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Der Neuanfang
Leise öffnete sich die Tür des Schlafzimmers und Marie trat ein. Der dunkle Raum füllte sich mit Licht.
„Bist du wach?“, fragte sie mit ihrer kindlichen Stimme. Sie hatte den Kopf leicht nach links gewandt und sah auf Kerstins Bett. Ihre Arme baumelten freudig in der Luft. Wie viel Freude sie doch verbreitet, dachte Kerstin. Wenn sie ein Zimmer betritt, gewinnt es an Leben. Überall wo sie ist, ist die gute Laune.
„Ja, komm herein“ sagte sie schließlich. Marie trat einen Schritt vor und streckte ihren kleinen Körper, um die Türklinke zu erreichen, drückte diese nach unten und schloss so sanft die Tür. Sofort kehrte die Dunkelheit zurück.
„Mama, es ist schon sieben“, meinte sie, während sie sich Kerstin weiter näherte.
„Komm her“, sagte diese. Sie hatte ein plötzliches Verlangen, ihre Tochter zu umarmen. Nach all dem, was geschehen war, konnte sie nun die Wärme, die das kleine Wesen von sich gab, gut gebrauchen.
Marie merkte, dass etwas nicht stimmte. Tiefe Trauer überschattete ihre Mutter. Sie kroch zu ihr ins Bett und ließ sie einen Arm um sich legen. In der folgenden Stille hörte sie ihre Mutter schluchzen.
„Weinst du Mama?“, fragte sie nach kurzer Zeit. Wie schlau sie doch ist dachte Kerstin.
„Nein mein Schatz“, versuchte sie zu leugnen.
„Ist es wegen Papa?“ Diese Frage habe ich erwartet. Kerstin riss sich zusammen. Sie spürte die warme Haut ihres Kindes und küsste seine kleine Wange, bevor sie es fest an sich presste. Ja!, gestand sie sich ein.
„Was ist mit Papa? Warum ist er gestern Abend nicht gekommen? Er hat es mir doch versprochen!“ Das hat sie sofort bemerkt. Kerstin war den Tränen nahe.
„Wir sollten jetzt aufstehen“, meinte sie schließlich, löste ihren Arm von dem Kind und drehte sich auf den Rücken, bevor sie sich mit einem Ruck erhob und die Bettdecke beiseite legte. Auch Marie war sofort wieder auf den Beinen.
Sie begriff nicht. Kerstin hat es ihr nicht gesagt. Doch sie ahnte, dass ihre Mutter ihr irgendetwas verschwieg.
Warum kommt Papa nicht zurück?
Kerstin fragte sich, ob ihre Tochter es verstehen würde. Wie wird sie reagieren, wenn sie erfährt, dass Papa uns jetzt alle vom Himmel aus sehen kann?
Aber sie musste es Marie sagen. Und Marie musste verstehen. Doch nicht heute. Nicht an meinem Geburtstag.
Sie öffnete die Tür und traten in den Flur. Das Licht blendete Kerstin. Darum hielt sie sich die Hand vor die Augen und nutzte die Gelegenheit, ihre Tränen abzuwischen.
Jetzt muss ich stark sein. Heute werde ich nichts sagen. Es genügt, wenn sie es morgen erfährt. Sie öffnete die Tür zum Esszimmer. Marie hatte ein Frühstück angerichtet. Drei Teller standen, zusammen mit Messern und Tassen auf dem Tisch. Auch die Brötchen hatte sie bereits von dem Bäcker nebenan geholt. Eine Kerze schmückte das Mahl.
Erneut liefen Kerstin Tränen über das Gesicht.
„Hast du das ganz alleine gemacht?“ fragte sie ihre Tochter ganz entzückt. Doch ihre Stimme hatte einen traurigen Unterton. Sie versuchte bestmöglich es zu verbergen, doch Marie sah, wie schlecht es ging.
„Sei nicht traurig Mama. Papa kommt bestimmt bald“, versuchte sie ihre Mutter aufzuheitern. Papa kommt bestimmt bald. Papa kommt bestimmt bald!!
Diese Worte brannten sich in Kerstins Bewusstsein. Sie war kurz davor, völlig zusammenzubrechen. Nur der Gedanke an ihre Tochter ließ sie weiter aufrecht stehen und gab ihr die Kraft, die sie jetzt brauchte. Sie sah in ihr kleines, rundliches Gesicht, streichelte ihr über das Haar.
„Danke mein Liebling“, sagte sie und rief sich in Erinnerung, wie gern ihre Tochter das Frühstück zubereitete.
Und als sie vier Jahre alt geworden war, hatte Kerstin ihr erlaubt, alleine zu dem Bäcker zu gehen. Schließlich war sein Laden so gut wie nebenan, und sie kannten sich gut.
Kerstin musste bei diesem Gedanken schmunzeln und blies die Kerze aus, die in der Mitte des Tisches stand.
„Soll ich dir ein Brötchen geben?“ Sicher hatte Marie schwer an den Backwaren getragen. Wenn man bedenkt, wie viel sie doch geholt hatte. Wer sollte das alles essen? Aber Kerstin hatte gerade andere Sorgen, als sich um Brötchen zu kümmern. Marie wollte, dass ihre Mama stolz auf sie war.
Als Kerstin nickte, legte Marie ihr eine Scheibe Brot auf den Teller und ging in die Küche. Kurz darauf kam sie mit einer Kaffeekanne wieder. „Vorsicht!“, wollte Kerstin sie warnen, doch dann fiel ihr ein, dass Marie eh schon so gut wie möglich aufpasste. Sie liebte es, Kellnerin zu spielen, und sie hätte sicher nicht gewollt, dass Kerstin jetzt eingriff.
„Mama, lass mich! Ich bin schon groß“, keifte sie dann immer.
Kerstin setzte sich, als Marie den Kaffee einschenkte. Mit ihrem Messer stocherte sie in einem Glas Marmelade herum. „Hast du keinen Hunger?“, fragte Marie etwas enttäuscht.
Sie war heute sehr früh aufgestanden, in erster Linie um ihren Vater zu sehen, aber auch um das Frühstück zuzubereiten.
Ich muss etwas essen, dachte Kerstin, während sie das Brot bestrich. Marie hat sich solche Mühe gemacht, und ein Bissen wird mir gut tun.
Obwohl sie keinen Hunger verspürte, biss sie in das Brot und merkte, wie ihre Zunge den süßen Geschmack der Marmelade wahrnahm. Sofort fühlte sie sich besser.
Wir werden einen Neuanfang wagen müssen, schoss es ihr durch den Kopf. Plötzlich dachte sie positiver, hielt weniger an der Vergangenheit fest, sondern konzentrierte sich auf die Zukunft. Wir werden zueinander finden und uns gegenseitig Trost spenden. Paul hätte es so gewollt ...
„Marie, ich muss dir etwas über Papa erzählen …“