. Und er solle bloß den Kopf nicht hängen lassen. Vorsorglich diktiere ich ihm gerade ein herzliches Adieu, denn die Erfahrung zeigt: Das Ziehen im Nacken sollte ich ernst nehmen.

 
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Hey @linktofink,

gerne gelesen. Hat mich ein bisschen an Gogols Nase erinnert (immer komisch, wenn man einfach davon ausgeht, dass jeder alles gelesen hat, deshalb nur grob: Da wird eine abgefallene Nase plötzlich zum Protagonisten und geht ganz selbstverständlich eigenen Geschäften nach), in beiden Geschichten geschieht etwas über den Verstand hinausgehendes, was dann aber gar nicht groß hinterfragt wird, ändern lässt es sich ja eh nicht, wozu also groß aufregen. Das lässt sich auch ganz simpel auf viele andere Situationen übertragen, finde ich, diese stoische Akzeptanz, und da hat man also schon mal den "doppelten Boden" der Geschichte, wenn man den denn benötigt - so, wie ich es eben beim Überfliegen deiner Antworten herausgelesen habe, brauchst du selbst den aber wohl gar nicht so dringend, finde ich auch gut, aber ja, es gäbe auf alle Fälle einen, wenn man ihn denn bräuchte :shy:

Ich habe ein bisschen überlegt, was ich außer "gerne gelesen" noch zu deiner Geschichte anmerken könnte und zumindest zwei Dinge sind mir ein- bzw. aufgefallen. Die so ein bisschen ineinander übergehen.

Da wäre zum einen die Sprache des Erzählers: Ich habe die als sehr distanziert wahrgenommen, kühl fast. Würde der leidenschaftlich und aufgeregt von dem Geschehen erzählen, dann wäre die Wirkung ja eine ganz andere, dann könnte man da einen Oh-mein-Gott-was-passiert-hier-Text draus machen, aber das ginge ja voll gegen die stoische Akzeptanz. Durch diese kühle Distanz hatte ich aber auch so ein bisschen den Eindruck, als würde der Erzähler sich von der Moderne distanzieren, soll heißen: An manchen Stellen erscheint mir sein Erzählen ... Ja, alt, da bin ich dann fast wieder bei Gogol, das klingt stellenweise nach spätem neunzehnten Jahrhundert, Formulierungen wie: von einem schleichenden Prozess zu sprechen, mag angesichts der deutlichen Vorfälle unpassend erscheinen oder knappere Dinger wie: fortan oder: der Gebrauch der Räder. Da sehe ich dann automatisch Kutschen fahren und den Protagonisten mit einer Feder schreiben und frage mich, ob das beabsichtigt ist. Schlimm finde ich es nicht. Nur würde ich es wahrscheinlich auch nicht brauchen, da das Setting selbst mir eher zeitlos erscheint, ich sehe da keine eindeutigen Hinweise auf Kutschen und Schreibfedern und deshalb hätte mir eine modernere, vielleicht auch eigenere Sprache wahrscheinlich besser gefallen.

Im Zusammenhang mit der Sprache dann noch der zweite Punkt, über den ich mich ein bisschen gewundert habe: Der Vitri. Warum ist es der Vitri? Warum spricht er mit dem Vitri, etc.? Soll heißen: Wozu der Artikel? Ich rede selbst so, ich glaube, das ist ein Süddeutschland-Ding, der linktofink hat das und das gesagt zu sagen statt einfach linktofink hat das und das gesagt und ich finde, das klingt immer so ein bisschen ... kindlich naiv. Deshalb fände ich es bei einem kindlich naiven Erzähler auch angebracht, aber dein Erzähler hier klingt ja eher wie ein Intellektueller, und deshalb hat mich das ein bisschen rausgerissen. Das wirkte wie angepappt. Aber das ist nur eine Kleinigkeit. Wollte es trotzdem nicht unerwähnt lassen :shy:

Ja und abschließend vielleicht noch die Frage nach dem Titel, der mir zwar super gefällt, schon der Name, Vitri, aber der Vitri selbst spielt ja kaum eine Rolle, soweit ich das Beurteilen kann. Der ist ja nur ein Nebencharakter. Man könnte jetzt interpretieren: Ach ja, das passt zum Erzähler, dass die Geschichte so heißt, da fällt sein ganzer Körper auseinander und er nennt seine Memoiren nicht etwa: Das Auseinanderfallen meines Körpers, sondern Der gute Vitri, sieht auch da wieder woanders hin, aber ... Hm. Vielleicht eine Frage der Lesart, vielleicht ist für andere Vitri tatsächlich der springende Punkt in dieser Geschichte, mir selbst hätte ohne den Vitri wahrscheinlich nichts gefehlt und deshalb wundere ich mich zumindest kurz über den Titel.

Im Nicht-Wortkriegermodus hätte ich mir wahrscheinlich keine dieser Fragen gestellt und den Text einfach nur genossen, deshalb: Vielen Dank fürs Teilen!

Bas

 

Aber was musstu für einen offenen, „unsiebsamen“ Schlund von Abfluss haben, dass neben Schuppe und Haar gar einer der kleinen Zehen abhanden kommt und in der Kanalisation verschwindet.
Ja, lieber @Friedrichard, mein Prota hat einen zehgängigen Abfluss in seiner Dusche, zumindest für den kleinen. Ein Haarsieb wäre auch zu modern. :Pfeif:
Beim Konjunktiv gibt es noch ein wenig Unsicherheit –
"Nachdem sich der letzte davongemacht hatte, erwartete ich, die Flucht der Körperteile habe ein Ende gefunden. …" wobei der Icherzähler ja schon aufgrund der gewählten Erzählzeit weiß, dass seine Erwartung nicht erfüllt wurde …
Kein Plan, wie es richtig wäre, ich mach das mit den Konjunktiven immer frei Schnauze. Was wäre denn richtig, hätte?
Dir auch einen schönen Fatifeiertag, peace, auch an der Emscher, l2f

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Hello @Bas und Glückwunsch zur Empfehlung,

so, wie ich es eben beim Überfliegen deiner Antworten herausgelesen habe, brauchst du selbst den aber wohl gar nicht so dringend, finde ich auch gut, aber ja, es gäbe auf alle Fälle einen, wenn man ihn denn bräuchte :shy:
natürlich lässt sich in das absurde Vorgehen einiges hineinlesen, doch ist es nicht so, dass ich bewusst in eine Richtung geschrieben habe, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen oder eine Botschaft zu transportieren.
Da wäre zum einen die Sprache des Erzählers: Ich habe die als sehr distanziert wahrgenommen, kühl fast.
Durch diese kühle Distanz hatte ich aber auch so ein bisschen den Eindruck, als würde der Erzähler sich von der Moderne distanzieren, soll heißen: An manchen Stellen erscheint mir sein Erzählen ... Ja, alt, da bin ich dann fast wieder bei Gogol, das klingt stellenweise nach spätem neunzehnten Jahrhundert
Stimme zu, die Sprache ist einerseits bewusst distanziert, die Gründe legst du selbst dar, es soll kein OMG-Text sein, keine Betroffenheitsprosa. Andererseits habe ich durch die Wahl des Namens und die antiquierte Sprache eine Loslösung von örtlichen und zeitlichen Bezügen und auch das soll so.
und deshalb hätte mir eine modernere, vielleicht auch eigenere Sprache wahrscheinlich besser gefallen.
um eine eigene Sprache bemühe ich mich in anderen Texten, in dem hier wollte ich es so halten wie du schreibst, eher altmodisch.

Schönen Feiertag, peace, l2f

 

… Von einem schleichenden Prozess zu sprechen, mag angesichts der deutlichen Vorfälle unpassend erscheinen. Dennoch geschah die Ablösung weiterhin schmerzfrei und das beiläufige Auffinden der Mehrheit von ihnen an unerwarteten Plätzen erweckte den Eindruck, die Zehen würden sich der Reihe nach wegschleichen. Nachdem sich der letzte davongemacht hatte, erwartete ich, die Flucht der Körperteile habe ein Ende gefunden. Und so verspürte ich trotz der Malaise eine gewisse Erleichterung – wenngleich es mir ab dem Zeitpunkt nicht mehr gelang, die Veränderungen zu kaschieren.

Moin, link,

zu o. g. Passage bemerkte ich

Beim Konjunktiv gibt es noch ein wenig Unsicherheit –
"Nachdem sich der letzte davongemacht hatte, erwartete ich, die Flucht der Körperteile habe ein Ende gefunden. …" wobei der Icherzähler ja schon aufgrund der gewählten Erzählzeit weiß, dass seine Erwartung nicht erfüllt wurde …
gestandestu ein:

Kein Plan, wie es richtig wäre, ich mach das mit den Konjunktiven immer frei Schnauze. Was wäre denn richtig, hätte?

Richtig!, behaupte ich mal.
Konj. II lässt sich m. E. als eine Art "literarischer" Wahrscheinlichkeitsrechnung ansehn, die von einem „möglichen“ Ereignis erzählt irgendwo zwischen 1 (es ist real) und 0 (existiert nicht, gibt’s nicht [bestenfalls in der Fantasie] oder dem Wert 0,5 für ein offenes Ergebnis wie etwa eines „kann sein, muss aber nicht“ oder eines „sowohl als auch“.

Je niedriger der Wert, desto unwahrscheinlicher das Ereignis oder die Existenz bis hin zum Konjunktiv "irrealis“.

Nun gibt es Modalverben, wo Prät. und Konj. II identisch sind („können“ z. B.. Prät. „könnte“, folglich auch Konj. II, was durch eine „würde“-Konstruktion ausgeglichen werden kann.

So weit und gut (oder auch nicht) für itzo vom

Friedel

 

Moin @linktofink,

eine abgefahrene Geschichte, hat mich ein bisschen an "Erhebung" von Stephen King erinnert, wo der Prota immer leichter wird, aber sich körperlich nicht verändert. Richtig mysteriös. Generell ist mir bei deinen Geschichten schon häufiger aufgefallen, dass sie in meinen Augen originell sind (denke hier an die Geschichte des Mannes, der sich in einen Baum verliebt). Dieses Gefühl etwas Neues zu lesen, hatte ich auch bei dieser Geschichte, aber mir ging das alles ein bisschen schnell. Es hat sich für mich wie eine Skizze gelesen bzw. ein Bericht, ich war allerdings ziemlich weit von deinem Prota entfernt. Mich hätte es sehr interessiert, wie er mit diesem Hindernis umgeht, wie er aktiv wird und möglicherweise nach Lösungen sucht. Er scheint alles hinzunehmen und betet das so runter, sodass bei mir auch schon die Frage aufkam, ob sich der Erzähler da einen Spaß mit mir als Leser erlaubt. Ich gehe im Detail auf meinen Eindruck ein:

An einem Sommermorgen verschwand mein kleiner linker Zeh.
Starker erster Satz, ich will sofort wissen, wie es weitergeht und bin interessiert.

Die Haut an der Stelle, wo er fehlte, war nicht einmal gerötet, sie war glatt. Als ich mit dem Finger darüberstrich, spürte ich ein feines Prickeln, eine ungewohnte Irritation, die gut auszuhalten war.
Das meinte ich weiter oben mit der Distanz. Er verliert gerade seinen Zeh und geht da extrem nüchtern dran, scheint überhaupt keine Emotionen zu haben. Fast wie eine Maschine mit einem Bewusstsein, die sich selbst reflektiert. Wenn ich mir mich selbst in so einer Situation vorstelle, dann würde ein ganzer Cocktail an Emotionen in mir aufsteigen.

Ich dürfe mich nicht so hängenlassen und müsse ein wenig Übung in die Arme investieren. Bestimmt sei da noch Einiges zu holen.
Auch das wirkt auf mich skurril und wieder etwas distanziert. Es wird einfach als Fakt aufgenommen, dass er nach und nach seinen Körper verliert und auch der Nachbar fokussiert nicht diesen mysteriösen Prozess an sich, sondern geht auf die Folgen ein.

Wir kamen richtig gut miteinander aus, was wohl auch der Grund dafür war, warum der Vitri meinen abgestorbenen Unterschenkel ohne Murren aus dem Bett entfernte.
Abgefahrene Stelle, total skurril und doch hat es mich abgeholt. Ich wollte weiterlesen und wissen, wie das wohl ausgeht. Allerdings hatte ich auch hier wieder ein Fragezeichen, was die Glaubwürdigkeit des Erzählers anging.

Ohne das Holpern, als der Reifen darüberfuhr, wäre uns das durchgegangen. Dem Vitri übergab ich am Ende des Tages einen Bonus, weil er das stinkende Etwas ohne Zögern in die Büsche geworfen hatte.
Auch hier hatte ich den Eindruck, dass der Erzähler lügt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Autofahrer über ein menschliches Körperteil fährt und das als vollkommen normal hinnimmt. Da muss doch automatisch ein Drama, ein Konflikt entstehen. Hätte es hier spannend gefunden, wenn dieser Konflikt szenisch ausgearbeitet worden wäre. Das meinte ich weiter oben mit der Skizze bzw. Bericht. Ich habe letztens das Buch "Horns" angefangen von Joe Hill: Dem Prota wachsen Hörner aus der Stirn und er versucht damit im Alltag klarzukommen. Da ist auch immer die Frage, ob das wirklich so sein kann oder nicht und ich als Leser werde nach und nach in diese neue Realität reingezogen. Das hat mir hier bei dieser Geschichte ein wenig gefehlt. Ich musste das mit dem abfallenden Körper so hinnehmen.

So bin ich mir sicher, das Abfallen der ersten Hand hat ihn ärger getroffen als mich, zumal der Hund vom Herrn Nachbar sofort zuschnappte und geräuschvoll die Knochen zermalmte.
Hier die Steigerung und ich finde gut, dass du so konsequent bei deinem Ton geblieben bist. So ist der Erzähler eben und er verändert sich auch durch die Geschichte hinweg nicht. Für mich war nur der Punkt der Glaubwürdigkeit nicht geklärt, allerdings habe ich den Text als etwas Neues wahrgenommen und bin froh, dass du ihn gepostet hast. So eine Geschichte liest man sicher nicht alle Tage.

Beste Grüße
MRG

 

Moin @MRG,

eine abgefahrene Geschichte, hat mich ein bisschen an "Erhebung" von Stephen King erinnert, wo der Prota immer leichter wird, aber sich körperlich nicht verändert. Richtig mysteriös. Generell ist mir bei deinen Geschichten schon häufiger aufgefallen, dass sie in meinen Augen originell sind (denke hier an die Geschichte des Mannes, der sich in einen Baum verliebt). Dieses Gefühl etwas Neues zu lesen, hatte ich auch bei dieser Geschichte, aber mir ging das alles ein bisschen schnell. Es hat sich für mich wie eine Skizze gelesen bzw. ein Bericht, ich war allerdings ziemlich weit von deinem Prota entfernt. Mich hätte es sehr interessiert, wie er mit diesem Hindernis umgeht, wie er aktiv wird und möglicherweise nach Lösungen sucht. Er scheint alles hinzunehmen und betet das so runter, sodass bei mir auch schon die Frage aufkam, ob sich der Erzähler da einen Spaß mit mir als Leser erlaubt.
Eine Lösung des "Problems" steht für mich nicht im Fokus, die Prämisse ist eine andere, gegensätzliche. Die Irritation bzgl. der Glaubwürdigkeit des Erzählers ist verständlich, skurriler Text schreibst du, schwarzhumorig und absurd überspitzt würde ich dazutun, dennoch ist die Fragestellung eine ernste: Wie weit kann das Hinnehmen des vermeintlich unabänderlichen Schicksals gehen?
Die Haut an der Stelle, wo er fehlte, war nicht einmal gerötet, sie war glatt. Als ich mit dem Finger darüberstrich, spürte ich ein feines Prickeln, eine ungewohnte Irritation, die gut auszuhalten war.
Das meinte ich weiter oben mit der Distanz. Er verliert gerade seinen Zeh und geht da extrem nüchtern dran, scheint überhaupt keine Emotionen zu haben. Fast wie eine Maschine mit einem Bewusstsein, die sich selbst reflektiert. Wenn ich mir mich selbst in so einer Situation vorstelle, dann würde ein ganzer Cocktail an Emotionen in mir aufsteigen.
Ja, die normalmenschlichen Reaktionen wären Entsetzen, Panik, Sorge. Die Empfindungen, die du erwartest, bleiben aus und werden vertreten von einer grotesken Akzeptanz. Zu dem absurden Phänomen gesellt sich eine absurde Reaktion.
Ich dürfe mich nicht so hängenlassen und müsse ein wenig Übung in die Arme investieren. Bestimmt sei da noch Einiges zu holen.
Auch das wirkt auf mich skurril und wieder etwas distanziert. Es wird einfach als Fakt aufgenommen, dass er nach und nach seinen Körper verliert und auch der Nachbar fokussiert nicht diesen mysteriösen Prozess an sich, sondern geht auf die Folgen ein.
Genau, der Nachbar fügt sich in die Versuchsanordnung, nur der gute Vitri nicht.
Wir kamen richtig gut miteinander aus, was wohl auch der Grund dafür war, warum der Vitri meinen abgestorbenen Unterschenkel ohne Murren aus dem Bett entfernte.
Abgefahrene Stelle, total skurril und doch hat es mich abgeholt. Ich wollte weiterlesen und wissen, wie das wohl ausgeht. Allerdings hatte ich auch hier wieder ein Fragezeichen, was die Glaubwürdigkeit des Erzählers anging.
Der Seltsam-Tag tut seinen Job nicht. :D Im Ernst: Das ist die Krux des Textes, ich muss das Absurde als gegeben voraussetzen können, sonst funktioniert er nicht.
Ohne das Holpern, als der Reifen darüberfuhr, wäre uns das durchgegangen. Dem Vitri übergab ich am Ende des Tages einen Bonus, weil er das stinkende Etwas ohne Zögern in die Büsche geworfen hatte.
Auch hier hatte ich den Eindruck, dass der Erzähler lügt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Autofahrer über ein menschliches Körperteil fährt und das als vollkommen normal hinnimmt. Da muss doch automatisch ein Drama, ein Konflikt entstehen. Hätte es hier spannend gefunden, wenn dieser Konflikt szenisch ausgearbeitet worden wäre.
Autofahrer? :confused:
Klar, bei solchen Vorkommnissen muss ein Drama automatisch entstehen, so die Erwartung und das muss szenisch dargelegt werden. Dem widersetzt sich der Text, indem er behauptet, nein, es sei kein Problem, den Zerfall des eigenen Körpers als gegeben hinzunehmen. Insofern lügt der Erzähler nicht, sondern fügt sich der Prämisse des Textes.
Es gibt dieses Gelassenheitsgebet: Nimm hin, was du nicht ändern kannst usw., und ich als Ungläubiger habe mich gefragt, was passiert, wenn ich diese Vorstellung des Hinnehmens auf die Spitze, bzw. ins Absurde treibe, um den Fatalismus herauszustellen, der dem auch innewohnt. Das Ergebnis hier ist für mich nebenbei weniger verstörend als die Vorstellung, das Diesseits als Jammertal zu begreifen und mein Leben lang auf das Paradies im Jenseits hinzuarbeiten.
So bin ich mir sicher, das Abfallen der ersten Hand hat ihn ärger getroffen als mich, zumal der Hund vom Herrn Nachbar sofort zuschnappte und geräuschvoll die Knochen zermalmte.
Hier die Steigerung und ich finde gut, dass du so konsequent bei deinem Ton geblieben bist. So ist der Erzähler eben und er verändert sich auch durch die Geschichte hinweg nicht. Für mich war nur der Punkt der Glaubwürdigkeit nicht geklärt, allerdings habe ich den Text als etwas Neues wahrgenommen und bin froh, dass du ihn gepostet hast. So eine Geschichte liest man sicher nicht alle Tage.
Dann habe ich dich trotz der Glaubwürdigkeitskrise ein wenig gecatcht und das ist gut zu lesen. Schönen Sonntag, bis bald, peace, l2f

 
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Hallo lieber @linktofink ,

ich will selbstverständlich keinem seinen Eindruck absprechen (ist hoffentlich klar), aber mir liegt schon seit ein paar Komms was auf der Zunge. Das hast du jetzt selbst gesagt:

Eine Lösung des "Problems" steht für mich nicht im Fokus, die Prämisse ist eine andere, gegensätzliche. Die Irritation bzgl. der Glaubwürdigkeit des Erzählers ist verständlich, skurriler Text schreibst du, schwarzhumorig und absurd überspitzt würde ich dazutun. (...)
Ja, die normalmenschlichen Reaktionen wären Entsetzen, Panik, Sorge. Die Empfindungen, die du erwartest, bleiben aus und werden vertreten von einer grotesken Akzeptanz. Zu dem absurden Phänomen gesellt sich eine absurde Reaktion.

Du hast dabei ja - intuitiv oder geplant - ein literarisches Vorbild in der Literatur des Absurden, v.a. die der Sowjetzeit. Ich denke da an Kharms & Vvedensky, aber auch die Strugatzkis, Platonov, teils Lem spielen damit. Das Absurde im Mainstream (Arto Paasilinna) oder im Surrealismus (u.a. Heinz Emigholz).
Dazu gehört eben eine auf 'unschuldig' gebürstete, entweder bürokratische, fake-wissenschaftliche oder naive, rurale, Sprache; dass der Prota oder auch alle anderen Figuren nicht auf Gesehenes und Erlebtes adäquat reagiert / reagieren; spekulativer Realismus, wobei Seltsames eben erzählt wird, als wäre es nicht nur real, sondern auch gänzlich unbemerkenswert.
Die Diskrepanz zwischen Erzähltem und Erzählhaltung / Stil stellt eben genau Absurdität her, ebenso wie Humor (deshalb klingen dramatisch gemeinte Geschichten, die zu flaspig geschrieben wurden, eben unfreiwillig wie Satire / Humor).

Dein Text ist im Grunde ein best practice Beispiel für die Literatur des Absurden, schon wirklich ganz klassisch umgesetzt. Einer der Gründe, aus dem ich den Text so gern gelesen hab, weil es auch von einer Mündigkeit des Lesers ausgeht: Das Erzählte innerhalb der Fiktion eben nicht infrage zu stellen, weil nicht extra verhandelt werden muss, ob und was warum realistisch bzw. unrealistisch wäre.
Klar, das enthebt niemanden davon, einen in sich logischen, folgerichten Text zu schreiben - aber das ist hier ja absolut gegeben. Ich bin keine Expertin, aber soweit ich das sehe, gilt dieses Genre nicht unbedingt aus sich selbst heraus als spekulativ, sondern wenn im Crossover mit z.B. SF.

Also, keine Widerrede gegen andere Ansichten hier, nur ein kleiner Einwurf zur Unterstützung.

Liebe Grüße und dir noch einen schönen Sonntag,
Katla

 

Hei @Katla,

Du hast dabei ja - intuitiv oder geplant - ein literarisches Vorbild in der Literatur des Absurden, v.a. die der Sowjetzeit. Ich denke da an Kharms & Vvedensky, aber auch die Strugatzkis, Platonov, teils Lem spielen damit. Das Absurde im Mainstream (Arto Paasilinna) oder im Surrealismus (u.a. Heinz Emigholz).
Intuitiv, geplant schreibe ich selten. Wenn ich deine Liste so sehe, wird mir klar, ich sollte mehr in diese Richtung lesen, allenfalls die Strugatzkis und Lem sagen mir was.
Dein Text ist im Grunde ein best practice Beispiel für die Literatur des Absurden, schon wirklich ganz klassisch umgesetzt. Einer der Gründe, aus dem ich den Text so gern gelesen hab, weil es auch von einer Mündigkeit des Lesers ausgeht: Das Erzählte innerhalb der Fiktion eben nicht infrage zu stellen, weil nicht extra verhandelt werden muss, ob und was warum realistisch bzw. unrealistisch wäre.
Ich mag das auch, wenn Elemente des Settings quasi als Grundvoraussetzungen einfach gesetzt werden, ohne Erklärung, ohne Suche nach einem Warum?, wobei, wie du schreibst, "Seltsames eben erzählt wird, als wäre es nicht nur real, sondern auch gänzlich unbemerkenswert". Plus das unangemessene Handeln on top. Das verlangt natürlich nach einem stillen Einverständnis des Lesers, zum dem es manchmal nicht kommt.
Aufschlussreich auch was du über die Diskrepanz zwischen Erzähltem und Erzählhaltung und den Humor schreibst. Davon lebt ja auch der teils absurde Humor von Loriot.
Ich bin keine Expertin, aber soweit ich das sehe, gilt dieses Genre nicht unbedingt aus sich selbst heraus als spekulativ, sondern wenn im Crossover mit z.B. SF.
Oh, bei dem Einsortieren in Genres und Subgenres bin ich keine große Hilfe, dafür bin ich nicht genügend in der Materie unterwegs, bzw. zu wenig darauf fixiert.

Danke und viel Erfolg bei Deinem Sachbuch-Projekt, peace, l2f

 

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