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Der Kreislauf des Lebens
Es war einmal eine wunderschöne alte Linde. Sie stand auf einer Wiese, hatte eine mächtige Blätterkrone und einen beeindruckenden Stamm. Sie war schon viele, viele Jahre alt und galt als sehr weise.
Eines Tages im Sommer zog ein junges Eichhörnchen bei ihr ein. Die Linde freute sich über den Untermieter und hieß es willkommen.
Das Eichhörnchen war erst diesen Frühling geboren worden und hatte seine Eltern früh verloren. Gerade mal alt genug um sich sein tägliches Futter alleine zu besorgen, wusste es noch nicht viel vom Leben.
Am Ende des Sommers sagte die alte Linde deshalb:
„Es wird jetzt bald Herbst, danach kommt der Winter. Im Winter fällt kalter Schnee vom Himmel, der alles bedeckt. Die Natur schläft ein und du musst nun Vorräte sammeln, denn im Winter findest du nichts zu essen."
Das Eichhörnchen war sehr erstaunt, es konnte sich unter manchen der Begriffe nichts vorstellen, doch es tat, was der Baum ihr sagte, denn natürlich wollte es nicht verhungern. Es sammelte viele Vorräte und vergrub sie in der Erde.
Als im Herbst die alte Linde anfing ihre Blätter abzuwerfen, erschrak das Eichhörnchen sehr:
„Liebe Linde, was ist mit dir? Du verlierst jeden Tag so viele Blätter! Bist du krank?“
Die Linde lächelte und klärte das kleine Eichhörnchen auf:
„Das ist das, was ich im Herbst mache. Auch ich bereite mich auf den Winter vor, nur anders als du. Ich halte eine Art Winterschlaf und ziehe mich tief in mein Inneres zurück. Deshalb fallen alle meine Blätter ab. Das macht mir jedoch nichts aus, ich kann sie beruhigt gehen lassen. Sie nähren den Boden und außerdem wachsen im Frühling alle wieder nach. Sogar noch mehr als im vorigen Jahr. Auch eine neue Schicht Rinde bekomme ich dazu. So ist es immer schon gewesen und wird es immer sein. Alles folgt einem inneren Rhythmus, alles wiederholt sich und doch ist es jedes Mal ein klein wenig anders.“
Als die ersten Schneeflocken von Himmel fielen, hatte die Linde bereits alle Blätter abgeworfen. Das Eichhörnchen war ein bisschen traurig, die Linde so kahl dastehen zu sehen. Es konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Tausende von Blättern wieder nachwachsen konnten.
Bald wurde das Eichhörnchen sehr müde und träge. Es zog sich in seinen Bau zurück und verschlief oft mehrere Tage. Zwischendurch kam es nur heraus um nach seinen vergrabenen Vorräten zu suchen.
Die Linde hatte aufgehört mit ihm sprechen und es fühlte sich ein bisschen einsam. Es konnte nun mit den Begriffen Winter und Schnee etwas anfangen, doch es machte keinen Spaß. Der Winter war kalt und ziemlich unsympathisch.
Eines Tages, das Eichhörnchen hatte wieder einmal ein paar Tage verschlafen, wachte es auf und roch etwas Köstliches. Es rieb sich den Schlaf aus den Augen und lugte aus seinem Bau. Wie herrlich! Die Sonne schien und es war warm! In der Wiese waren nur noch vereinzelte Schneefelder zu sehen und überall blitzten frische saftige Grashalmspitzen aus dem Boden. Und dieser Duft überall! Es war unbeschreiblich.
Dann entdeckte das Eichhörnchen kleine grüne Knospen an den Ästen der Linde. Über und über war sie damit bedeckt und es strahlte:
„Die Linde hatte also recht. Im Winter schläft die Natur um im Frühling wieder mit neuer Kraft zu erblühen. Auch ich fühle mich wie neugeboren. Ich fühle eine Kraft und Energie in mir, wie seit Monaten nicht mehr“
„Guten Morgen!“, ertönte da die Stimme der Linde „Ich freue mich, dass du den Winter gut überstanden hast. Nun hast du also ein ganzes Jahr erlebt und kennst den Kreislauf der Lebens.“