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Der neue Mensch
„Sie sind wie wir – nur ganz anders. Unseren Beobachtungen nach sind sie lernfähiger als unser einer. Auch ihre motorischen Fähigkeiten sind den unseren überlegen. Letzteres hat allerdings weniger mit ihren genetischen Anlagen zu tun – vielmehr mit ihrem ständigen Begleiter: Dem Drang, sich zu beschäftigen.“
„Den haben wir auch. Was macht den Unterschied?“
„Der Unterschied besteht darin, dass sie nicht das große Ganze sehen. Ihnen fehlen genau die Attribute, die uns zum Homo Sapiens machen. Sie besitzen keinen philosphischen Trieb, sie kennen weder Vernunft noch Moral. Der Homo Novus verwendet seine Kräfte nicht darauf, seinem Leben einen Sinn zu verleihen.“
„Wie kommen Sie dann dazu, diese Lebewesen als Menschen zu klassifizieren?“
„Nun, unsere Forschung im Bezug auf die Novissen steckt noch in den Kinderschuhen. Der Name lässt sich nur auf ihre durchaus menschliche Erscheinung zurückführen. Mit dem steten Erkenntniszuwachs wird eine Neuklassifizierung in Betracht gezogen.“
„Und bis dahin?“
„Bis dahin sehen wir zu, dass wir auf keine bösen Überraschungen stoßen. Ich kann Ihnen jedoch versichern: Es besteht kein Grund zu Sorge. Selbst für die desaströsesten Ausgänge werden wir die passenden Antworten finden.“
„Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch. Auch Ihnen zu Hause danke ich, dass Sie wieder so zahlreich eingeschaltet haben!“
Der Kiesweg auf dem Weg zum Auto knirscht, als Delbrück einen Anruf bekommt. Hysterisch schlägt ihm eine Stimme entgegen:
„Herr Delbrück, es ist wie Sie gesagt haben! Es wird seiner Spielsachen langsam überdrüssig! Ich hab aber nichts Neues hier!“
„Ganz ruhig. Die Sendung ist vorbei, ich bin unterwegs.“
„Haben Sie die Spielsachen Ihres Sohnes schon dabei?“
„Selbstverständlich. Machen Sie einfach weiter wie bisher.“
Fritz nähert sich der gläsernen Wand, hinter der sich die Novisse befindet. Es ist Fütterungszeit. Einen Moment lang hält er inne und mustert die andere Seite. Währenddessen plant er seinen nächsten Schritt. Ein Fahrrad, ein kaputtes Mobilee, Bilderbücher, verschiedene Zauberwürfel – alles Mögliche liegt dort herum. So auch die Novisse, ein mattgraues Wesen mit ledriger Haut und tiefschwarzen Augen. Manisch klopft es auf einer Spieluhr herum. „Du musst sie öffnen, sieh dir den Verschluss an.“, murmelt Fritz. Es dauert nicht lange und schon ist sie offen. Ein kleines Menschlein fängt mit dem Auftakt der Melodie zu tanzen an. Unablässig durchlöchert das Wesen den kleinen, weiterentwickelten Menschenaffen mit den Augen. Hätte die Spieluhr eine Kurbel gehabt, so müsste nicht ständig neuer Kram aufgetrieben werden, um die Novisse zu beschäftigen. Musik wird schließlich immer besser, je öfter man sie hört – oder nicht? Fritz verlässt allmählich die Sorge. Er wirft seinen Blick zurück in die weiten Räumlichkeiten des Labors. Das schwache Licht lässt die weißen Wände grau werden. Überall liegen stapelweise Unterlagen herum, vollgeschriebene Zettel pflastern den Boden. Draußen wird es allmählich dunkel. Während Fritz die Schranktür mit den Kartoffelsäcken aufsucht, vermeidet er konzentriert, eines der Papiere zu streifen. Energisch packt er gleich mehrere der schweren Säcke und stampft breitbeinig zurück. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die massive Glastür und betritt die andere Seite. Er greift zur größten Kartoffel, die er finden kann. Noch in Gedanken darüber, ob er nicht gleich einen ganzen Sack da lassen solle, fällt ihm schlagartig die unheilvolle Stille auf. Die Angst schiesst ihm in den Kopf. Die Spieluhr – sie hat Ruhe gegeben!
Währenddessen steigt Herr Delbrück aus dem Auto und öffnet den Kofferraum. Wehmütig betrachtet er den alten Karton mit den Spielsachen seines Sohnes. Er sollte mal in die Fußstapfen seines Vaters treten. Für all die verschiedenen Ausformungen der Natur jedoch hatte er nie etwas übrig. Mit dem Karton unterm Arm nähert der Biologe sich dem Labor. Ein kalter Wind schlägt ihm ins blasse Gesicht. Früher war dieser Ort Schauplatz unzähliger Stunden des Niederschreibens. Herr Delbrück betrieb jahrelang Feldstudien an den verschiedensten Orten der Erde. Mit dem Fund einer neuen Spezies war zu rechnen. Aber mit dem Fund eines neuen Menschen? Damit war die Rumreiserei vorbei. Auch dem Verhältnis zu seiner Familie hat der Fund nicht gerade in die Karten gespielt. Als Herr Delbrück die Tür öffnet, fährt ihm ein Schauer über den Rücken. Sein toter Biologielaborant blickt ihm mit leeren Augen entgegen. Sein Körper bis zur Unkenntlichkeit zerrissen. Der matschige Teppich aus Papierfasern und rotem Nass schmatzt genüsslich mit jedem Schritt und lässt Delbrücks Augen glasig werden. Der Kloss in seinem Hals schmerzt und hindert ihn am Schreien. Der neue Mensch hat sich also eine Beschäftigung gesucht. Und sein nächstes Ziel liegt direkt vor seiner Nase.