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Der letzte Venediger

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25.06.2011
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Der letzte Venediger

Der letzte Venediger


Heute Morgen ist in Dorf alles anders. Dabei haben sie die Dinge wieder einmal geregelt. Unter sich, wie immer. Natürlich wie immer. Gendarm Frers lehnt am Fenster seines Büros. Eine unwirkliche Prozession zieht langsam an ihm vorbei. „Sie wollen hoch zur Almkapelle“, Frers schüttelt den Kopf. Bis nach Italien hatte ihr Einfluss gereicht. Die italienische Behörde würde den Venediger erst nach dem Gottesdienst übernehmen. Ein letztes Mal würde er dann den Höhenzug überqueren und in seiner Heimat endlich zur Ruhe kommen.
Ein eigenartiger Anblick; der Sarg auf einem alten Pferdekarren, dahinter mit gesenkten Köpfen fast das ganze Dorf. Die Berti geht in der ersten Reihe. Sie weint leise in sich hinein. Der Hans ist nicht dabei. Und hinter ihnen? Stauen sich Touristen. Einige machen Fotos, andere hupen ungeduldig.


Vor etwa zwei Wochen bereitete Frederico die alte Ausrüstung für seine Wanderung vor. Obwohl er beinahe siebzig Jahre alt war, gefiel es ihm noch immer, in der Tradition der „Venediger“ unterwegs zu sein. Er war ein Kind, als sein Vater ihn auf erste Wanderschaften in das Hochgebirge mitnahm. Unterwegs erzählte dieser ihm die alten Geschichten über die „Venediger“. Nach dem Tod des Vaters zog Frederico allein los. Jahr für Jahr, bis heute. Durch die Berge nach Österreich. Und so wie in alten Zeiten schützten der wollene Umhang, Filzhut und die schweren Wanderschuhe aus Leder vor Wetter und Berg. Der Haselnussstecken mit einer geschmiedeten Stahlspitze war seit Generationen in Familienbesitz und half nicht nur um schwierige Ecken herum. Tatsächlich waren einige seiner Ahnen richtige Venediger gewesen, die ihr Geld mühsam in den Bergen verdienten. Sie suchten nach Mineralien, die dem wertvollen venezianischen Glas die besondere Farbe gaben. Als Zigeuner der Berge oder Hausierer wurden die Venediger beschimpft. Wenn sie in den Tälern unbekannte Kräuter oder prächtige Kristalle für ein Essen und ein Bett anboten, wurden sie oft fortgejagt. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Frederico hatten seine Wanderungen in so manches Bett geführt. Frauen mochten den stillen Italiener. Auch die Berti mochte ihn. Und in den Nächten, die er in Dorf verbrachte, liebten sie sich leidenschaftlich. Doch Berti wollte mehr als nur einige Nächte im Jahr. Frederico nicht. Und irgendwann ließ sie ihn nicht mehr hinein. Über die Zeit ergaben sich aber auch tiefe Männerfreundschaften, die bis heute hielten. Der Hans war eine solche Freundschaft. Gutgelaunt legte Frederico sich seine Tour zurecht, an deren Ende er den Hans besuchen würde.
Hans freute sich auf Frederico. Er selber hatte ihn zum letzten Mal vor fünf Jahren besucht. Damals ging es ihm nicht gut und er hatte seine Wanderung beinahe abbrechen müssen. Auch die Tage bei Frederico waren nicht wie sonst. Sie schwiegen viel miteinander. Frederico kannte seinen Freund gut genug, um nicht zu fragen, was mit ihm los sei. So gingen sie Gesprächen über zittrige Beine, kraftlose Hände und einem Ziehen in der Brust aus dem Weg. Eines Morgens, noch im Dunkeln, machte sich Hans wortlos auf und fuhr mit dem Zug nach Hause. Frederico würde auch das verstehen. Damals verspürte Hans Wehmut. Die Gedanken an Alte, die mit leerem Blick auf den Bänken rund um die Pflegeheime saßen, versetzten ihm Stiche.

In Österreich gibt es entlang eines eisgrauen Flusses, unweit der italienischen Grenze, neun Gemeinden. Dort leben etwa zwanzigtausend Menschen. Die Alten unter ihnen betreiben noch heute Milch- und Forstwirtschaft, Viehzucht, altes Handwerk. Auch wenn sie es eigentlich nicht mehr brauchten. Fast alle, besonders die Jungen, leben jedoch vom Fremdenverkehr. In den hübschen, holzverkleideten Häusern ist immer ein Zimmer frei, mit dem sich etwas Geld verdienen lässt. Und vom deftigen Frühstück verstehen die Leute dort richtig was. Die Berge nördlich und südlich dieses Tales reichen bis über dreitausendfünfhundert Meter hinauf. Sie gehören zu den höchsten im Land und locken die Urlauber mit Skipisten, Wanderwegen, Biketrails und kristallergiebigen Geröllrinnen. Die eher gemütlichen Besucher fahren mit der historischen Dampflokomotive und dem Fotoapparat vor dem Gesicht den Fluss entlang; durch Ortschaften, die heute noch Dorf, Ort oder Wald heißen. Das sind einfache, aber zweckmäßige Ortsnamen. In diesem Tal findet ein sanfter Tourismus statt. Doch in der Hochsaison ist nachts in den überhitzten Tanzschuppen von Dorf und Wald von Sanftheit nicht viel zu spüren. Und wenn sich durch Urlaubsstimmung und Alkohol in der Enge der Tanzschuppen hitzige Emotionen einen Weg suchen, dann regeln die Töchter und Söhne der alten Steinmetze und Milchbauern das auf ihre Weise. Den kernigen und zweckmäßigen Menschen dieser Hochgebirgsregion haben die Städter nicht so viel entgegen zu setzen - außer gescheiten Rückziehern.

Vor fünf Nächten waren die Dealer nicht sehr gescheit. Sie suchten das schnelle Geschäft auf ihrem Weg nach Salzburg und ließen sich nicht durch wohl gemeinte Worte vertreiben. Zwischen den ausgelassenen Urlaubern in den Discos fühlte sich die Drogenbande wohl. Hier kannten sie sich aus. Jedenfalls besser als in den Bergen. Leicht wurden sie ihre Pillen, Tropfen und Pulver los, die jede Nacht zu einer Besonderen machten. Doch für die fünfzehnjährige Jessica endete die Nacht nicht gut. Sie probierte alles aus, was ihr angeboten wurde. Und in der Frühe brach sie auf der Tanzfläche zusammen.
In diesem Moment wurden aus ruhigen Worten Taten. Die Fremden wurden herausgegriffen. Ganz leise, damit die Urlauber nichts mitbekamen. Und jetzt meinten es die Söhne der Waldarbeiter, der Steinmetze und Schmiede nicht mehr sehr gut. Mit ihren ausgeschlagenen Zähnen und Knochenbrüchen fanden die Dealer keine Ersthilfe - der einzige Arzt von Dorf kämpfte um Jessicas Leben.
Die Bande würden nun Ruhe halten und aus Dorf verschwinden. Unauffällig, in kleinen Grüppchen. Mit der Lokalbahn in Richtung Salzburg, um dort
abzuliefern.
Hier war erst einmal kein Geschäft mehr zu machen.

Am nächsten Morgen führte Berti kurz nach Dienstbeginn Jessicas aufgebrachten Vater in Frers´ Büro. Ein Tourist aus Ostdeutschland. Dr. B. war ein guter Arzt und hatte das Mädchen durch die Nacht gebracht. Das war nicht leicht, denn niemand hatte Jessica einen Zettel um den Hals gehängt, dem der Doktor entnehmen konnte, welche Drogen sie ihr gegeben hatten.
Dr. B. hatte beruhigend zu dem Vater gesagt, er müsse sich keine Sorgen machen. Jessica ginge es schon wieder besser. Und diese Typen, die ihr das antaten, würden sie schon bekommen. Es sei alles geregelt.
Was den Vater aufregte, war allerdings nicht der Zustand seiner Tochter, sondern das verblüffte Gesicht von Frers, der nichts von den Vorgängen der vergangenen Nacht wusste. Niedergeschlagen griff Frers zum Hörer. Er rief das LKA in Salzburg an – meldete mit leiser Stimme, was er gehört hatte. Er gab die Verantwortung ab. Die Berti stand still mit ihrem Schrubber in der Bürotür und schüttelte den Kopf.

In dem hübschen Tal mit dem eisgrauen Fluss wurde die Bundesstraße als Transitstrecke für Drogen genutzt.
Das hatte das Landeskriminalamt vor einigen Jahren entdeckt. Internationale Dealerbanden transportierten die Drogen im großen Stil über Italien nach Österreich und Deutschland. Das LKA machte mit intensiven Verkehrskontrollen das Tal dicht. Der Transport über die Straße wurde für die Dealer uninteressant. Die schlimmen Nachrichten in den Medien sorgten dafür, dass diese Region auch von den Urlaubern gemieden wurde. Nach und nach erholte sich der Tourismus.
Seit dem vergangenen Jahr kamen die Drogenbanden jedoch wieder. Doch nicht über die große Straße, sondern über die alten Grenzübergänge in den Bergen. Sie nutzen längst vergessene Wege abseits beliebter Routen der Bergwanderer.
Nur wenige der Dealer waren bergerfahren. Die Träger kannten sich im Gebirge nicht aus, hatten aber breite Schultern für die großen Rucksäcke. Die unzähligen kleinen Tütchen und Fläschchen wogen schwer. Das Geschäft war mühsam, aber einträglich. Unterwegs zu den großen Abnehmern ließ sich unter den Urlaubern so einiges direkt absetzen.

Vor vier Tagen versprach das LKA dem Gendarm Frers die Dinge zu regeln.
Natürlich hatten die Dealer Informanten in Salzburg. Das Tal wurde ihnen zu heiß. Sie änderten ihre Pläne und zogen sich in die Berge zurück. Sie mischten sich unter die Wanderer und Hobbystrahler und brachen sofort in ein Nebental auf. Doch sie stiegen höher als die Touristen, ließen die bewirtschafteten Hütten weit hinter sich und gingen weiter zu einer aufgegebenen Grenzstation. Dort wollten sie einige Tage warten, bis wieder Ruhe eingekehrt war.

Doch das LKA blieb in Salzburg. Es war ein langes Telefonat, bis der Leitende des LKA davon überzeugt war, dass Frers´ Anruf die Reaktion eines überforderten Gendarmes auf einen aufgeregten Vater war, dessen Tochter bei einem Discobesuch zu viel Alkohol getrunken hatte. Und als der Bürgermeister aus Dorf den Hörer auflegte, nickte er der Berti erleichtert zu. Neun Bürgermeister wollten keine Unruhe im Tal. Sie befürchteten eine schwierige Saison mit ausbleibenden Touristen.

Auch die Bande in der Grenzstation erfuhr natürlich, dass sich das LKA heraushalten würde. Doch für einen Abstieg war es zu spät geworden. Es dämmerte bereits. Die Bande richtete für eine Nacht ein. In den Rucksäcken war genügend Alkohol dafür. Und ein paar bunte Pillen halfen dabei, die Blutergüsse und Schmerzen gebrochener Fingergelenke zu vergessen.
Und dann traf Frederico der „Venediger“ an dem Grenzhaus ein. Der kam ihnen gerade richtig.

Minutenlang kämpfte Frederico verbissen um sein Leben. Noch konnte er ihren Hieben und Stichen ausweichen. Und das, was durchkam, drang nicht durch seinen dichten Umhang. Noch nicht. Ein Ende in den Bergen hatte der Venediger sich immer gewünscht. Aber nicht solch eines. Trotz seines Alters war er sehnig und zäh. Doch nach und nach wurde er müde. Und auch wenn er mit seinem Stecken einige der Angreifer schwer getroffen hatte und die irgendwo in der Dunkelheit vor Schmerzen wimmerten und fluchten – sie waren einfach zu viele.

Vor drei Tagen nahm Frers sich frei. Er wollte einen klaren Kopf bekommen, sich abfinden mit dem, was an dem Tag zuvor geschah. Ob die Wachstube besetzt war oder nicht, spielte keine Rolle. In Dorf würde das niemanden interessieren. Seit Frers seinen Dienst angetreten hatte, gab es nicht eine Angelegenheit, die ihm aus der Dorfgemeinschaft zur Klärung angetragen wurde. Und nicht nur damit spielten sie ihm übel mit. Der Bürgermeister strich Planstellen, Mitarbeiter wurden nach Wald abgezogen. So wurde aus seiner Gendarmerie eine Wachstube.

Frers fuhr zum Jagersteig. Die Berti gab ihm diesen Tipp: „ Wenn´s moi was geg´n Ihre Höhenangst tuan woin, dann san´s da richtig.“ Und nun fuhr er durch eine Landschaft, die so anders war als die, in der er seine Jugend verbracht hatte. Graslandschaften mit Kühen – die waren ihm nicht fremd. Aber das Land seiner Kindheit war weit: Wiesen, Küste und Meer. Hier jedoch machten die Berge alles eng. Schnürten ihn ein und nahmen ihm die Luft.
Sein Vater Eibe Frers hatte zwei Kutter an der Nordseeküste liegen und in seinem Haus eine Ferienwohnung. Und die sehr hübsche Kathi Xander wollte raus aus dem Bergland Österreichs – sie hatte so ihre Gründe. Und sie wollte das Meer sehen. Kathi mietete für ein paar Tage die Wohnung bei Eibe Frers. Und zwei Jahre später kam Xaver mit zwei Nationalitäten zur Welt, und mit Vor- und Hausnamen, die nicht so recht zueinander passten, aber besser klangen als Xaver Xander.
Xaver Frers wollte schon als Kind nicht sein Leben lang nach Fisch riechen, wie sein Vater. Er wollte Polizist werden. Und das wurde er auch. Doch die zaudernde österreichische Seite in ihm verhinderte eine Laufbahn bei der Kripo. Xaver wurde nur Streifenpolizist.
Er meldete sich zu einem Austauschprogramm. Wollte es in Österreich noch einmal probieren. Den Weg zu einer Sondereinheit in Wien oder Salzburg finden. Jetzt war er seit drei Jahren hier. In Dorf. Und hier machte ihm offensichtlich seine deutsche Seite das Leben schwer.

Seit einigen Stunden quälte sich Frers nun schon im Aufstieg herum. Er litt unter Höhenangst – auch ein deutsches Erbe. Alles, was höher war als ein Deich erlebte er als gähnenden Abgrund. Doch er musste Frust loswerden. Einmal irgendetwas hinbekommen - den Jagersteig, Bertis Tipp. Die Berti putzte nebenher die Wachstube. Eine hemdsärmelige Frau in den Sechzigern. Mit einem englischen Flitzer in elegantem royalgreen und deutschen PS, der so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie verdiente sich mit dem Putzen für diese Leidenschaft ein paar Euro dazu. Und sie war der einzige Mensch aus Dorf, der etwas für Frers übrig hatte: „Probiern´s halt den Jagersteig oan Mal. Der geht ganz schön aufi, aber nur durch´n Wald und über´d Wies´n. Da haben´s a guate Orientierung und des Drunten ist net z´ weit abi. Wann´s wiss´n, was i moan.“ Als sie das sagte, lachte sie ihn verschmitzt an.
Und so war es auch. Er folgte dem gelben Schild mit schwarzem Punkt zunächst durch ein Waldstück. In engen Serpentinen ging es hinauf und es fühlte sich an, als stiege er Treppen. Aber Buschwerk und Bäume verhinderten den Blick in die Tiefe. Im steilen Wiesenhang war das anders; ein Blick zurück und die Muskulatur wurde fest. Minutenlang kämpfte er gegen den Schwindel an. Aber es ging weiter und er erreichte ein kleines Plateau. Der felsige Abschluss zum Tal hin fiel sechshundert Meter senkrecht hinab.
Frers setzte sich auf eine Bank und atmete tief durch. Postkartenidylle – das Tal lag vor ihm. Die untergehende Sonne färbte alles warm und schön. Doch so war es nicht. Nicht für ihn. Müde von der ungewohnten Anstrengung schlief er ein.
Bittere Kälte weckte ihn aus einem traumlosen Schlaf. Es wurde bereits dunkel. Ein Abstieg in der Nacht würde für ihn unmöglich sein. Frers entschied sich zu bleiben. Er zog die dünne Windjacke über und kauerte sich mit angezogenen Beinen auf die Bank. Fern im Berg auf der gegenüberliegenden Seite des Tals zog sich ein glimmendes Band in Richtung Dorf. Sicherlich ein Fackelzug, eine geführte Nachtwanderung. Für die Touristen wurde alles getan. Seine Nacht jedoch würde kalt und einsam werden.

In der darauffolgenden Nacht war Frers zehn oder zwölf Mal aufgestanden. Doch nicht nur eine beginnende Erkältung hatte ihn wach gehalten. Vorgestern noch hatte er mit Allem abgeschlossen und gestern dann – neue Hoffnung bekommen. Ein Toter, unbekannt und schlimm zugerichtet. Vom Plateau aus hatte er beobachtet, wie sie ihn von der Almhütte nach Dorf herunter brachten. Der Fackelzug war keine Touristenveranstaltung gewesen.
Frers zog sich an, um ins Büro hinüber zu gehen. Sich dort und nicht im Bett mit dem Mord zu beschäftigen, schien ihm sinnvoller zu sein. Und in zwei Stunden würde er sowieso aufstehen müssen.
An der Tür schaute er zurück in den Raum:
Die möblierte Einzimmerwohnung hatte er bei Dienstantritt bezogen. Für ein paar Monate hatte er damit auskommen wollen: Küche und Bett in einem Raum – die Toilette auf dem Flur. Doch bisher hatte kein Weg aus diesem jämmerlichen Zimmer herausgeführt. Drei Jahre schon ertrug er Nächte in einem Bett, das nie Wärme erlebt oder gegeben hatte. Und schon gar keine Hitze. Die Geschichte mit der Reni - war gar keine. Jedenfalls nicht für sie. Kopfschütteln zog er die Tür hinter sich zu. Vielleicht bekam er jetzt eine letzte Chance. Frers zog den Kragen fröstelnd hoch. Seine Nase lief. Die Berge zeichneten sich schwarz vor grauem Himmel ab. Kein schöner Morgen.

Berti sollte unbedingt einmal dafür sorgen, dass dieser Muff aus den Räumen herauskam. Abgestandene Luft schlug Frers entgegen, als er die Eingangstür der Wachstube öffnete. Trotz seiner triefenden Nase roch er sie. Er klemmte die Tür fest, um frische Kühle herein zu lassen. Mit der flachen Hand schlug er auf den Lichtschalter. Der Starter klickte vergeblich gegen das träge Gas in den Röhren an. Bis er dann schließlich doch zündete. Das Licht flackerte sich einen Weg durch die Körper verirrter Insekten in der vergilbten Plastikabdeckung. Er musste unwillkürlich lachen. Verirrt wie er selber; ein vertrocknetes, lästiges Insekt aus Deutschland. Langsam kroch das gelbe Licht über das ausgetretene Linoleum bis zur Türe seines Büros.
In dem Moment, als er die Klinke berührte, wurde die Tür aufgedrückt. Er schrak zusammen. Berti steckte ihren Kopf durch den Türspalt und Tränen rollten aus geröteten Augen: „Entschuldigen´s, aber i muss doch wiss´n, was ihm passiert is´. I hatt´ ihn doch so liab. Entschuldigen´s bitte!“ Schluchzend rannte sie an dem verblüfften Frers vorbei zur Haustüre hinaus. In einer Hand hielt sie eine dünne Akte.

Hans war seit fünf Stunden unterwegs, es wurde bereits dunkel. Berti hatte ihm die Akte aus der Wachstube gegeben. Der Bericht beschrieb 36 Stiche und Schnitte, die Frederico verletzten und verbluten ließen. Es gab auch Bilder dazu; sein Freund, in dem blutdurchtränkten Umhang, bleich, die Augen ins Nichts starrend, das Gesicht durch Anstrengung und Schmerz gezeichnet. Der Bericht endete mit der Notiz: Täter unbekannt. Berti brach bei dem Anblick der Bilder unter Tränen zusammen.

Berti hatte ihre Fassung zurück gewonnen und Frers entschlossen aufgefordert, mitzukommen. Ohne Erklärung fuhr sie mit ihm los. Schließlich bog in einen Forstweg ein und schaltete vor einem Holzgatter in den Leerlauf. „I hab an groß´n Patzer g´macht. Den Bericht, die Bilder, i hab ois dem Hans g´zeigt. Auch wie traurig i bin, aber die Bilder san so schrecklich. Und nu is er alloan loszog´n . Ohn´ all die stark´n Bursch´n aus´m Dorf.“ Sie atmete tief durch: „Des geht sich net guat aus!“
Als sie das Gaspedal durchtrat, wurde aus dem royalgreen ein racinggreen. Der Motor fauchte auf, die Reifen drehten durch und dann schoss der Wagen mit heiserem Röhren nach vorne. Berti durchbrach mit lautem Krachen die Absperrung. Schulterzuckend rief sie Frers durch das Kreischen des Motors zu, dass der Försterhans das schon wieder in Ordnung brächte.
„Und ihr Wagen?“ „Ach, des is kei Problem. Des richt´ der Huberfranzl scho, koi Sorg´.“ Frers hörte nicht wie Berti flüsterte: „Sorg´n mach´ i mia nur um den Hans.“

Hans kannte die Täter. Wut trieb ihn an. Hätte dieser Frers nicht in Salzburg angerufen, wären diese Typen schon längst raus aus Dorf und auf dem Wege dorthin gewesen. Doch die hatten Angst bekommen und sich wieder in den Bergen verkrochen. Hans wusste auch wo; Frederico musste an der alten Grenzstation auf sie getroffen sein. Und er hoffte sehr, dass sie dort noch immer waren.

Die Bande hatte die Grenzstation verlassen. Sie hatten durch einen Posten in Dorf erfahren, dass Frederico es trotz seiner Verletzungen bis zu einer Almhütte geschafft hatte. Dort war er zwar gestorben, ohne noch mit jemandem sprechen zu können, doch wenn nun nach ihnen gesucht würde, wäre die alte Grenzstation erste Wahl. Und noch einmal wollten sie nicht auf die Burschen aus Dorf treffen. Also brachen sie erneut auf. Es gab höher gelegen eine verfallene Schutzhütte. Der einzige Weg dorthin führte über einen nahen Steig, der wegen Steinschlaggefahr nicht mehr genutzt wurde. Den wollten sie nehmen. Für diese Nacht würden sie dort oben einen sicheren Unterschlupf finden und am nächsten Tag zurück nach Italien gehen. Dann standen sie am Fuße des Steigs und schauten unschlüssig in die Schwärze hinauf.

Hans fand eine verlassene Grenzstation vor. doch ihm war sofort klar, wohin die Bande wollte. Den Grenzweg nach Italien hätten sie bis tief in die Nacht gehen müssen. Das war nach dem stundenlangen Aufstieg nicht machbar. Es blieb nur noch die Ruine der Schutzhütte.

Berti rief Frers zu: „Wir kommen mit´m Wagen net bis ganz aufi zum Grenzpass“. Er konnte sie durch das Gepolter des Fahrwerks und das Röhren des Motors kaum verstehen. „Sie müss´n da mit´m Materiallift aufi. Er is alt und laut. Hans wird den net g´nomma hab´n, damit s´ ihn net kommen hör´n . A guate Stund´ bringt Ihnen des.“
„Aber man wird mich hören!“, brüllte er empört zurück. „Ja, freilich. Des is guat, vielleicht vertreibt des diese Verbrecher. I wui net, dass die auf´n Hans treffen.“ Frers traute seinen Ohren nicht: „Und wenn es sie nicht vertreibt?“
„Des machen´s scho! Wenn´s oben ang´kommen san und da is Koaner, müssen´s aufi zum Steig. I hab da so a Gefuihl. Hören´s zu, I erklär´s ihnen, wie´s dahin kommen.“

Die Träger waren Kriminelle aus Städten. Rekrutiert für einen schnellen Job. Sie kannten sich im Gebirge nicht aus und waren auch nicht passend ausgerüstet. Sie trugen Jeansjacken und Sneakers, keine Bergschuhe und wetterfeste Kleidung. Und jetzt spürten sie neben der Kälte, dass dieser Steig wirklich gefährlich war. Sie gerieten in Unruhe. Ängstlich und unschlüssig schauten sie die Felswand hinauf ins Dunkel. Und dann ging der Erste hart getroffen zu Boden. Einer der Bandenführer zog sofort sein Messer. Mit lauten Warnrufen alarmierte er die anderen.

Frers konnte nicht erkennen, wie hoch er sich über dem Felsgrund befand. Die Auffahrt im Materiallift fand in völliger Dunkelheit statt. Trotzdem war ihm schlecht vor Angst. Schneidendkalter Wind toste. Doch ihm war heiß. Vielleicht hatte er Fieber. Um ihn herum kreischten Rollen, ächzten Nieten. Das müde Material knarrte. Aber nichts brach. Er wusste nicht, wie lange er schon an den dünnen Drähten baumelnd nach oben gezogen wurde, als der Transportkasten, in dem er saß, scheppernd anschlug.

Die Bande war sich uneins. Ängstliche Träger, die Dunkelheit und Kälte, der Steig und nun noch ein weiterer Alter, der sich ihnen in den Weg stellte. Aber besser als die Dorfburschen. Und wieder traf Haselnuss mit Schmiedespitze auf billigen Stahl. Kleine hinterhältige Klingen; jung und schnell.
Doch dieses Mal verteidigte sich ein alter Mann nicht. Er griff an. Überraschte sie – gekonnt und gezielt. Hans war in jungen Jahren ein herausragender Ranggler gewesen und auch mit dem Stecken konnte er kämpfen. Seine Wut vertrieb die Anstrengungen des Anstieges aus seinem Körper. Er kämpfte für Frederico. Und er kämpfte für Berti.
Hans´ Schläge waren hart. Sie taten weh, verletzten, aber sie töteten nicht. Hans hatte einige seiner Gegner ausgeschaltet. Er hatte hart zugeschlagen, mit dem Stecken gestochen und verhebelt, alle hatten das Knirschen von Knochen hören können. Doch der Rest begann ihn einzukreisen – sie waren zu viele. Hans wich zurück. An einen großen Felsblock, um sich den Rücken frei zu halten.

Frers fand den Weg sofort. Nicht weit entfernt tanzte Taschenlampenlicht an Felswänden. Und er hörte Geschrei. Das trieb ihn an. Bei diesem Lärm konnten sie ihn wohl nicht gehört haben.

Hans hörte, wie eine Pistole fertig geladen und entsichert wurde.

Frers sah vorsichtig an einem großen Felsblock vorbei. Hans konnte er nicht sehen, aber die Dealer. Einige bluteten. Aber sie rückten entschlossen vor. Sie waren mit Messern bewaffnet, einige glänzten feucht und rot. Doch dann hört er, wie eine Pistole fertiggeladen und entsichert wurde. Und zog seine eigene.

Hans hörte, wie hinter ihm eine zweite Waffe entsichert wurde. Er ließ den Stecken fallen und schrie: „Net schiass´n, Leut´! Des gibt hier a Katastroph´.“
Einen kurzen Moment trat eine verunsicherte Stille ein. Und dann - ein Nießen und doch ein Schuss. Der ohrenbetäubende Knall wurde zwischen den Felswänden hin und her geworfen. Wurde leiser und diffuser, schwoll wieder an. Zu einem Prasseln. Dann ein Grollen. Es polterte dumpf, erste Felsbrocken schlugen zwischen ihnen ein. Körper wurden zu Boden gerissen. Taschenlampen flackerten und erloschen. Schreie. Dann war allen klar: Der Schuss hatte einen Steinschlag ausgelöst. Überall Felssplitter schnell wie Geschosse und rutschender Schutt.

Frers reagierte völlig kopflos. Er rannte mitten hinein in das Bersten und Poltern. Riss Hans mit sich, auf der anderen Seite wieder hinter den Felsen. Dort gingen sie zu Boden. Nicht das kleinste Steinchen hatte sie getroffen.

Heute Morgen ist in Dorf alles anders. Frers schaut dem Trauerzug hinterher. Doch die breiten, aufrechten Rücken scheinen ihm heute gebeugt und kraftlos. Frers reagiert nicht, als es leise klopft. Hans stellt sich stumm mit an das Fenster.
„Warum sind Sie nicht dabei? Er war doch Ihr Freund?“, fragt Frers, ohne Hans anzublicken.
Der legt seine Hand auf Frers Schulter: „I bin dabei – glei´ wieder. Kommen´s doch mit mir … bitt´schön.“
Eine letzte Frage liegt Xaver Frers auf dem Herzen. Er sitzt schon einige Stunden mit Berti im Gasthof. Seine Gedanken sind durch reichlich Zirbenschnaps nicht mehr klar. „Sag Berti“, lallt er, „Warum ich? Warum hast Du nicht Deinen Leuten Bescheid gesagt?“
„Weißt Xaverl, es gäb scho a Antwort. Aber lass´ s besser, wia´s is. A paar Geheimnisse sollst uns scho noch lass´n. Mia hab´n viel falsch g´macht – mit Dir. Des sollt als Antwort reich´n.“
„Aber Xaverl, i hab da auch a Frag´- Hast Du g´schoss´n?“
Frers putzt sich die Nase und grinst breit: „Ach, weißt Du Berti. Es gibt dazu zwar eine Antwort, aber…“

 

Hallo Robby,
deine Geschichte ist sehr lange unkommentiert geblieben. Hoffentlich bist du überhaupt noch da. :)

Dass sie so lange unkommentiert blieb, könnte an zwei Sachen liegen.

1. Du bist ja schon länger hier als ich, da müsstest du eigentlich schon gemerkt haben, dass man eher Kommentare kriegt, wenn man selbst kommentiert. Klar, ist nicht jedermanns Sache, aber ich wollte es einfach mal gesagt haben.

2. Deine Geschichte ist echt nicht ganz einfach zu lesen.
Sie spielt in einem ländlichen Milieu, in den Bergen, eigentlich eine Sache, die mir immer sehr zusagt. Auch stilistisch ist das alles ordentlich. Zum Teil gibts da recht schöne Beschreibungen. Aber die Art, wie du deine Geschichte aufgebaut hast, die haut mich immer wieder raus.
Damit meine ich gar nicht mal den Anfang, den hab ich mir ganz gern gefallen lassen, obwohl ich auch da beim zweiten Absatz über die Zeitenwahl gestolpert bin.

Man weiß insgesamt gar nicht so recht, wer eigentlich deine Hauptfigur ist. Und die häufigen Orts- und Zeitwechsel sind oft schwer nachvollziehbar.
Ich habe, (das wird dich ärgern, aber es ist eben die Wahrheit) die Geschicte nicht zuende lesen können. So ungeduldig bin ich geworden.

Wenn ich dir einen Rat geben darf, ich würde dieses eigentlich sehr schöne Thema, das Personal, das ja auch hohes Potential hat, sowohl der Gendarm aus dem Hohen Norden als auch der alte Frederico bieten da ja einiges, ganz stark konzentrieren auf das, worauf es mir in der Geschichte ankommt. Es gibt viele Informationen in deiner Geschichte, Querverweise, Hintergrunddaten, die die Geschichte einfach langatmig und unüberschaubar machen. Als Beispiel mal dieser Abschnitt:

In dem hübschen Tal mit dem eisgrauen Fluss wurde die Bundesstraße als Transitstrecke für Drogen genutzt.
Das hatte das Landeskriminalamt vor einigen Jahren entdeckt. Internationale Dealerbanden transportierten die Drogen im großen Stil über Italien nach Österreich und Deutschland. Das LKA machte mit intensiven Verkehrskontrollen das Tal dicht. Der Transport über die Straße wurde für die Dealer uninteressant. Die schlimmen Nachrichten in den Medien sorgten dafür, dass diese Region auch von den Urlaubern gemieden wurde. Nach und nach erholte sich der Tourismus.
Seit dem vergangenen Jahr kamen die Drogenbanden jedoch wieder. Doch nicht über die große Straße, sondern über die alten Grenzübergänge in den Bergen. Sie nutzen längst vergessene Wege abseits beliebter Routen der Bergwanderer.
Nur wenige der Dealer waren bergerfahren. Die Träger kannten sich im Gebirge nicht aus, hatten aber breite Schultern für die großen Rucksäcke. Die unzähligen kleinen Tütchen und Fläschchen wogen schwer. Das Geschäft war mühsam, aber einträglich. Unterwegs zu den großen Abnehmern ließ sich unter den Urlaubern so einiges direkt absetzen
.
Aus meiner Sicht kann der völlig raus.

Also nochmal: im Kern eine gute Idee, die ich gerne lesen würde, aber das alles ist mir noch zu zerfahren und zu wenig eingedampft auf die eigentliche Geschichte.
Viele Grüße
Novak

 

Hallo Novak!
:o) Ich freue mich über Deinen Beitrag! Hurraaaaaahh.... ich habe endlich einen Kommentar bekommen!
Auch wenn ich schon etwas länger hier bei kg.de angemeldet bin, so war ich insgesamt nur sehr selten "online" - habe weder geschrieben, noch gelesen. Deshalb ist so gut wie keine "Bewegung" in diesem Forum von mir zu sehen. Finde ich selber auch nich´ gut - ich möchte mich ja gerne intensiv mit der Schreiberei beschäftigen. So wie im vergangenen Österreichurlaub, in dem dieses Geschichtchen entstand. Und offensichtlich schlecht ist und langeweilt, weil sie langwierig und umständlich ist. Kann ich irgendwie nachvollziehen und muß einfach daraus lernen, dass eine Kurzgeschichte knackig straff und spannend sein muß....
Und damit sind wir auch bei dem Grund, warum ich bisher noch nicht zu anderen Beiträgen geschrieben habe. Ich fühle mich (und "Der letzte Venediger" bestätigt das ja) einfach nicht kompetent genug um andere beurteilen zu können. Natürlich habe ich meine Meinung zu dem was ich lese, aber es ist eine ziemlich unmaßgebliche eines lausigen Hobbyschreibers... Da ist mein Selbstbewußtsein nicht so groß. Aber ganz sicher ist diese Haltung falsch, denn es liegt ja an Jedem selbst, was er sich aus den Kritiken annimmt.... ich werde mich bessern! Novak, Dir lieben Dank für Deine Kritik... und trotzdem "Schade" ;O), dass Du nicht zu Ende gelesen hast, denn irgendwie finden alle Fäden dort zusammen...

 
Zuletzt bearbeitet:

Dankeschön für deine sympathische Antwort.
Hab deine Geschichte dann gleich noch zuende gelesen, ja du hast recht, da läuft dann alles zusammen. Gefiel mir gut, es so enden zu lassen.
Aber trotzdem bleib ich bei meiner Meinung, dass deine Geschichte unter einem Berichtehaufen verschüttet ist. Viele zeitliche Rückblenden, die nicht immer gleich richtig zuzuordnen sind, wiederholende Zusammenfassungen der Geschehnisse. Ich würd echt noch mal durchgehen, hinter all dem verborgt sich ja eine Geschichte, die wirklich soannend sein könnte, wenn man alles ein wenig anders gewichtet. Ich kann mir auch vorstellen, dass es eine gute Übung für einen selbst sein kann, wenn man sich überlegt, welche Szenen man haben will. Und sich die dann genau vornimmt. Was mir auch noch fehlt: Frers Leben in dem Ort ist ja nicht einfach. Eigentlich ist er ein Ausgestoßener, durch Bertis Eingreifen erst findet er einen Zugang. Dieses Ausgestoßensein könntest du für meinen Geschmack noch viel stärker in Positur bringen.
Auch Bertis Motive, warum sie ihm hilft, z. B. als sie ihm den Höhenweg empfiehlt, damit er seine Angst bekämpfen kann. Am Ende hat man das Gefühl, sie wollte ihm wirklich helfen, zwischendrin denkt man aber, es sei nur Taktik gewesen, um an die Akte ranzukommen. Also da bleibt für mich vieles noch unklar und zu wenig auf den Kern deiner Geschichte bezogen.

Aber wie gesagt, da ist ja eine interessante Geschichte da. Du formulierst gut und flüssig. Eigentlich fehlt nur, dass du die Geschichte ordentlich zurechtstutzt und von allem befreist, was an Wiederholungen, Abschweifungen da ist. Und en eigentlichen Kern ausbaust.

Viele Grüße von Novak

 

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