- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 37
Der Kinderschänder
Lest bitte eine andere Geschichte, die hier ist zur Zeit nicht aktuell, steht nur aus Trotz noch da. Danke.
Am Morgen
›Heute gehe ich nach Hause‹, denkt Gernot, als er sich die Zähne putzt. ›Sie können mir keine Schuld nachweisen, denn ich habe niemals Kinder angefasst. Ich bin unschuldig wie ein Lama.‹
Er trocknet sein Gesicht ab, sieht sich im Spiegel in die Augen und sagt: »Du bist ein armes Schwein.« Und er weiß gar nicht, wie Recht er damit hat. Überhaupt weiß er Vieles nicht. Er weiß zum Beispiel nicht, warum und von wem er nach seiner Geburt zur Adoption freigegeben wurde. Er weiß auch nicht, dass es nicht der zerbrochene Teller war, weswegen ihn seine Adoptiveltern mit fünf ins Heim brachten, sondern die Tatsache, dass er kein niedliches kleines Baby mehr war, das man wie ein Ding behandeln konnte. Er denkt nur an die vielen Momente im Heim, wenn er zu Unrecht beschuldigt wurde und sich nicht gegen die Bestrafung wehren konnte. »Aber diesmal spielt Recht und Ordnung mit. Diesmal werde ich meine Unschuld beweisen können.«
Er zieht sein weißes Hemd an, die schwarze Hose, das tannengrüne Sakko. Bindet sich die dunkelrote Krawatte um. Nicht gerade schick, aber das hat ihm der Sozialarbeiter besorgt, denn Gernot hat niemanden, der sich um ihn kümmert. Sogar seine beiden Freunde, Hans und Werner, scheinen an seine Schuld zu glauben. Gernot hat ihnen Briefe geschrieben, aber sie wurden nicht beantwortet.
Während er darauf wartet, zur Verhandlung vorgeführt zu werden, räumt er seine Zelle auf, in der er die letzten fünf Monate allein verbracht hat. Allein mit sich und seinen Gedanken.
Oft hat ihn während dieser fünf Monate die Trauer darüber befallen, dass es niemanden gibt, der an ihn denkt. Jetzt überlegt er, wie er sich seinen Freunden gegenüber verhalten soll, wenn er rauskommt. Fragt sich, ob es denn wirklich Freunde sind, wenn sie einfach glauben, was man ihm vorwirft. ›Jetzt‹, denkt er, ›muss ich bald zu einer Entscheidung kommen. Schließlich gehe ich in wenigen Stunden nach Hause … Aber ich werde es ihnen ja doch nicht nachtragen. Für mich muss eine Freundschaft auch das aushalten. Ich kann doch nicht einfach meine Freunde wegschmeißen, weil mich irgendjemand mit einem Kinderschänder verwechselt. Wenn ich erst einmal freigesprochen bin, werden sie nicht mehr an mir zweifeln. Hätte ich bloß schon alles hinter mir…‹
Im Verhandlungssaal
»Angeklagter, Sie haben nun die letzte Gelegenheit ein Geständnis abzulegen, bevor wir mit der Beweisführung beginnen.«
»Herr Richter, Hohes Haus: Ich war es nicht.« Gernot schaut zu seinem Anwalt, aber der sitzt da und putzt sich die Fingernägel.
»Gut, Sie haben somit keinen Anspruch auf mildernde Umstände, dann bitte ich den Sachverständigen, Herrn Doktor Breitmüller, um seine Stellungnahme. Herr Doktor Breitmüller, darf ich bitten …«
Die Geschwornen nicken wissend und aller Zweifel beraubt, als die Befunde der genetischen Untersuchungen verlesen werden. Fallweise wandern ihre Blicke zum Angeklagten, um nach einem Wimpernzucken oder Grinsen wieder aufmerksam den Worten des Sachverständigen zu folgen. Gernot kann es gar nicht fassen. Er möchte bei jedem Satz lauthals widersprechen, aber er ist nicht am Wort. Der Anwalt betrachtet mit einem Zufriedenheit ausstrahlenden Gesichtsausdruck seine sauber geputzten Fingernägel.
›Das kann ja bitte nicht mit rechten Dingen zugehen. Ich habe niemals auch nur einem Kind etwas zuleide getan! Man kann mir doch nicht schon wieder etwas anhängen, was ich gar nicht gewesen bin! Irgendwann muss das doch ein Ende haben! Ich hab die Kinder nicht auf dem Gewissen, verdammt nochmal!‹
Der Sachverständige beendet seinen Vortrag, der Richter bedankt sich, tauscht ein freundliches Kopfnicken mit dem Anwalt aus und wendet sich an Gernot:
»Was sagen Sie zu diesen Beweisen, Angeklagter?«
»Ich kann dazu nichts sagen, außer, dass ich es nicht war. Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass hier eine genetische Übereinstimmung vorliegt, jedenfalls war ich es nicht.«
»Ha! Eine Übereinstimmung! Siebzehn Kinder und siebzehn Mal war es Ihr Sperma! Was wollen Sie da noch leugnen?«
»Ich weiß davon nichts.«
»Nehmen Sie Drogen?«
»Nein, Hohes Gericht, richtige Drogen nicht, nur ab und zu einen Joint.«
»Also doch Drogen. Kann es nicht sein, dass Sie im Drogenrausch manchmal Dinge tun, von denen Sie anschließend nichts mehr wissen?«
»Ich denke, Sie wissen, dass man auf Haschisch keine solchen Aussetzer hat.«
»Es geht hier nicht um mein Wissen, Angeklagter. Es geht um die Kinder, die Sie laut Anklageschrift auf dem Gewissen haben. Ob im Rausch oder nicht im Rausch: Das Gutachten beweist, dass Sie die Kinder vergewaltigt und damit umgebracht haben! Und wenn es nicht im Rausch war, ist es noch viel schlimmer, dann haben Sie es nämlich bewusst getan!«
»Nein!«, schreit Gernot den Richter an.
»Wollen Sie den Rest der Verhandlung in Ihrer Zelle verbringen?«
Gernot sitzt wie versteinert da, links und rechts stützt er sich mit den Händen auf der Holzbank ab. Sein Hemd ist nassgeschwitzt, ihm wird kalt. Er spürt, wie der Schweiß in kleinen Bächen von seinen Achselhöhlen hinabrinnt. Mit dem Ärmel des Sakkos trocknet er zwischendurch seine Stirn. ›Was kann ich bloß tun, um meine Unschuld zu beweisen? Wie sollen diese Geschwornen die Wahrheit finden, wenn sie an dieses Gutachten glauben? Warum weiß mein Anwalt nicht, wie er mir helfen kann, außer mit dem Rat, ein Geständnis abzulegen, damit man mir mildernde Umstände gibt? Glaubt mir am Ende nicht einmal mein Verteidiger? Liegt es daran, dass er nur ein Pflichtverteidiger ist, weil ich mir keinen anderen leisten kann? Hätte ich fünf- oder zehntausend Euro, dann sähe die Sache wahrscheinlich jetzt anders aus. Aber man kann mich doch nicht einfach für nichts die restlichen Jahre meines Lebens ins Gefängnis stecken!‹ Gernot konzentriert sich darauf, seine Gesichtsmuskeln zu kontrollieren, um nicht auf der Stelle loszuheulen. Er fühlt sich wie ein kleines Kind: Den Großen ausgeliefert, die mit ihm alles machen können, wonach ihnen der Sinn steht.
Vom Staatsanwalt werden Fotos herumgereicht, von brutalst zugerichteten Kinderleichen. Gernot ist der letzte in der Reihe, der sie sieht. Während die Geschwornen die Bilder anschauen, werfen sie ihm verächtliche Blicke zu. Keine Frage, sie halten ihn alle für schuldig. Als er selbst die Fotos betrachtet, wird ihm schlecht. ›Nein, das kann doch gar nicht wahr sein, für sowas will man mich verantwortlich machen?!‹ Er sieht Kinder mit aufgerissenen Genitalien; Kinder, deren Haut nur mehr blau-violett ist; Kinder, die niemals wieder lachen werden. Jetzt, als er diese Bilder sieht und sich das unendliche Leid vorstellt, das die Kinder ertragen mussten, kann er sich nicht mehr zurückhalten: Sein Gesicht gleicht einem Vulkanausbruch, verzerrt sich, wird rot, und aus den Augen pulsiert Salzlava.
Der Richter beobachtet ihn und fragt: »Welche Erinnerungen werden in Ihnen wach, die sie zu solchen Gefühlsausbrüchen treiben, Angeklagter?«
»Erinnerungen?! Diese Bilder haben mit meinen Erinnerungen nichts gemeinsam, tut mir Leid, aber Sie sollten Ihre Zeit darauf verwenden, den Mann zu suchen, der diese Kinder so zugerichtet hat. Dieses Schwein läuft nämlich noch immer frei da draußen herum!«
»Muss ich Sie wirklich aus dem Gerichtssaal verweisen?«
Der Staatsanwalt vernimmt den ersten Zeugen, einen Lehrer, der gesehen haben will, wie Gernot mit einem der misshandelten Kinder gesprochen hat, bevor es verschwunden ist und erst viel später halb verwest gefunden wurde. Der Lehrer sieht Gernot ins Gesicht und sagt: »Ja, das ist der Mann. Ich erkenne ihn eindeutig. Er stand vor der Schule, sprach mit dem siebenjährigen Oliver und dann gingen beide gemeinsam weg.«
Auch zwei Freunde von Opfern bestätigen, Gernot gesehen zu haben. Danach verzichtet der Staatsanwalt auf weitere Verhöre.
Gernot bricht innerlich noch mehr zusammen. ›Was kann ich bloß tun, um hier wieder herauszukommen? Ich war mir doch so sicher, dass ich heute heimgehen werde, weil sie mir nichts beweisen könnten. Warum ist jetzt plötzlich alles anders? Warum passiert das mir? Muss ich wirklich an mir zweifeln? Hab ich am Ende wirklich solche dunklen Momente … nein, das kann einfach nicht sein. Wo ist dieses Arschloch, das die Kleinen so misshandelt hat? Hab ich heute Morgen gedacht, es sei alles wie im Heim? Pah! Damals ging es um Tage des Eingesperrtseins, das war zu schlucken, auch wenn man nicht wirklich schuld war. Aber hier wird über lebenslange Haft verhandelt, für etwas, woran ich unschuldig bin. Es kann doch nicht mein Schicksal sein, immer für andere zu büßen?‹
Der Staatsanwalt meint sarkastisch: »Ein bisserl vorsichtiger hätten´S schon sein können und sich einsamere Platzerln aussuchen. Die Zeugenliste ist ja unheimlich lang, und ohne diese Zeugen hätte man Sie wohl auch nicht so schnell ausfindig machen können. Es ist grad so, als wollten Sie eine möglichst dicke Spur legen, damit wir sie leicht finden können. Dürfen´S beim nächsten Mal halt nicht mehr so öffentlich auftreten, gell. Aber dazu wird es jetzt ohnehin nicht mehr kommen, denn Sie sehen in Ihrem Leben sicher kein einziges Kind mehr.«
»Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.«
Verurteilt
Zurück in der Zelle zieht sich Gernot aus. Kurz vor der Urteilsverkündung hat er aus Angst in die Hose gemacht, und das Hemd ist zum Auswringen nass. Er wäscht sich beim Waschbecken und zieht frische Sachen an. Hose und Unterhose schmeißt er in den Müll. Es stinkt in der ganzen Zelle.
Gernot ist nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf pfeift es, alles dreht sich im Kreis, die Umgebung scheint unwirklich und weit weg. Als hätte er einen Senderausfall, fühlt er sich, und leer. Einer ausgelaufenen Batterie gleich. Wie ferngesteuert packt er seine Sachen zusammen, putzt die Zelle. Legt sich anschließend aufs Bett und starrt die nikotinvergilbte Decke an. Stundenlang liegt er so, denkt nichts, bewegt sich nicht, reagiert auch nicht, als Essen in die Zelle gebracht und wieder abgeholt wird. Nur manchmal verirren sich einzelne Bilder in sein Bewusstsein, um sogleich wieder in unbewusste Regionen verdrängt zu werden. Irgenwann fällt er in einen traumlosen Schlaf.
Unterdessen
Im Strafgefängnis Stein verbreitet sich die Meldung wie ein Lauffeuer: Der Kinderschänder, den halb Mitteleuropa am liebsten geköpft sehen würde, wird morgen hierher verlegt.
»Schau«, beginnt Josi seinem unerfahrenen Zellenkollegen Ibrahim zu erklären, »wer sowas tut, ist kein Mensch. Das ist wirklich ein schweres Verbrechen, da sind wir alle Engerl dagegen. Deshalb kommen die nicht ins Gefängnis, sondern in die Hölle. Egal, wann du liest, dass so ein Schwein verurteilt wird, kannst du sicher sein, dass der seine Strafe bekommt… Dadurch verkürzt sich die Haft manchmal auf ein Minimum… Sich an so einem abzureagieren ist ein sozialer Akt.« Dann lacht er laut auf. »Und wer den größten Schwanz hat, darf als erster mit ihm duschen gehen…«
Die Stimmung im ganzen Gefängnis erinnert an Weihnachten, als alle noch kleine Kinder waren und an das Christkind glaubten. Alles ist friedlich, die Häftlinge verstehen sich prächtig, auch mit den Wärtern, die sind zahm. Es macht ihnen Spaß, die Zellenbelegung neu einzuteilen, damit der Neue die richtigen Kollegen bekommt… Die einzige Spannung, die in der Luft liegt, ist die Vorfreude auf den nächsten Tag, auf die Ankunft von Gernot. Er ist für sie ein Geschenk, einer, an dem man alle Aggressionen auslassen darf und dabei sicher sein kann, dass zufällig gerade niemand herschaut. Eine alte, traditionelle Gefängnisspielregel.
Überstellung
Die Zellentüren sind offen. Das Empfangskomitee formiert sich. Die Gefangenen, die nicht in einem der Gefängnisbetriebe arbeiten, verteilen sich so, dass bei jeder Zellentüre mindestens einer steht. Gernot kommt durch eine Gittertür am Ende des langen Ganges, da beginnen sie im Takt zu klatschen. Insgesamt ist es unheimlich laut und Gernot weiß nicht, was es zu bedeuten hat. ›Wird hier jeder so begrüßt?‹ Er versucht, beim Vorbeigehen in den Gesichtern einiger Häftlinge zu lesen, aber er kann mit ihren Blicken nichts anfangen, findet keine Erklärung für diesen seltsamen Empfang. Dann weist ihn der Wärter in eine Vier-Mann-Zelle.
Drei bullige Typen, jeder mindestens einen Kopf größer und doppelt so viel an Masse wie Gernot, warten in der Zelle auf ihn. Sie nicken ihm im Chor mit vorgeschobenen Unterkiefern zu, Hassan sagt ein langgezogenes »Hiii«. Gernot ist sich nicht sicher, ob das freundlich gemeint ist, aber er sagt ein nettes »Hallo«.
Daraufhin springt Horst vom Stockbett, stellt sich neben Gernot, legt einen Arm um seine Schulter und spricht mit gekünstelt hoher Stimme: »Ja hallo, wen haben wir denn da? Ist das unser kleiner Kinderficker?« Dabei nimmt er den Arm wieder von Gernots Schulter und greift ihm von hinten zwischen die Beine.
»Nein«, erwidert Gernot, »ich hab das nicht gemacht. Das müsst ihr mir glauben.« Er bekommt eine üble Vorahnung, mit Angst vermischt, wird kreidebleich.
Horst drückt ihm seine Fingerspitzen in die Hoden. Gernot will einen Schritt zur Seite gehen, der Hand ausweichen, doch Horst drückt nur noch fester zu und hält ihn mit der anderen Hand fest. »Spiel hier nicht den Märchenonkel, du bist eindeutig überführt. Und heute Nacht gehörst du mir. Damit du weißt, was du den Kindern angetan hast, du Schwein… Strafe muss sein, das weißt du doch wenigstens, nicht?«
Abends
»Nein!«, schreit Gernot. »Tu mir das nicht an!« Dann beginnt er wieder zu heulen; erst aus Angst, dann vor lauter Schmerzen.
Die Fenster zum Gefängnishof sind im ganzen Gebäude offen, hinter jedem Fenster sitzen Männer, die mit Besteck oder Blechtellern gegen die Gitter schlagen. Sie machen Lärm, der nur in ganz seltenen, kurzen Momenten, nur, wenn es sich zufällig ergibt, daß eine Zehntelsekunde lang niemand gegen ein Gitter schlägt, die Schreie von Gernot durchlässt.
Der Wärter geht durch den Gang, schaut durch die Guckfenster der Zellentüren, und vermerkt in seinen Bericht: »21 Uhr: Keine besonderen Vorkommnisse, alles ruhig.« Zu seinem Kollegen sagt er: »Was ist, spielen wir eine Runde?«, und deutet auf den Computer.
»Ja, ist okay. Sonst haben wir ja eh nichts zu tun…« Der Kollege steckt die Joysticks an, fährt den PC hoch. Der andere schließt die Tür – nur, damit niemand sieht, dass hier gespielt wird.
Irgendwann nach zweiundzwanzig Uhr drückt einer der beiden den Lichtschalter; in den Zellen wird es finster. Der Lärm verstummt. Gernot wimmert nur mehr leise vor sich hin, wie ein Säugling, der sich die Stimme bereits erfolglos aus dem Leib geschrieen hat. Hilflos, verlassen.
»Und morgen Früh wird geduscht, kleines Arschloch«, flüstert ihm Hassan zu. Die drei Männer lachen laut auf, dann ist Stille.
Morgen
Thomas steht extra früh auf, um möglichst schnell die Zeitung holen zu können. Zutiefst befriedigt liest er die Schlagzeile: »Lebenslang für Kinderschänder« Sein Herz hüpft vor Freude. Sofort schaut er in den Innenteil, erblickt ein Foto, das ihm alles bestätigt. Es könnte ein Foto von ihm selbst sein. Endlich hat er seinen heimlichen Rivalen ausgeschaltet. Endlich hat seine Mutter keinen Grund mehr, ihn unter Druck zu setzen.
Beim Frühstück sagt sie zu ihm, nichts ahnend: »Thomas, du musst mir das Balkongeländer diese Woche neu streichen.«
»Mama, ich muss jetzt erst einmal gar nichts. Ich fahre anschließend zum Flughafen und kaufe mir ein Ticket nach Thailand.«
»Bist du verrückt? Du kannst mich doch nicht einfach alleine lassen! Wie kommst du auf solche Gedanken?!«
»Ich will nicht mehr, Mama. Tag für Tag bin ich dein Dienstbote, dein Sklave, werde herumkommandiert. Jetzt will ich endlich mal raus hier.«
»Du hast mir verdammt nochmal dankbar zu sein, dafür, dass ich dich behalten hab und nicht deinen Zwillingsbruder!« Darauf hat Thomas nur gewartet. Der Satz, den er hört, seit er denken kann. Aber heute fühlt er sich nicht mehr von ihm erschlagen. Heute muss er nicht mehr seine Dankbarkeit beweisen. Darauf hat er lange genug hingearbeitet. Er nimmt die Zeitung zur Hand und hält sie der Mutter vor die Augen. »Da, schau: Dein Sohn, mit dem du mich seit Jahren unter Druck setzt!« Sie nimmt die Zeitung, betrachtet das Foto, sieht Thomas, schüttelt ungläubig den Kopf, liest den Text, und starrt Thomas fassungslos an. Sagt nichts, lässt ihn gehen.
»Thailand waits for me, for me, for me, only for me«, singt er vor sich hin, während er seine Koffer packt. Thomas ist schon so geil, dass ein Gedanke an ein Kind reicht, und das Blut schießt ihm in den Schwanz.
Zwei Tage später
Das Seil über Gernots Kopf wird abgeschnitten. Häftlinge tragen ihn in einem Blechsarg aus dem Gefängnis in den Leichenwagen.
Nach dem Eintrag »Selbstmord durch Erhängen, keine Spuren von Gewaltanwendung« wird der Gerichtsakt, auf dem Gernots Name prangt, geschlossen.