Der Mundharmonikaspieler
Der Mundharmonikaspieler
Kommt erst der Winter wieder her,
Und kracht vor Kälte nachts der Stein,
stehn Wald und Weiher schwarz und leer,
Ist in der Wildnis übel sein.
--- Aus Tolkiens „Der Herr der Ringe“ ---
Er hieß Eric Boulder und er spielte mit 16 Jahren gelegentlich in der Basketball-Mannschaft seiner Schule. Baseball sagte ihm nie sonderlich zu.
Was er aber am meisten bei diversen Sportevents seiner Schule liebte, waren die Cheerleader, die ihn haßten, weil er kein guter Sportler war. Weil er nichts Besonderes war – nur ein kleines Hemd, ein viel zu enges Hemd, an den Oberkörpern seiner großen, gigantischen Mitspieler.
Eric litt darunter. Er litt sogar sehr darunter – so sehr, daß er sich einmal sogar das Leben nehmen wollte. Er war ein Junge in den besten Jahren... ja, in den schwierigsten Jahren und das Schlimmste, was darin passieren kann, ist, daß man keinen hat, der einem zur Seite steht, wenn man diesen letzten, entscheidenden Weg geht.
Den Weg in die Welt der Erwachsenen.
Und vielleicht hatte Eric ihn deshalb so spät beschritten; weil er allein war, damals, vor so vielen Jahren.
Die Gesellschaft betitelte ihn als Außenseiter.
Er selbst nannte sich lieber Versager.
50 Jahre waren seit seiner Geburt vergangen.
Eric lebte in New Jersey, in einer kleinen Stadt namens Tollstone.
Er hatte keine Kinder, keine Frau und kein Dach über dem Kopf. Er schlief meistens unter Brücken -dort fühlte er sich wohl. Und was die Gesellschaft haßte, das liebte er: Er fütterte die Ratten, er fütterte die Tauben, die sich gelegentlich auf seine ausgedürrten Schultern setzten, und er sah gerne dem Treiben der Wellen eines Flusses zu. Manchmal saß er einfach so da, unter seiner Brücke, unter der er seßhaft geworden war, und spielte auf seiner alten, dreckigen Mundharmonika.
Und manchmal kamen dabei die Menschen und sahen ihm zu. Nicht oft, aber manchmal.
Die Kinder mochten ihn. Er wußte nicht warum, denn er war ein häßlicher Mann – mit viel zu ungeraden Zähnen, mit Dreck im Gesicht und Dreck in den Ohren. Und er war manchmal ein betrunkener Mann - und wenn er betrunken war, dann war er depressiv.
Aber die Kinder, die mochten ihn. Die kamen zu ihm und brachten ihm essen.
So kam es, daß er sich unter der Tollstone-Bridge einquartierte, dort von den Kindern Essen annahm und im Gegenzug für sie Mundharmonika spielte. Denn das konnte er.
Das konnte er wirklich.
Am 23.Juni jedoch war alles anders.
Er lag auf seiner alten, fusseligen Wolldecke und wurde von den ersten Sonnenstrahlen gekitzelt, die der Tag vorausschickte. Er nieste und öffnete die verklebten Augen.
Ich werde heute zum letzten Mal den Fluß entlang gehen, nahm er sich vor. Ich werde heute zum letzten Mal für die Fische ein Lied spielen...
Er reckte sich, spürte, wie sein Körper mit jedem Tage mehr unter den Wetterbedingungen und der unbequemen Lebensweise litt – aber er konnte es nicht ändern. Er war hier, unter der Tollstone-Bridge und er hatte (wenn nicht Reichtum so) wenigstens ein Dach über dem Kopf. Und an Essen würde es auch nicht mangeln.
Warum er so blaß im Gesicht und so dreckig war, lag einzig daran, daß er krank war.
Er wußte nicht, was er hatte, aber er wußte sehr gut, daß es mit ihm zu Ende ging. Morgens pochte ihm der Kopf. Nach dem Essen mußte er sich zwanghaft erbrechen. Das waren immer die schlimmsten Momente, denn meistens standen diese ganzen faszinierten, kleinen Kinder dabei um ihn herum.
Und er kam sich schwach vor. Er sah in die Gesichter der Mädchen, die ihm Brotscheiben hinhielten, und er kam sich so unsagbar krank vor. Er lächelte sie an – und wußte, daß es ein krankes Lächeln war.
Am 23. Juni war es schlimmer denn je. Als er sich auf nüchternen Magen übergab, spuckte er Blut.
Er wußte, daß es nun nicht mehr lange dauern würde.
Du stirbst und was hinterläßt du dieser Welt? Du bist einfach nicht mehr da...
Und trotzdem lebst du noch. Und trotzdem hast du es nicht früher beendet.
Er griff nach seiner Mundharmonika und lauschte dem Plätschern des Flusses... Er lauschte dem Gesang der Fische.
Eine leichte Brise wehte ihm um die Ohren. Er lehnte sich an die kalte Mauer hinter sich, schloß ganz fest die Augen und setzte die Mundharmonika an die zitternden Lippen.
Was ihm noch geblieben war, nach all der Misere, das war das Spielen. Eine Zeit lang hatte er sich sogar ein paar Dollar damit verdient.
Es war so schade, daß sie mit ihm sterben würde. Er wollte das verhindern, so ein prächtiges Exemplar... so ein wundervolles Instrument... und eine Zeit lang glaube er, sich nur einzureden, seine Mundharmonika sei etwas ganz Besonderes.
Sie war es für ihn, denn er hatte ja nichts und niemanden – aber war sie es auch für die Menschen über ihm? Die Menschen, die achtlos über die Brücke gingen, deren Ecken, Winkel und Risse er so gut kannte, wie die Anzahl seiner Finger?
Nein. Es war seine Phantasie, die ihm all das einbildete. Die ihm den Glauben vorgaukelten, es gäbe kein Leben ohne sie. Es gäbe nichts ohne ihre Melodien und Klänge.
Du bist ein alter Narr, Eric. Und du wirst bald sterben.
Er öffnete die Augen und sah die Fische an die Wasseroberfläche schwimmen. Er sah, wie sie sich ganz dicht darunter bewegten und hin und wieder mal einen Wasserläufer oder eine Lybelle verspeisten.
Plötzlich bildeten sich Tränen in seinen Augen.
Dieser Anblick von der Natur... das Summen der Fliegen, das Knacken von Ästen, wenn eine Ratte, ein Vogel, ein Hase oder sogar ein Reh über den Boden ging... Und das Plätschern des Flusses... Das stetige Wispern des Windes in seinen großen, runzeligen Ohren...
„Ich werde es vermissen“, sagte er aus der Tiefe seiner Kehle. Eine verlorene Träne rann über seine Wange und tropfte auf den Boden.
Wie viele Tränen sind hier schon geflossen? Wie viele Regenwürmer hast du damit schon an die Oberfläche gelockt und ihnen weisgemacht, es würde regnen?
Er schloß die Augen und dachte beim Spielen auf seiner Mundharmonika ganz fest an den Regen. Ja, er wollte ihn haben. Er wollte einen gigantischen Regen. Mit vielen Regenwürmern, die sich im Wasser kringelten. Mit vielen Vögeln, die sich schüttelten und nach den Würmern pikten.
Er wollte Regen.
Und er bekam den Regen.
Noch während er spielte, färbten sich die Wolken am Himmel dunkelblau - und schließlich tröpfelte es.
Eric hörte auf zu spielen, stand mühevoll auf und ging den Fluß entlang, wie er es Tausende Male zuvor getan hatte. Er breitete die Arme aus, als die ersten Tropfen seine Kleidung liebkosten. Und er schrie, lachte vor Freude, als ein richtiger Regenguß auf ihn hernieder prasselte und sein langes, lockiges Haar durchnäßte.
Auf diese Art lebte er. Auf diese Art verstand er die Wunder der Natur.
Er verstand sie, weil er mit ihr sprach, weil er sie mit den Klängen seiner Mundharmonika liebkoste.
Ständig. Immerzu. Ein Leben lang.
Und plötzlich holte ihn die Vergangenheit ein.
Der Tag, an dem er bemerkt hatte, was in seiner Mundharmonika steckte, war ein übler, regnerischer und dunkler Tag gewesen. Die Kinder hatten ihm schon gegen Morgen etwas Brot gebracht.
Unter diesen Kindern war ein schwarzhaariger Junge, den sie Rick riefen. Und Rick war nicht wie die anderen.
Eric hatte gesehen, wie er ein Mädchen in den Matsch stieß und kichernd davon rannte. Er war zu diesem Mädchen gerannt und hatte ihm aufgeholfen.
Eric hatte auch gesehen, wie derselbe Junge direkt auf der Tollstone-Bridge Menschen um ihr Geld bestahl.
Und nun war dieser Junge einer von denen, die ihm zu Essen gaben?
Er dachte darüber nach, was er tun sollte - immerhin war das ein gemeines Kind – und kam schließlich zu dem Entschluß, daß es besser war, vorerst nichts zu sagen und zu unternehmen. Er fragte auch nicht, was dieser Junge plötzlich bei all den anderen Kindern machte, für die Eric gelegentlich auf seiner Mundharmonika spielte.
Doch als Eric eines Tages den Fluß entlang gegangen war und zu seiner Brücke zurückkehrte, da sah er den Knaben Rick, wie er auf seiner Wolldecke saß.
Er sah diesen Knaben und Wut stieg in ihm hoch; da saß er und wühlte Erics wenige Sachen durch. Da saß er und faßte alles mit seinen schmutzigen, kleinen Händen an...
„Was tust du da?“, hatte Eric gefragt. Forsch. Streng.
Das Kind blickte auf – aber nicht ängstlich, sondern trotzig.
Dann lachte es, nahm Erics Tasche und schleuderte sie in den Fluß.
Noch ehe Eric etwas tun konnte (ihn packen, ihn verschimpfen oder ihm nachlaufen), war er weg und sein gemeines Kinderlachen hallte in Erics Ohren wieder.
Das war eindeutig der Moment, in dem er nicht mehr klar denken konnte. Die Erinnerungen an seine Schulzeit kamen in ihm hoch und schnürten ihm die Kehle zu. Die Angst war plötzlich wieder da. Der Hohn. Der Spott.
Und so ging er zum Fluß und sah seiner Tasche nach, die gemächlich von den Wellen davongetragen wurde.
Er weinte.
Sein ganzes Hab und Gut war in ihr – bis auf die Mundharmonika (die er immer in seiner Hosentasche mit sich führte) und die Brote, die ihm die Kinder gebracht hatten.
Er ging zurück zu seiner Bleibe, hob auf, was noch herumlag und setzte sich auf die Wolldecke. Dann kramte er in seiner Hosentasche nach der Mundharmonika und spielte, während die Tränen seine Wangen näßten.
Plötzlich – noch während er spielte – packte ihn solche Wut auf den Jungen, daß er sich wünschte, er sei tot.
Und einen Tag später kamen die Kinder wieder zu ihm und berichteten ihm vom tragischen Tod Ricks, der sich auf einem Hochhaus zu sehr übers Geländer gebeugt hatte.
So erfuhr Eric schließlich von den Kräften, mit denen er spielte. Er lernte sie zu schätzen, fühlte sich schuldig für Ricks Tod – und schwor sich, nie wieder so etwas Schlimmes zu denken, wenn er spielte.
Und dann folgte die Zeit, in der er trank.
Als sie schließlich vorbei war, waren die Kinder (von denen er fast gehofft hatte, sie würden sich von ihm abwenden, denn er war gefährlich) immer noch da. Gaben ihm die Kinder immer noch zu Essen und zu trinken. Und er spielte immer noch für sie auf seiner Mundharmonika.
Aber er würde das nicht mehr lang tun, denn seine Zeit war bald abgelaufen. Es ging mit ihm zu Ende, das spürte er.
Er starb. Mit jedem Atemzug, den er machte, entfremdete er sich dem, was ihm noch geblieben war; der Natur.
Als er nun, am 23. Juni, erneut auf seiner Wolldecke saß, wartete er auf die Kinder. Er musterte dabei den Fluß und für einen Moment lang, war ihm, als würde er seine Tasche mitten im Flußbett davon schwimmen sehen... Aber da war nichts. Da war nur seine Phantasie – und der Regen, den er sich herbeigewünscht hatte.
Die Kinder kamen und er begrüßte sie mit einem Lächeln.
Es würde das letzte Mal sein, daß er von ihnen Brot entgegen nahm. Und auch das letzte Mal, daß er für sie spielte.
Und er würde etwas Schönes spielen.
Nachdem sie ihm beim Essen mit ihren großen, naiven Kinderaugen zugeschaut hatten, verstummten ihre Gespräche und sie blickten voller Andacht und Ehrfurcht auf Erics Mundharmonika.
Er setzte sie an die Lippen und spielte mit geschlossenen Augen.
Er wünschte sich, das blonde Mädchen zu seiner Linken würde ein gutes, wohlhabendes Leben führen.
Er wünschte sich, die beiden Knaben neben dem Mädchen würden einmal große Männer werden, starke Männer, gute Männer.
Dann packte er die Mundharmonika wieder in seine Hosentasche und lächelte sie an.
„Soll ich dir einen Mantel besorgen, Eric? Meine Oma hat einen ganz Alten und ich bin sicher, sie braucht ihn nicht mehr...“
Eric lächelte das Mädchen an und legte seine große Hand auf ihren Kopf.
„Nein, danke – mein Mädchen, ich habe alles, was ich brauche“, sagte er und starrte nur einige Sekunden lang in die großen Augen der Kinder.
Eine einsame Träne rann über seine Wange und plötzlich fühlte er sich in seinem Vorhaben schwankend. Er wußte nicht, ob es klappte... Er wußte nicht, ob er wirklich die Kraft dazu besaß... Aber er würde es wissen.
Schon bald.
Die Kinder gingen und er sah ihnen nach. Vor allem dem Mädchen. Immer wieder sah er ihre großen, naiven Kinderaugen vor sich. Immer wieder spürte er ihr Haar unter seiner groben, riesigen Handfläche.
„Ein gutes Mädchen“, murmelte er und stand seufzend auf.
Er ging zum Fluß, wie auch die vielen Nachmittage zuvor. Er fühlte sich krank und schwach – und noch ehe er sich versah, spuckte er einen Blutklumpen unter eine alte Eiche.
„Es tut mir leid“, sagte er zu sich selbst und weinte. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, setzte sich neben den Blutklumpen und weinte und weinte...
Als er fertig war, stand er auf, zerrte an seinen Klamotten... und sah ein letztes Mal in den Himmel.
Dann zog er seine Mundharmonika.
Es wird nicht gut gehen, es wird...
Nein, es MUSS gut gehen. Ich werde es versuchen. Ich habe nichts mehr zu verlieren.
Er spielte zuerst Belangloses.
Wieder kamen die Fische an die Wasseroberfläche. Diesmal spürte er förmlich ihre Blicke auf sich ruhen.
Das war ein gutes Gefühl.
Er dachte an die Welt. Er sah sie vor sich. Er dachte an alles, was er über die Welt wußte... besonders an die vielen Kriege.
Und dann sagte er sich... er sagte sich...
Mein Leben. Ich will sterben. Ich möchte sterben, wenn das Lied zu Ende ist.
Und er machte ein paar Schritte in Richtung Fluß – er machte sie mit verweinten Augen. Mit geschwollenen Lidern – und mit dem Brechreiz in seinem großen, dicken Hals...
Er ging... und dann... und dann wollte er die Erde schön wünschen. Er wollte es wirklich, aber plötzlich...
Plötzlich stolperte Eric über eine Wurzel und flog der Nase nach hin. Seine Mundharmonika machte einen großen Bogen und fiel in den Fluß, wo sie sofort mit ein paar blubbernden Blasen verschwand.
Das Letzte, was Eric auf dieser Welt sah, das war sein großer Blutklumpen.
Und das Letzte, was er hörte, das waren die Takte seines Liedes, das er noch nicht mal zu Ende gespielt hatte.
Und das Allerletzte, was er dachte, das war, wie schön es gewesen wäre, wenn er die Welt wundervoll gewünscht hätte -–und sie es endlich geworden wäre...
Stefanie Kißling, 2. Juni 2001
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So, das war's jetzt aber für 'ne Weile mit Geschichten von mir. Ich will nämlich echt nicht nerven - und so langsam glaube ich, daß ich das tu.