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Der Narr
In einem Eck neben dem Thron hockt der Narr. Seinen Rücken hat er dem König zugewandt, sein Blick schweift über die Menschen, die eng gedrängt den Thronsaal füllen. Sein Gesicht liegt halb im tiefschwarzen Schatten, halb im gleißenden Sonnenlicht: Ein Mundwinkel, der sich in einem scharfen Bogen nach oben zieht; ein tückisch funkelndes Auge.
Vor dem Thron kniet der Verräter. Seine Schultern hängen, sein Kopf ist gesenkt. Er hat gesprochen, und er weiß, dass sein Schicksal besiegelt ist. Gestern noch war er der vertrauteste Berater des Königs. Heute ist er, unumkehrbar, der Erzfeind, der Halunke. Der Schandfleck. Er hat das Wort des Königs missachtet, die Ideale des Landes verraten.
Der König wird sein Urteil sprechen.
Der Hof wird lauschen.
Der Hof wird jubeln.
Bei einer Hinrichtung nicht weniger als bei einer Begnadigung.
Der Narr lauert. Sein Blick schweift unermüdlich über die Menge, bleibt an diesem Gesicht hängen, verweilt auf jenem Stirnrunzeln, schwirrt über ein Lächeln hinweg. Weder der König noch der Verräter nehmen von ihm Notiz.
Doch dem versammelten Hof scheint es, als schäle sich der Narr vor ihren Augen langsam aus der Dunkelheit. Wo gerade nichts als ein Schatten lag, zeichnet das Licht das Gesicht des Narren jetzt in scharfen, kantigen Linien. Und sein Erscheinen hat Bedeutung. Wären die Menschen im Saal Hunde, sie würden ihre Nasen in den Wind strecken – der Narr bringt eine Andeutung, nein, ein Versprechen von Blut.
Der König spricht.
Der Narr kauert im Eck, die langen, dürren Beine eng an den Körper gezogen. Sein gekrümmter Rücken ist gespannt wie ein Bogen, kurz bevor der Pfeil sich löst. Die Luft flimmert wie über dem heißen Herz einer Flamme.
Die Menge wird unruhig. Die Worte des Königs fallen ungehört auf den steinernen Boden, verflüchtigen sich. Verdampfen. Ein Augenpaar nach dem anderen verfängt sich im bösen Grinsen des Narren. Die Männer und Frauen im Saal hüsteln und flüstern, verlagern ihr Gewicht und beißen sich auf die Lippen. Sie winden sich in lüsterner Erwartung dessen, was jetzt folgen muss: Jeden Moment wird sich die unbändige Energie des Narren entladen.
Gleich …
Das Gesicht des Narren schiebt sich vollends ins Licht. Blicke flattern zu ihm wie Motten ins Feuer.
Jetzt.
Während die Worte des Königs wie die letzten, vereinzelten Tropfen eines Regenschauers niederfallen, streckt sich der krumme Rücken des Narren. Die spinnenlangen Beine stoßen sich kraftvoll ab, und der Narr landet zu Füßen des Throns.
Noch immer blickt er auf die Menge. Er grinst einen Wimpernschlag lang ins Publikum. Dann wendet er sich seinem Herrn langsam zu. Sein Oberkörper biegt sich zurück. Eine Schlange, die zum Biss ausholt. Machtvoll schleudert der Narr sich seinem Herrn entgegen:
Er brüllt dem König dessen eigenen Worte ins Gesicht. Speichel glitzert im Sonnenlicht und fällt in das versteinerte Gesicht des Königs. Und was eben aus dem Mund des Herrschers weise und gerecht klang, klingt jetzt plump und einfältig. Lächerlich, lachhaft geradezu. Verachtenswert.
Der Saal liegt in absoluter Stille. Kein brokatenes Rascheln, kein Räuspern, kein nervöses Kichern löst den Bann. Nur die Worte des Narren, die Worte des Königs, hallen nach.
Der Verräter hebt den Blick. Ungläubig starrt er auf den Narren. Schaut in die gebannte Menge.
Der Narr wendet sich ab vom König. Sieht in die Menge, hält jeden Blick. Sein Lächeln wird teuflisch, seine Zähne blitzen. Er beachtet weder den König, der jetzt zur Salzsäule erstarrt hinter ihm steht. Noch beachtet er den Verräter, seine Spielfigur im kommenden Tanz. Seine Aufmerksamkeit gilt einzig der Meute. Er hält sie gefangen mit seinem Grinsen und dem Funkeln seiner Augen. Er weiß, dass sie verstehen – er sieht es in ihren gierigen Augen, in der Anspannung ihrer schwitzenden Körper. Er riecht förmlich die Lust an der Zerstörung. Gemischt mit Angst. Denn Zerstörung, sagt die Stimmung im Saal, ist jetzt unumgänglich. Besser, auf der richtigen Seite zu stehen, besser zu zerstören als zerstört zu werden.
Und der Narr lächelt. Sein Blick fällt auf den König, kurz, verächtlich. Beinahe bedauernd. Er zuckt mit den Schultern und stampft auf – als ob er auf eine Kakerlake träte. Eine Kakerlake, die es sich angemaßt hat, König zu spielen. Eine Kakerlake, die niemals hätte König sein dürfen. Was er gesagt hat, ist dumm und naiv. Er ist geradezu widerlich in seiner Unfähigkeit. Ein Insekt. Ungeziefer.
Die Männer und Frauen im Saal schaudern zornig. Fühlen sich betrogen von dem Mann, den sie ihren König nannten. Ihre gerümpften Nasen und nach unten gezogenen Mäuler, ihre schmalen Augen geben ihnen eine einheitliche Maske aus Ekel, Wut und Hass.
Der Narr weiß, dass der Moment gekommen ist. Noch einmal wiederholt er die Worte des Königs. Schrill kreischt er sie, ein Witz, der in Hass umschlägt. Die Menge tobt. Er hat sie komplett in seiner Hand – was er will, das werden sie tun.
Fast unmerklich nickt der Narr. Und mit dieser winzigen Bewegung seines langen Kinns in Richtung des Königs lässt der Narr die Meute los.
Der König ist nicht mehr.
Sein Blut klebt am Boden, an der Decke, an den Kleidern der Männer und Frauen. An ihren Gesichtern. Sie sind satt, zufrieden. Gerechtigkeit wurde erreicht, der Tyrann ist tot. Der dumme, unfähige Herrscher hat sein gerechtes Urteil erhalten.
Der Verräter spricht, die Menge ist gebannt. Ein weiser Mann, der nur den Lügen des Tyrannen zum Opfer fiel. Er ist der richtige, sie zu führen.
Der Narr sitzt im Eck, im Dunkeln, und lauscht. Er hört nicht dem König zu, sondern dem Herzschlag der Menge. Die Meute ist zufrieden.
Doch dieser Zustand dauert nie lange an, das weiß der Narr. Und wenn die Stimmung umschlägt, dann wird der Narr bereit sein. Er wird das Opfer bestimmen, das die Meute braucht.
Seine Zeit im Licht wird wiederkommen.