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Der Schrei des Samurai

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03.01.2004
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Der Schrei des Samurai

Der Schrei des Samurai

Träume hatten sich Nick in jüngster Zeit eher selten offenbart, aber er nahm sie dennoch gerne als eine Erleichterung in dieser sterbenden Welt hin. Gemächlich drehte er sich mit dem Gesicht von der Wand und schob die Decke ein wenig zurück, um einen Blick aus dem Fenster zu tätigen. Wenn man ganz genau hinhörte, so drang das leise Säuseln des Windes sogar durch die schalldichten Fenster. Er umspielte, ja umfloss die Nadeln und Blätter der sich biegenden Bäume, als wolle auch er um Hilfe schreien.
Nick hingegen lächelte und hob sich aus seinem Bett, um seine Kleidung anzulegen. »Nancy«, dachte er und hatte bereits wieder den süßlichen Duft ihrer blonden Locken in der Nase. Was ein schöner Traum war es diese Nacht gewesen. Ihre seidige Haut, ihre Stimme und ihr Lachen. Und doch war es so seltsam irreal, so flüchtig und nichts sagend. Wenngleich es fast noch realer schien als diese Welt. Halb angezogen schaltete Nick seinen Fernseher ein. Jede der Handlungen, die er und die meisten anderen Menschen ausführten, waren in den letzten Monaten zu einem hypnotisch monotonen Fluss verkommen.
» ... Angaben sind letzte diplomatische Verhandlungen gescheitert. Die markierten Ziele werden also, wie angekündigt, morgen um 15.30 mitteleuropäischer Zeit von gelenkten Atomraketen ... «
Nick schaltete hektisch, an dieser Stelle schon wieder ab. Er wollte es nicht mehr hören, irgendwie verkraftete er auch nicht, darüber nachzudenken. Es überraschte Nick nicht, dass es so enden würde. Lange genug, hatte man es bereits verarbeiten können. Zwar hatte er nicht wirklich das Gefühl, es verarbeitet zu haben, aber da war dieses Gefühl von Verdrängung und gezwungener Stille, die Gedanken und Emotionen eines jeden Einzelnen aufzufressen schienen. In seiner Familie war die Situation wiederum anders. Bereits vor drei Jahren, hatte man angefangen, diverse Bunkeranlagen für spezielle Bevölkerungsschichten zu bauen. Seine vierköpfige Familie hatte Freischeine zu wahren Luxusbunkern erhalten, die sogar teilweise über künstliche Biosphären verfügten. Freuen konnte sich Nick darüber nicht. Gleich würden sie seinen kleinen Bruder Timmi abholen. Die Busse fuhren schon seit einigen Wochen und Nicks Eltern hatten darauf Wert gelegt, seinen Bruder früh genug in Sicherheit bringen zu lassen, falls die Abschusszeit versehentlich doch nach vorne verlegt werden würde. Lange hatten sie Nick ebenfalls dazu überreden wollen, aber er selbst weigerte sich zu gehen, bevor er seine Freunde noch einmal komplett versammelt gesehen hatte. Eigentlich wollte er nur Nancy noch einmal sehen. Sie trafen sich heute Abend in seiner Schule. Sein Vater hatte es verstanden. Nicks Eltern mussten noch draußen bleiben, da sie, als Ingenieure, noch die Pläne einiger Maschienen fertig stellten und an diverse Organisationen im Ausland senden mussten. Wahrscheinlich hatte es ein technologisches Gefälle zwischen einzelnen Ländern gegeben und man brachte einige Anlagen noch in letzter Minute auf vordermann.
Bedrückt schlenderte Nick die Treppe hinunter und begab sich zu seiner Familie in die Küche. Es wunderte ihn ein wenig, dass man seiner ganzen Familie einen Zuganspass in den Bunker gegeben hatte, da er selbst kein überdurchschnittlicher Schüler war und noch dazu ein sprachlich orientiertes Gymnasium ging. Timmi hatte seinen Schein aufgrund des Alters erhalten und sein Vater wahrscheinlich wegen seinem doppelten Doktortitel. Seine Mutter hingegen, hatte ihr Studium lediglich normal abgeschlossen. Allen Anschein nach, waren jedoch die Resultate, die aus dieser Familie kamen irgendwie so bemerkenswert, dass man sie rettete. Aber Nick hatte nun wahrlich anderes zu tun, als sich über so etwas Gedanken zu machen. Alle Augen wanderten immer wieder auf das jüngste Mitglied dieser Familie. Man bemühte sich, dieses Frühstück wie ein ganz normales aussehen zu lassen. Wie eines, dass bereits das ganze Leben lang so abgelaufen war und sich auch nicht ändern würde. Nur die gedrückte Stille, die darüber lag, sprach die Wahrheit. Durch sie konnte man schon jetzt die ohrenbetäubenden Explosionen hören, die nichts, aber auch garnichts von dem lassen würden, was scheinbar ewig gewährt hatte.
Timmi hatte sicherlich schreckliche Angst, da er vorerst in einer leicht abgelegenen Bunkeranlage unterkommen musste, bevor Nick zu ihm nachkam. Seine Eltern hatten einen Standort zugewiesen bekommen, welcher leicht versetzt von ihrem lag. Es würde mindestens ein paar Tage brauchen, ehe sie sich wiedersehen könnten, aber wenigstens lebten sie. Den letzten Fakt, betonte sein Vater immer wieder. Generell stellte er den Ruhepol in seiner Familie dar. Stets gefasst und klar denkend, lies er sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Seine Mutter sah jedoch übel mitgenommen aus und Nick hatte sie letzte Nacht mehrere male weinen gehört.
Die Stille war fast, wie eine geistige Dunkelheit, die nur Platz für Phantasien aus Schreien und Leid übrig ließen. Aus Timmis großen braunen Augen flossen die ersten Tränen, als die Sirene des Dorfes die Ankunft der nächsten Busse ankündigte. Alle Familienmitglieder waren durch sie hochgeschreckt. »Nick kommt morgen früh zu dir nach«, sagte sein Vater in ruhigem Ton und zwang sich zu einem warmen Lächeln. »Er wird gut auf dich aufpassen, bis wir uns wiedersehen.«

Timmi sah sich auf dem Weg nach draußen noch einmal alles sehr intensiv an. So als würde er begreifen, was morgen mit dieser Welt geschehen würde. Fast schon hochsommerlich waren die Temperaturen und die Luft war so trocken, dass man meinte, überhaupt nichs mehr einzuatmen. Seine Mutter begann bitterlich zu weinen und umarmte ihr jüngstes Kind noch einmal sehr fest. Es kümmerte sie nicht, dass sie mit den blanken Knien auf der rissigen und teilweise spitzen Oberfläche des Bürgersteiges kniete. Der Frühlingswind war wärmer als je zuvor. Nicks Herz begann hysterisch zu schlagen. Jeder Windhauch war wie eine Druckwelle, jedes Rascheln in den Bäumen, wie das brausen der Feuerwalze und jede Wolke im Himmel, wie ein Ausläufer des riesigen Giftpilzes. Nick sah seine Mutter und ihren jüngsten Sohn an, wie sie sich in den Armen lagen, als sei es ein ewiger Abschied. »Ich will nicht weg!«, wimmerte sein Bruder. Wie er dastand. So hilflos mit seinem kleinen weißen Stoffhund und dem findet Nemo Pullover. Den schweren Rucksack auf seinen kleinen Schultern tragend, die Nick gerade einmal bis zum Gürtel reichten.
Er nahm all seinen Mut zusammen und beugte sich zu ihnen hinunter. »Wir schaffen das«, sagte Nick. »In drei Tagen sind wir alle wieder zusammen.«
»Beeilst du dich, Nick?«, fragte Timmi vorwurfsoll. Nick versicherte es ihm. Jetzt kam er sich ein wenig mies vor, aber andererseits sorgten sie in den Bunkern gut für die Kinder und bis morgen früh, würde es schon gehen. Seine Mutter weinte bei Nicks letzten Worten noch eine Spur lauter. Sie umklammerte Timmis Schultern, als wollte sie ihn niemals loslassen und auch der Kleine hielt sich noch mehr an ihr fest. Sein Vater legte ihr die Hand auf die Schulter. Erst wollte sie sie wütend abstreifen, aber dann verstand sie. Ganz langsam nahm sie ihren Kopf zurück und schaute dem Jungen tief in die Augen.
»Bis bald Timmi«, sagte sie und lächelte. Nick strich ihm noch einmal durch die Haare und verabschiedete sich schließlich. Seine Mutter gab ihrem kleinen Jungen noch einen Kuss und entlies ihn mit zittrigen Händen in die olivgrünen Bustüren. Drinnen saßen viele seiner Freunde. Selbst mit seinen sechs Jahren, hatte er nun wieder etwas von einem Baby, welches die ersten Schritte tätigte. Unsicher stapfte er auf die großen Türen zu und musste die hohen Stufen ganz allein erklimmen. Sie waren für Soldaten gemacht, nicht für Grundschulkinder. Als er oben angekommen war, drehte er sich noch einmal zu ihnen um. Nicks Vater war der einzige, der jetzt nicht weinen musste. Wie dieses kleine Kind dort stand, mit seinem großen Rucksack voller Lebensmittel und Süßigkeiten, die seine Mutter liebevoll eingepackt hatte. Er hielt sich ganz fest an seinem kleinen weißen Stoffhund. Wollte nur nach Hause und verstand nicht, warum Menschen so etwas tun konnten. Eigentlich begriff es wohl fast niemand, ausser Jenen, die gut dran verdienten. Wie eine unendliche Zeitspanne schien es, als die Hydraulik zischte und die Türen krachend zufallen lies. Durch die getönten Fenster, sah man für kurze Zeit noch das verweinte Gesicht des kleinen Jungen, bevor der Gang eingelegt wurde und das Gefährt seinen unaufhaltsam verfolgten Weg antrat. Wimmernd brach Nicks Mutter neben ihm auf die Knie. Die Ereignisse der letzten Zeit, mussten stark an ihren Nerven gezehrt haben. Er und sein Vater stützten sie, bis sie im Haus angekommen waren.

Nick musste einige male schlucken, als sie sich zurück an den Küchentisch setzten. Nur indem er sich die Fakten vor Augen führte, konnte er seine Gefühle halbwegs im Griff halten. In ein paar Tagen würden sie sich wiedersehen. Sie würden es schaffen, im Gegensatz zu all den anderen Familien, die ihre kleinen Kinder nun zum letzten mal in ihrem Leben sahen. Niemand am Tisch sprach. Nicks Vater hatte drei Tassen Kaffee angerichtet und man nippte notgedrungen daran, um eine vermeintliche Ablenkung zu erhalten. Das Ticken der Uhr schliff sich in den Kopf, als sei es das Geräusch eines Countdowns. Punktgenau und unfehlbar, dachte sich Nick.
Dann durchbrach sein Vater die Stille und wühlte in seiner Tasche. Es schien sogar wiederzuhallen, als er den noch unausgefüllten Passierschein auf den Tisch legte.
»Du musst mir versprechen auf ihn aufzupassen, hast du gehört Nick?«, sagte seine Mutter, während ihr Atem verriet, dass sie den Tränen wieder bereits nahe stand. »Er hat doch immer so eine Angst«
Nick nahm sie in den Arm. Sie atmete so schwer. »Ich verspreche es dir. Ich werde alles tun, damit es ihm gut geht.«
Sie weinte so schrecklich, dass er fast selbst davon angesteckt wurde. Nick kannte es nicht von sich, solche Sachen zu sagen. Eigentlich hatte er noch niemals viel Verantwortung übernehmen müssen. Ehe er noch einige beruhigende Worte sprechen konnte, ergriff sein Vater das Wort.
»Hier, das ist dein Schein. Den füllst du am besten gleich oben in deinem Zimmer aus, sonst könnte ihn dir jemand klauen. Immer nah am Körper tagen, niemals aus den Augen lassen, hast du verstanden?«
Er nickte nur zur Bestätigung. In diesem komischen grünen Stück lag also sein Leben. Nick schaute es noch einige Sekunden aus der Entfernung an. »Los, nimm es!«, sagte sein Vater in festem Ton und Nick tat, wie ihm gehießen wurde. Seine Hose besaß eine Doppeltasche und er verstaute den Schein so sicher, dass man ihn weder sehen, noch klauen konnte. Man müsste ihm schon das Bein abhacken.

Seine Mutter hatte sich hingelegt. Warscheinlich war es besser so, denn im Schlaf verarbeitete man oft einige Dinge besser. Er fragte sich, wie das Leben in dem Bunker so sein würde. Die Uhr zeigte jetzt 15.30. Noch genau vierundzwanzig Stunden bis zum Overkill. Nick kam sich wie eine Schachfigur vor, die alles nur passiv erlebte und keinen Einfluss üben konnte. Egal was er tat, diese Dinger würden morgen Nachmittag auch unweit von hier einschlagen. Man hatte ganz Europa mit einem dichten Netz an Einschlagspunkten versehen. Es gab keinen sicheren Ort mehr. Der Mittelpunkt seiner Kleinstadt war ebenfalls für einen Angriff markiert. Oben gab es so gut wie keine Möglichkeit zu überleben und wenn man es doch schaffte, so erledigte der Fallout den Rest. Wie er so in seinen Klamotten wühlte, rückte das alles ferner. So wie man normalerweise Kriege von Europa aus sah. Es war im Fernsehen und irgendwie ohne direkte Auswirkung, auf das eigene Leben. Vielleicht stand er aber auch bereits unter Schock. Nick konnte nichts tun, hätte in seinem ganzen Leben nichts tun können. Das die Raketen morgen einschlugen, war eben so. Hatten die Großmächte eigentlich jemanden wie ihn gefragt, ob er bereit wäre für ihre Sache zu sterben? Nick wäre bereit gewesen, den Chinesen sogar eine Kapitulation zu senden und er wettete, dass es sicherlich auch einen Jungen in Peking gab, der seinem Land gegenüber genauso dachte. Sie hatten nicht einmal die Gelegenheit gehabt, Freundschaft oder Toleranz zu entwickeln. Das Opfer eines sinnlosen Machtapparates waren sie beide. Und beide würden sie morgen viele ihrer Lieben im nuklearen Feuer verlieren. Oder selbst darin verbrennen.
Bedrückt nahm er, fast schon mit liebender Hand, sein Katana von der Wand. Er hatte das Schwert zum Glück niemals benutzen müssen. Wenngleich er schon immer eine Vorliebe für Kampfkünste hatte, würde er wohl niemals mehr mit ihnen kämpfen müssen. Ob das nun gut war, oder ob er seine Zeit mit dem Zeug verschwendet hatte, konnte er nicht sagen. Zumindest konnte er das nicht, bevor er die Klinge noch einmal entschlossen aus der Scheide riss. Die Magie des Schwertes ergriff ihn. Es war ein so gutes Schwert. Fein gefalteter Stahl, eine Blutrinne und eine so scharfe schlanke Klinge, dass man mit ihr ohne Schwierigkeiten Knochen und Fleisch durchtrennen konnte. Sachte fuhr er mit seiner linken Hand über das Metall, bevor er einen entschlossen Schlag nach vorn ausführte. In der blitzschnellen Bewegung leicht zischend fuhr die Klinge durch die Luft. Jetzt fühlte er sich plötzlich sicher. Wie ein Fels stand er dort, mit seinem Katana. Es war nicht nur ein Gegenstand, es vervollständigte ihn, machte ihm klar, wer er wirklich war. Für endlose Minuten stand er einfach so in seinem Zimmer. In einer lauernden Kampfstellung und furchtlos vor dem, was kommen würde. Natürlich hatte er Angst, nur schienen ihn jetzt Werte und Einstellungen zu kontrollieren, die über diesem bitteren Gefühl standen. Nick drehte das Schwert noch einmal in der Luft und versengte es schließlich wieder in der Scheide. Er streichelte es noch einmal und hängte es wieder an seinen Platz. Es würde nicht mit ihm kommen können, aber er trug ja schließlich das in sich, an was es ihn just erinnert hatte.

Nicks Mutter war tatsächlich seltsam gefasst, als sie ihren zweiten Sohn verabschiedete. In ihren Augen ruhte jetzt auch der tranceartige Schock, wie ihn die ganze Bevölkerung jüngst erfahren hatte. Man hatte seine Emotionen ganz tief in sich geschlossen, weil sie einen zu töten schienen, wenn man sie frei lies.
»Auf bald, mein Sohn!«, sagte sein Vater und nahm ihn noch einmal fest in den Arm. »Vergiss deinen Bruder nicht.«
Seine Mutter sah ihn nur an, als wolle sie ihn nicht verabschieden. Als wolle sie verleugnen, dass das hier alles wirklich passierte. Die Sonne stand tief am Himmel, doch verursachte immernoch eine mörderische Hitze. Dann erhob sie den Blick und die Muskeln in ihrem Gesicht begannen zu zucken. Wimmernd fiel sie ihm um den Hals und schien ganze Ozeane zu weinen.
»Ich bin so stolz auf dich, mein Junge«, sagte sie. »Ich habe dir noch ein bischen von dem Kirschkuchen eingepackt, den du so magst. Verabschiede dich gut von deinen Freunden. Aber komm bitte nicht zu spät zu den Bussen«
Nick war die Kehle zugeschnürt. Sie Krallte sich in seine Kleidung. »Hast du verstanden, komm nicht zu spät zu den Bussen!«
»Ja«, sagte er nur, aber seine Stimmbänder schienen keinen anständigen Ton hinaus zu bekommen. Auch seiner Mutter versagte die Stimme. Ihr Weinen schien jedes Wort in kleine Stücke zu spalten.
»Dann sehen wir uns«, sagte sie und konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Sie drohte bereits wieder in sich zusammen zu sacken, doch Nicks Vater hielt sie sicher. Beide nickten sich noch einmal zu und sein Vater klopfte ihm auf die Schulter. Es schien wieder so unendlich langsam, als sich der große Mann umwendete und mit seiner Mutter zurück ins Haus ging. Er schaute noch einmal an dem großen Bau hoch. Schließlich würde er ihn zum letzten mal sehen. Es war so viel passiert.
Nick wendete sich nun doch um und lief hastig in Richtung seines Autos. Tränen rannen seine Wangen hinab, doch er konnte sich schnell wieder beruhigen. Alles würde ja gut werden, wenn sie zusammen in Sicherheit wären. Der härteste Teil würde erst jetzt folgen. Nick würde heute vorsichtig fahren, denn es war nicht auszudenken, was ein Unfall für folgen haben könnte. Zum Glück wusste niemand aus seiner Schule, dass er einen Freischein in der Tasche trug.

... Aber dort war mittlerweile sowieso schon die Anarchie losgebrochen. Der letzte Sonnenuntergang tauchte das geradlinig gebaute Gebäude in ein orangefarbenes Licht. Es war eine mittelgroße Schule, die mittlerweile schon über und über mit Graffiti verziert wurde. Nick würde das Auto nicht mehr brauchen, denn ein Abfahrtplatz für die Busse, war nur zwei Straßen weiter. Trotzdem parkte er es sorgsam ein. Es war ihm anscheinend doch bereits ans Herz gewachsen.
Er war zuvor noch kurz mit ein paar Leuten in eine Tankstelle eingebrochen, hatte seinen Kofferraum mit Alkohol voll geladen und den Tank noch einmal gefüllt.
»Hey!«, rief Nick einem Schüler aus der Unterstufe zu, der gerade mit einem geklauten Einkaufswagen herum fuhr. »Bring mal her das Ding, wir müssen den Alk irgendwie in die Schule schaffen.«
Von allen Seiten her wurde er freundlich begrüßt und man warf ihm sogar einen dicken Joint zu, den er fürs erste in einem eigens dafür präparierten Brillenetui in seiner Tasche verstaute. 2013, so lange hatte es gebraucht, bis Cannabis niemanden mehr störte. Zumindest kam die Reform nicht völlig zu spät. In der großen Pausenhalle der Schule, hatte man bereits diverse Lichtspiele angebracht und eine kleine Anlage aufgebaut, der jedoch noch die Boxen fehlten. Wie nicht anders zu erwarten, koordinierte Marc, sein bester Freund, die ganze Aktion.
»Moin Nick!«, rief er ihm zu. »Schon das Zeuch hier probiert?«
Eine weiße Pille flog quer durch den Raum und traf ihn am Kopf. Er konnte sie jedoch noch fangen und musterte sie kritisch. »XTC?«, fragte er.
»Für wen bitte hälst du mich?«, wehrte Marc ab. »Das ist Bluesky. Eine neuartige Droge ohne Nebenwirkungen. Verstümmelt dein Kurzzeitgedächnis, sorgt für das gewohnte Schwindelgefühl und haut derartig viele Endorphine ins Blut, dass du am liebsten in den Pilz morgen reinbeissen würdest.«
»So,« sagte Nick noch zögerlich. Er musste morgen immerhin seinen Bus erwischen. »Und wie lange hält das an?«
»Das ist ja das geile!«, rief Marc. »Du trinkst nen Liter klares Wasser und merkst nichts mehr. Wenn du das nicht tust, dann so an die sieben Stunden.«
»Sweet«, sagte Nick und tat so, als würde er die Pille nehmen. Er würde sie sich aufsparen, bis die Party richtig im Gang war. Plötzlich erschrak er fürchterlich, als das Glas der Hintertür der Pausenhalle, laut zum bersten gebracht wurde und ein Jeep kurz danach mit quietschenden Reifen im Raum zum stehen kam.
»Hier hat jemand Boxen bestellt!«, sagte der Junge, welcher fröhlich grinsend aus dem großen Wagen sprang. Es war Dominik, der wahrscheinlich den Wagen seines Vaters geklaut hatte. Zwar hatte er einen Wildfänger an der Front, doch dieser sah schon mächtig ramponiert aus. Wen kümmerte es?
Das musste sich wohl auch ein bereits Betrunkener Schüler gedacht haben, der sogleich eines der Blinklichter an der Front des Fahrzeuges zertrat. Dominik schien darüber garnicht erfreut.
»Sag, bist du des Wahnsinns? Du kannst doch nicht einfach so das Licht da raustreten«, schrie er ihn an. »Hier, so muss man das machen!«
Er nahm ein Stück Holz vom Boden, welches aus der Tür gesplittert war und zerschlug ein weiteres Licht. »Oder willst du dich noch am Fuß verletzen?«

Nick ergriff plötzlich ein seltsamer Schwermut, als das Mädchen mit den blonden Locken den Raum betrat. Nicht einmal in dieser Zeit, schwiegen seine Gedanken bezüglich ihr. Nancy. Es war weniger so, dass sie wirklich Modellmaße hatte, wenngleich sie natürlich immernoch schön aussah, sondern eine Wirkung, die einen einfach in ihren Bann schlug. Nick fühlte sich ihr wahrlich verbunden, sie waren sehr gute Freunde geworden, auch wenn sie sich noch nicht wirklich lange kannten. Zwar liebte er es, sie zu sehen, nur löste das in ihm auch immer einen tiefen Schmerz aus. Denn er war eben ein Freund für sie, ein sehr guter Freund, aber eben nur ein Freund. Das war wieder einer der Momente, in denen er sich selbst tierisch hassen könnte. Die Party war mittlerweile voll im Gange, doch er saß auf einem abgelegenen und dunklen Platz. Wie ein räudiger Hund, den man in die enge geprügelt hatte und der jetzt auf seinen Gnadenstoß wartete. Nick dachte nicht mehr an die Bombe. Er war im jetzt und hier. Und außerdem schon mächtig besoffen. Nancy spielte an ihren goldenen Strähnen, während sie mit einem Jungen flirtete. Es war eben das typische Schema. Er war selbstverständlich groß, blond und hatte diesen gewissen Milchbubi-Blick, der soviel sagte wie: Komm mit, damit ich dich nageln und anschließend fallen lassen kann.
Aber in den Augen der Mädchen, waren sie ja immer anders, als die anderen. Dieser Blick konnte ja einfach nicht Lügen. Als würden sie alle wollen, dass man sie wie Dreck behandelte. Sogar den tollsten Mädchen, passiete das immer wieder.
Nick zog die Pille aus seiner Hosentasche und schluckte sie frustriert und ohne zu zögern, in einem Stück hinunter. Rhythmisch schlug er seinen Kopf gegen die Wand hinter sich. Der Alkohol hatte ihn schmerzfrei werden lassen.
Warum konnte er nicht auch so groß und blauäugig sein, wie dieser Typ dort hinten? So ein widerwärtiges Arschloch, welches einfach keine Skrupel kannte. Denn das mochten sie ja, darauf standen ja bekanntlich alle von ihnen. Dumm nur, dass er ein kleiner hässlicher Feigling war, der nichts hermachte und sich auch noch durch so etwas, wie Werte oder Tugenden beschränkte. Was war er doch für ein erbärmlicher Versager.
Das bunte Licht tanzte über seine Augen und schien ihn zu hypnotisieren. Dazu gesellten sich ganz allmählich andere Farben, die durch den Raum schwebten. Er schien völlig abzuheben. Das rote Licht, in welches die Halle primär getaucht wurde, färbte sich orange und wurde immer und immer heller. Er sah sie an, Nancy. Wie sie tanzte. Es wurde immer lauter, übertönte die Musik und alle Stimmen. Ihre Haare wurden angesengt, doch sie lächelte einfach weiter, mit ihren blitzenden geraden Zähnen. Das Gold ihrer Locken, verwandelte sich als bald, in graue Asche. Sie lachte sogar noch, als ihre dunkelrot gebrannte Haut, vor Hitze Blasen schlug. Nick presse seine Hände an die Ohren, weil er den Lärm nicht mehr ertrug. Er wollte sich mit Wasser übergießen, doch die Hitze machte ihm schon so zu schaffen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. »Wasser!«, versuchte er zu rufen. Ja, sogar Nancys blanker Schädel grinste noch, als das Feuer die letzten Fetzen davon riss. »Wasser!«
Und danach setzte sich das Gefühl ihres Lächelns in seinem Kopf fort, als schließlich auch ihr Skelett in millionen von Partikeln zerblasen wurde. »Wasser!«, wollte er noch einmal schreien, doch er spürte seinen Körper bereits nicht mehr. Ohnmacht.

Das Gehör war der erste Sinn, der wie durch eine dicke Wand zu ihm drang. Die Musik war jetzt bedeutend leiser und er hörte seltsame Stimmen um sich herum. Der Wortbrei ergab erst keinen Sinn, doch dann drangen erste Sätze zu ihm durch. Seine Schultern und sein Gesicht fühlten sich so kühl an. Etwas starkes hielt seine Handgelenke.
»Das reicht!«, rief eine vertraute Stimme. Etwas wurde aus seinem Hals gezogen, so dass er sich fast übergeben musste. Dann schlug er die Augen auf und erkannte als erstes Ein Intubationsgerät und daneben eine offene Flasche klares Wasser. Instinktiv griff er danach und leerte sie in einem Zug. Jan, ebenfalls einer seiner Freunde, saß neben ihm. Er war in seiner Freizeit begeisterter Sanitäter.
»Alles klar?«, fragte er, während er sich ein Lachen verkniff.
Nick brauchte ein wenig, um seine Koordination vollständig wieder zu erlangen. »Ja«, sagte er. »Aber friss blos nicht die scheiß Pillen, mit denen Marc hier herum rennt.«
Jan lächelte. »Ich weiss, du bist schon der Vierte, der mir das heute Abend sagt.«
»Gehen wir zurück zum feiern?«, fragte die Stimme des Jungen, der seine Handgelenke gehalten hatte.
»Marc?«, rief Nick erschrocken. »Ich hasse dich!«
Die beiden grinsten sich an und begannen schließlich schallend zu lachen. »Komm mit!«, sagte Marc. »Ich habe da hinten noch nen ganzen Packen davon liegen.«

Kurz lies er sich auf das selbstvergessene Getanze ein, ehe er merkte, dass er garnicht in der Stimmung war. Nancy, sie saß in seinen Knochen. Er konnte ihr nicht widerstehen. Dachte sie überhaupt öfters an ihn? Schlief sie, genau wie er, Nachts nicht ein, weil sie an nichts anderes Denken konnte? Waren ihr auch die Raketen egal, wenn sie an ihn dachte? Nick lebte nur für den Moment, weil er nicht realisieren konnte, dass sich morgen alles verändern würde. Er wusste es, aber konnte es nicht begreifen. Deswegen hatte er immernoch Angst, sie anzusprechen, obwohl er sie schon relativ gut kannte. Wie erbärmlich war das eigentlich? Der Hass auf seine Angst und auf sich selbst stieg derartig an, dass sich in ihm eine seltsame Reaktion bildete. Da war das Verlangen, sich selbst zu verletzen, so wie er es verdient hatte. Nick war zu schlecht für sie und das wollte er nun direkt ins Gesicht gesagt bekommen.
Zögerlich drängte er sich, noch leicht vom Alkohol benommen, durch die Massen und Verfolgte nur das Bild ihrer fliegenden Haare. Ganz langsam schälte sie sich aus dem Brei an Körpern und knapper Kleidung. Erst ihre Schultern, dann das Gesicht und bald auch eine Hand, die ihr einige Strähnen aus den Blicken strich. Für einen kurzen Moment, zog er ihren Duft in sich. Sie roch so herrlich nach Vanille. Er extrahierte sie aus dem Gemisch an billigen Parfums und Schweiß. Jetzt war ihr Blick so klar, ihr lächeln so ungetrübt und für den Bruchteil einer Sekunde ruhten ihre türkisblauen Augen auf ihm. Es fühlte sich fast, wie eine Umarmung an. Sie hob kurz die Hand zum Gruße, bis sich ein Kopf zwischen die beiden Blickfelder schob. Der blonde Junge liebkoste ihren Hals, drehte sie in seine Richtung. Umklammerte sie und küsste sie so innig, dass er fast daran ersticken musste.

Das reichte jetzt eigentlich. Ein Schlag, der auch noch relativ unerwartet kam, das hatte er gebraucht. Zielstrebig nahm er den Eingang ins Visier. Nick meinte sogar, dass er den Bus schon von hier aus erkennen konnte. Durch die kalten Wände und einsamen Straßen hindurch. Das war also das letzte mal, dass er sie sehen sollte. Es passte in sein Leben, also musste er es nun auch so weiterleben. Niemals würde sich an diesem Weg etwas ändern. Man schien ihn nicht zu sehen, als er durch die Masse schritt und schließlich aus dem Eingang trat. Normalerweise standen bei einer Party immer ein paar Leute draußen, um kurz zu verschnaufen.
Nur heute gab es anscheinend keine Atempause. Es war das letzte Stück Lebensstrecke, welches man im Sprint nehmen musste. Nick hatte damit so seine Probleme, denn da lag noch eine Entfernung vor ihm, die er selbst in einem Raketenwagen, nicht an diesem Abend schaffen konnte. Wie lange betrug die Halbwertszeit, nach der er aus dem Bunker konnte? Dreißig oder Fünfzig Jahre? Es interessierte ihn nicht. Eigentlich war er schon tot, denn dieser Abend, hatte ihn bereits umgebracht. Immer hatte es Nächte gegeben, in denen man die vermeintlich letzte Chance vermuete, nur sprachen Atomraketen eine weitaus deutlichere Sprache, als verschleiertes Schicksal. Die letzte Chance, war mit jedem Schritt mehr und mehr vertan. Auf einer Wiese, die unweit des Schulgeländes lag, sank er auf die Knie und lies sich achtlos auf das Gesicht fallen. Nach einigen Minuten, in denen er Tränen über alles mögliche heraus gepresst hatte, drehte er sich um, um die Sterne zu betrachten. Noch ein letztes mal, wollte er sie sehen, doch er sah sie nicht. Wo er sich auch hinwendete, sah er nur Nancys Gesicht, spürte ihre Aura. Warscheinlich würden ihn sogar die kalten Betonwände irgendwie an sie erinnern. Noch vierzehn Stunden und dreiundzwanzig Minuten. Es war seltsam, wie dieses nahezu endlose Leben plötzlich so klar determiniert und abgegrenzt vor einem lag. Vielleicht würde er, als alter Mann, wieder das Gras auf den rissigen Boden pflanzen, auf welchem er in der letzten Nacht gelegen hatte. Und würde sich genau so allein wieder hinlegen und auf den richtigen Tod warten. Aber vielleicht ... Nick wurde von einem Gefühl beschlichen. Etwas riss ihn zurück, in diese sterbende Welt. Vielleicht würde er sich auch entschließen endlich aufzustehen und zu kämpfen. Für jede Minute und jeden Herzschlag zu kämpfen. Spielte es denn eine Rolle?
Mit einem Satz, war der Junge auf den Beinen und rannte zurück in Richtung der Schule.

Da gab es etwas seltsames, was sich Zufall nannte. Nur jeder, der diesen schon einmal am eigenen Leib erfahren durfte, würde ihm lieber einen eigenen Namen geben. Denn zufällig schien dieser Zufall keineswegs zu sein. Zwar war der Zufall keine Bestimmung, er war etwas, was man als Mensch nicht verstand. Und er trieb Dinge nur all zu oft dazu, dass sie von einem Moment auf den anderen einen Sinn ergaben.
Denn als Nick den hinteren Hof seiner Schule betrat, auf dem nur selten Leute ihre Bahnen zogen, da traf er die Person, auf welche er ein Leben lang hatte waren müssen. Nancy weinte, als sie die schleppenden Schritte über den Hof tat. Ein gewisser Junge redete unaufhörlich auf sie ein und versuchte sie zu betören. Das sie ihre Meinung gehörig geändert hatte, war ihm dabei eigentlich egal. Aus einer paradoxen Angst heraus, blieb Nick vorerst in Deckung.
Wie nicht anders zu erwarten, eskalierte die Situation. Nacys Ohrfeige schallte so laut durch die Nacht, dass man sie wahrscheinlich noch in einigen Kilometern Entfernung gehört hatte. Die Reaktion des Jungen war jene einer letzten Nacht auf diesem Planeten. Er ergriff ihre Haare, schlug einmal in ihren Bauch und zwang sie schließlich zu einem Kuss. Der Treffer hatte sie für kurze Zeit ohnmächtig gemacht, doch sie kam wieder zur Besinnung und biss zu. Schreiend, lies der Junge kurz locker. Nick sprang auf die Füße. Wenn man ein einziges mal in seinem Leben Mut beweisen konnte, so sollte man die Gelegenheit wahrnehmen, dachte er. Zu viele Vorherige hatte er verpasst, doch heute Abend, war es Zeit.
»Hey!«, rief er und brachte den Jungen dazu, in seiner erneuten Angriffsbewegung inne zu halten. Übertrieben langsam drehte er sich zu Nick um, der mit gelassenen Schritten näher trat. Er grinste, als er ihn sah.
»Was heißt hier hey? Weisst du überhaupt, wen du vor dir hast?«
Nick machte eine wegwerfende Geste. »Sollte ich das?«
»Du brauchst wohl echt was aufs Maul!«, sagte der Junge höhnisch.
Nick blieb einige Meter vor ihm stehen. Ja, groß war sein Kontrahent schon und er ging wahrscheinlich drei mal in der Woche in die Muckibude.
»Und das sagt mir jemand, der sich immernoch unter den Asitoaster legt, obwohl er morgen sowieso wie ein Brathähnchen gebrutzelt wird.«
Die Anspielung auf seine Solariumbräune lies ihn komplett die Beherrschung verlieren und schreiend auf Nick zustürmen. Es war weitaus unspektakulärer, als er es sich vorgestellt hatte.
Nick schlug eine anfliegende Faust beiseite, machte einen Kettenvorstoß mit den Fäusten, bei dem er seinen Gegner sieben mal im Gesicht traf und schmetterte ihn schließlich mit einem gesprungenen Fußtritt zu Boden. »Zu langsam«, flüsterte er dem schwer atmenden Kerl auf dem Boden zu.

Es war bei weitem nicht so, wie in den Filmen, in welchen die Frauen ihren Rettern dankend an und den Hals fielen. Nancy sah so einsam aus, als sie mit den beiden blutleeren Händen ihre Handtasche umklammerte und zitternd in der Dunkelheit stand.
»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Mick und veranlasste sie mit einem leichten Druck auf ihre Schulter loszulaufen. Zum Glück folgte sie der Anweisung. Ihre Schritte klangen weit, durch die stille Nacht. Es war kein Mond zu sehen.
Die beiden waren bereits einige Minuten gegangen, als sie ihn plötzlich kurz ansah.
»Ich habe kein Zuhause mehr, Nick«, sagte sie in einem Ton, der eher einer vom Computer generierten Stimme entsprach, als der des lebensfrohen Mädchens, welches sie meist war. Sie schien garnicht richtig da zu sein. Leicht erschrocken blieb Nick stehen. Er ergriff ihre Hände und betrachtete dieses arme Geschöpf.
»Was ist mit deiner Wohnung?«, fragte er.
»Rausgeschmissen«, kam die Antwort. »Aber es ist ja auch egal, weil ich ja morgen sowieso gebrutzelt werde«
Sie hatte das nicht böse gemeint, aber versuchte die Wahrheit möglichst nicht zu beschönigen. Schon mit achtzehn Jahren, wohnte sie allein in einer Wohnung. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, als sie noch vier war. Anschließend war sie immer wieder in Waisenhäuser gekommen, hatte niemals ein Zuhause gehabt. Wortlos liefen sie weiter. Nick hätte gerne seinen Arm um sie gelegt, aber er fand dies jetzt mehr als unangebracht. War er dann auch nur ein bischen besser, als der Idiot, der dort hinten auf dem Asphalt lag?
Die Nacht war immernoch sehr warm, so dass es nicht nötig war, eine Unterkunft aufzusuchen. Er führte sie auf die Wiese, auf welcher er vorhin gelegen hatte. Die Sterne glänzten immernoch, als könnte nichts ihren Stand verändern. Nancy schien langsam wieder zu sich zu kommen.
»Danke«, sagte sie und strich kurz über seine Schulter, bevor sie sich in das weiche Gras sinken lies. Da lag kein Schrecken mehr in ihrem Blick, keine Angst.
»Kein Problem«, antwortete Mick, in einem beiläufigen Ton. Es hatte in der Tat weniger Probleme bereitet, als er sich vorher gedacht hatte. Er blickte auf die Sterne. Sein wahrer Kampf, stand ihm wohl noch bevor. »Tut dir dein Bauch noch weh?«, fragte Nick und strich sanft über ihre weiche Haut. Sie trug ein bauchfreies schwarzes Top und eine weite rote Hose.
»Ja, noch ein bischen.« sagte sie mit sanfter Stimme. Sie schaute ihn nicht an. Ihre Finger rissen kleine Grasbüschel aus der Erde. »Ich habe solche Angst, Nick«, sagte sie, während sie einen Stern nach dem anderem unter die Lupe nahm. Die tausend lichter hüllten sie in ein sanftes unaufdringliches blau. Sie war so schön.
»Ja«, sagte Nick und strich über ihren Rücken. Er hatte nur sie zum festhalten. Hatte keine Angst, so lange sie lebte. Nancy rückte ganz nah an ihn heran und legte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Atem ging so ruhig. Er würde keine Angst haben, solange sie noch weiter atmete. Nick legte seinen Arm um sie. Jetzt bemerkte er, dass sie doch noch leicht zitterte. Ihre Haut glühte, als wolle etwas aus ihr heraus brechen. Er drehte sich ein wenig, um sich mit dem Rücken an einen nahe stehenden Baum zu lehnen. Seine trockene Rinde piekste leicht am Rücken, aber da er selbst dieses Gefühl nicht mehr lange haben könnte, ertrug er es mit Wohlwollen. Sie zog mehrere male schnell die Luft ein und Nick konnte fühlen, dass sie weinte. Er hatte niemals so viele leidvolle Tränen an einem Tag gesehen, als heute.
»Am meisten Angst habe ich nicht vor dem Einschlag«, sagte sie. Es folgte eine lange Pause, in der Nick versuchte, sich den Geruch ihres Haares so intensiv wie möglich einzuprägen. Sie schien plötzlich so zerbrechlich. Und so hilflos, wie die Welt um sie herum. Wie der Baum und das Gras. »Ich habe Angst vor der Stille, die ich morgen erleben werde, bevor es geschieht. Da werden keine Menschen auf den Straßen sein, außer mir. Es wird niemanden geben, der mich festhält, Nick. Davor habe ich solche Angst«
Ihr letztes Wort war nur noch leicht zu erahnen, weil es in ihrem Weinen unterging. Nick wusste nicht, was er nun sagen sollte, geschweige denn, was er tun könnte. Doch sein Schweigen quälte ihn noch mehr, als einige sinnlose Worte. »Du musst davor keine Angst haben«, sagte er schließlich. »Ich werde die ganze Zeit an dich denken, wenn du willst.«
»Ach Nick«, sagte sie und streckte ihre Arme aus, um ihn zu drücken. Und gemeinsam saßen sie dort, Wange an Wange, Herz an Herz und weinten. Wenngleich es erst eine Stunde nach Mitternacht war, konnte Nick schon das Morgengrauen erahnen. Zwischen ihren goldenen Strähnen, die sein Blickfeld kreuzten, schien die Sonne aufzugehen. Mit ihren unzähligen Strahlen, die zwischen die Bäume drangen, zwischen die leer gefegten Wolkenkratzer, zwischen die Menschen. Wie eine Spinne, die sich anschlich, um blitzschnell ihr tötliches Gift zu injezieren. Warum konnte diese Nacht nicht ewig sein? Er wollte ewig so mit Nancy sitzen. Doch ihre Umarmung löste sich und sie sah ihm gequält ins Gesicht.
»Du solltest zurück zu deiner Familie«, sagte sie. »Sie warten sicherlich schon auf dich. Annabell hat mir erzählt, dass ihre Mutter morgen jedem das Lieblingsessen kochen wird.«
Nick sah sie nur fassungslos an. Was verlangte sie da nur von ihm? Sein Weinen platzte nur so aus ihm heraus und er drückte Nancys warm pulsierenden Körper ganz fest an sich. Es waren jene unendlichen Sekunden, die er für den Rest seines Lebens nicht vergessen würde. Ihr seidiger Körper schmiegte sich an seinen, als würde er versuchen einen Engel auf der Erde festzuhalten. Nick weinte so sehr, dass er nun wirklich keine Luft mehr bekam und Schwierigkeiten hatte, dass ihm nicht schwindelig wurde. Die Haltung war für Nancy unbequem, also schwang sie ihr linkes Bein über, um sich auf seinem Schoß niederzulassen. Es war ein Moment, auf den Nick ein Leben lang hatte warten müssen. Doch es schossen ihm Bilder durch den Kopf, die sein Gewissen an die äussersten Grenzen beanspruchten. Schnelle, verzerrte Aufnahmen.
Er sah Menschen mit blutverschmiertem Gesicht durch Ruinenfelder laufen. Über ihnen ging radioaktiver Regen nieder. Nick sah Nancy, die hilflos und halb unter einem Schutthaufen begraben in einer einsamen Straße lag. Schrie, vor Schmerz und Unbegreifen. Ihre Schreie waren so laut, dass schließlich einige andere Überlebende angelockt wurden. Mit aufgeplatzten Fingern, räumten sie die Steine von ihr. Doch ihr Körper war zermalmt, sie lag in den letzten Zügen. Das Blut rann zwischen den zerschmetternden Knochen in den trockenen Staub und verlor sich in Unendlichkeit.
Er sah sie durch verlorene Straßen streifen und nach Hilfe rufen. Jeder Windhauch nahm eine weitere Strähne ihres Haares mit sich, bis ihr schöner Kopf ganz kahl war. Die Haut zerrissen und die Lippen blau, die Kleider in Fetzen. Bis sie schließlich erschöpft zusammenbrach. Ihr Körper war so schwach. Sie hatte das doch niemals gewollt! Wut gegenüber den Mördern kochte in ihm hoch, doch verblasste wieder, da die Anstrengung vergeblich war. Es gab nichts, was man hätte ändern können. Oder?
Dann saß er wieder mit ihr unter dem Baum. Mittlerweile hatten sie die feste Umklammerung gelöst. Er sah ihr ins Gesicht. Ihre Locken umspielten unangetastet die schimmernden Augen und niedlichen Lippen. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Einige kleine Leberflecke zierten ihre Haut. Nick kannte jeden einzelnen. Sie war noch ganz feucht von den Tränen, aber dennoch so heiß, dass die Flüssigkeit auf der seidig weichen Oberfläche, fast zu verdampfen schien. Es schien jetzt alles so unendlich klar zu sein. Er strich sanft durch ihr Haar, sie schaute nur traurig zurück.
Nick setzte an, um sie nun richtig zu küssen, doch ehe er die Bewegung ausführen konnte, hatte sie ihre Hand, sanft auf seine Brust gelegt.
»Nein«, hauchte sie. »Es tut mir leid«
Den Kopf senkend, schloss er seine Augen. Ihr Anblick war zu schön, für jemanden, wie ihn. Gerade, als sie sich erheben wollte, hielt sie Nick mit sanfter Gewalt zurück.
»Dir muss das nicht leid tun«, sagte er mit zittriger Stimme. »Es ist doch sowieso alles meine Schuld«
Dann kamen wieder Tränen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben derartigen Schmerz erfahren zu haben. Jetzt war es endgültig. Eigentlich machte sie es ihm damit sogar leichter. Sie drückte sein weinendes Gesicht an ihre Schulter und streichelte seinen Kopf.
»Ich lasse dich hier nicht sterben, hast du gehört?«, er wimmerte nun wie ein geschlagener Köter. Doch sie war geduldig und hörte ihm zu. Was er da gerade für eine Entscheidung getroffen hatte, dessen war sie sich nicht bewusst. Mit dem letzten Rest an Entschlossenheit, richtete er sich auf und schaute ihr mit festem Blick in die Augen. Wie aus Stein gehauen, sah sein Gesicht plötzlich aus. Wie der Blick, eines konzentrierten Kämpfers. Seine Hand wühlte nervös in der doppelten Hosentasche. Aus seiner anderen, holte er einen schwarzen Fineliner. Das Papier war mit etlichen Hologrammen und einem spezifischen Code versehen, damit man es unter keinen Umständen kopieren konnte.
Sie begriff nicht, was er tat. »Was machst du da?«, fragte sie und wollte schon neugierig zugreifen. Hastig zog Nick das Papier zurück.
»Was auch immer du tust«, sprach er schon fast agressiv. »Behindere mich jetzt nicht beim Schreiben«
»Gut, gut«, sagte sie leicht verängstigt und präsentierte ihm die blanken Handflächen. »Was ist denn auf einmal los mit dir?«
Fanatisch füllte er die Felder aus. Immerhin wusste er ja alles von ihr. Krankhaft hatte er alles behalten, was sie ihm jemals über sich erzählt hatte.
»Meine Eltern sind Ingenieure«, sagte er noch im kritzeln. Es waren nicht mehr seine Worte, die da aus dem Mund drangen. Es waren nur noch notwendige leere Phrasen. »Sie haben für uns alle somit einen Freischein erwirkt. Insgesamt waren es vier. Jetzt sind es nur noch drei«
Erst zog Nancy die Hand zurück, als Nick ihr den Schein geben wollte, doch dann nahm sie widerwillig an.
»Nein«, flüsterte sie und schaute abwechselnd ihn und das Papier an. Das Lachen, welches Mick jetzt aufsetzte grenzte an das eines Psychopathen.
»Du kümmerst dich doch gern um kleine Kinder«, sprach er. Sie schaute ihn nur fassungslos und überrumpelt an. Ihre großen Augen waren fahl und ihr Gesicht blass. »Du kennst ja auch meinen kleinen Bruder, Timmi. Du musst ihn finden und ihn zu meinen Eltern bringen, hast du gehört? Du musst mir versprechen, dich um ihn zu kümmern, bis er in Sicherheit ist.«
Sie stieß einen hysterischen Schrei aus und kletterte von ihm herunter, bevor sie sich auf die Füße stellte. Nick richtete sich ebenfalls auf. »Hast du gehört?«, fragte er, wieder mit tränenerfüllten Augen.
»Das hast du nicht getan«, sagte sie, während sie nur geschockt auf den Schein starrte. »Das hast du nicht getan«, schrie Nancy immer wieder und begann ihn verzweifelt zu schlagen. »Du hast dich umgebracht, du Idiot!«, rief sie. »Ich kann doch nicht für dich weiterleben!«, rief sie und schlug noch ein letztes mal auf ihn ein, bevor sie weinend zusammenbrach. Den Schein warf sie dabei von sich. Nicks Gedanken überschlugen sich, aber er musste sie beruhigen. Er hob den in Plastik eingeschweißten Schein wieder auf und hielt ihn zu ihr.
»Nein!«, schrie sie und schlug seine Hand weg. »Ich bin eine Mörderin, wenn ich das tue.«
Nick begann verzweifelt auf sie einzureden. »Bitte Nancy, ich flehe dich an. Mein Bruder hat doch immer solche Angst, wenn er allein ist. Ich kann jetzt nicht mehr zu ihm, verstehst du?«
Mit diesen Worten begriff er jetzt selbst, was Nancy da so wiedrig von sich geschleudert hatte. »Bitte, du musst leben, wenn ich schon für dich sterbe«
Erzürnt sah sie ihm in die Augen. Nick war so froh, als er sie wieder weinen sah. Mit schlackernden Fingern, nahm sie den Schein und steckte ihn in ihre Hosentasche.
»Danke«, sagte er, aber es erleichtert zu nennen, wäre übertrieben gewesen. »Aber jetzt musst du mir noch versprechen, dich um meinen Bruder zu kümmern.«
Nancy nickte. »Ja«, flüsterte sie. »Ja«
Nick erhob sich wieder vollständig auf seine instabilen Beine. Einen Schritt nach dem anderen, tat er weg von ihr. Doch es hatte keinen Zweck. Die Hand vor die Augen erhebend, sank er wieder in sich zusammen und heulte. Jetzt war er wirklich tot. Dorthin hatten ihn seine Werte gebracht. Da war niemand, der jemals billigen würde, was er hier getan hatte. Selbst Nancy hasste ihn.
»Hey«, sagte sie mit einer stimme, die so sanft war, wie ein leiser Ton einer Violine. Er drehte sein Gesicht in ihre Richtung und lies sich von ihr auf die Beine helfen.
»Danke, du verdammter Idiot«, sagte sie weinend. »Danke!«
Sie nahm ihn in den Arm und er stand einfach nur im Unglauben an sich selbst da. Was hatte er nur getan? Er starb hier. Mittlerweile war es schon drei Uhr in der Nacht.
»Du musst dich beeilen«, sagte er. Jetzt konnte er nicht mehr weinen. Es war alles zu viel für ihn geworden. »Der Bus kommt in einer halben Stunde. Das ist der Letzte. Die brauchen so lange, um die Bunker zu verschließen«
»Oh nein«, wimmerte sie und drückte ihn noch fester. Ihr Herz schlug rhythmisch und schnell. »Aber mach dir keine Sorgen, um deinen Bruder. Ich kümmere mich um ihn, wie du ... «
Nancy brach ab, weil sie nicht mehr konnte. Sie lies sich nun wieder auf ihn, fallen, der stabiler stand, als sie. Die Feuchtigkeit ihrer Tränen drang an seine Haut. Er streichlte ihre weichen Locken. »Ich verspreche es«, sagte sie. Nick nahm schließlich ihre Hand und führte sie zu seinem Auto. Der Weg vollzog sich stumm. Beide hatten alle Macht verloren, um weitere Gefühlsausbrüche noch kontrollieren oder verkraften zu können.

Selbst als er sie an der Haltestelle abgeladen hatte, hallten ihre Rufe noch in seinem Ohr. Nick liebte sie immernoch so abgöttisch, wie zuvor. Jetzt wusste sie es, fürwahr. Was hätte er größeres tun können? Sich glücklich oder zufrieden zu nennen, das wagte er nicht. Er entschloss sich nach hause zu fahren, um sein Schwert zu holen. Tatsächlich waren die Straßen jetzt wie leer gefegt. Auch seine Eltern müssten schon weg ein.
Monoton zogen die dunklen Häuserblocks an seinem Auto vorbei. Wie lächerlich die ganzen Verkehrszeichen jetzt aussahen. So sinnlos gebaut, so nichtig und so vergänglich. Genau wie die Häuser und wie Nicks Leben. Nancy würde sich gut um Timmi kümmern können. Hoffentlich würden es seine Eltern verstehen. Ganz sicher nicht, aber das war ihm jetzt auch nicht weiter wichtig. Er hatte die Einfahrt ihres Hauses erreicht und das große Gebäude lag dunkel und schlafend in seiner letzten Nacht. Nick zog den Schlüssel aus seiner Tasche, den er instinktiv dort hinein gelegt hatte. Anscheinend war dies doch nicht so sinnlos gewesen, ihn mitzunehmen. Grillen zirpten und irgendwo in der Ferne schrie ein Baby. In der Wohnung duftete es süßlich, aber man sah die Hand vor Augen nicht. Nick betätigte den Lichtschalter des Flurs und bekam einen riesigen Schock. Er erschrak sich so, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Die Jacken seiner Eltern hingen noch an ihren Haken. Da war noch der lange Mantel seines Vaters und die gelbe Designerjacke seiner Mutter.
Jetzt war es auch alles egal, dachte er sich. Er brach zusammen unter der Last, die auf in drückte. Wie konnte nur alles so zusammenstürzen? Er legte sich auf den Boden des Flures und begann abwechselnd zu weinen und nach seiner Mutter zu rufen. Die Schreie drangen durch das Seelenlose Haus, ohne dass sich etwas regte. Dann bekam er plötzlich Angst, legte sich in eine Embryonalhaltung. War er der letzte Mensch auf dieser Erde, hatten ihn nun alle allein gelassen? Auf die Angst folgte eine echte Panik und er sprang auf die Füße, hetzte benommen durch das Haus. Zuerst rannte er in das Schlafzimmer seiner Eltern, doch die Betten waren leer. Perfekt und makellos gemacht, lagen die Decken an ihren Plätzen. Sein Zimmer war ebenso leer. »Mama!«, rief er in seiner fanatischen Hysterie immer wieder. Timmis Zimmer war das stillste von allen und das am meisten Beängstigende. Die Kuscheltiere schienen ihm ihre Zähne und Krallen entgegen zu strecken. Andere schienen zu verhungern, weil man sie allein gelassen hatte und wiederum andere hatten einfach nur Angst vor der Rakete morgen. Im Wohnzimmer schaltete er den Fernseher ein, doch bekam nur Schnee. Sie mussten die Kabelverbindungen bereits gestört haben. Nick atmete auf, als er sah, dass sein Handy noch funktionierte.
Die Küche war der letzte Raum, der übrig blieb. Er fühlte sich wieder in sein Kindesalter zurück versetzt, als er den Motor des Kühlschranks hörte und davor eine panische Angst bekam. Er wagte fast nicht, dem ganzen noch näher zu treten. Mit all seinen Kräften, schob er sich um die letzte Wand. Seine Finger tasteten über den rauhen Putz und fanden schließlich den Lichtschalter. Sie zitterten so sehr, dass er drei Versuche brauchte, um ihn zu betätigen. Danach schlug es um, in eine grausame Gewissheit.
Auf dem Tisch lag eine umgeworfene Flasche Rotwein. Der Fleck hatte sich über die Platte und den Boden Ausgebreitet. Seine Eltern hatten in alten Familienalben geblättert, die nur so vom Wein durchtränkt waren. Babyfotos und Bilder von Urlauben. Er wusste nicht, wovor er am meisten Angst haben sollte. Eines der Gläser war noch halb voll, das andere umgeworfen und auf dem Boden zerschellt. Der Splitter hatten sich in die Haut seiner Mutter gegraben, die regungslos und mit Entsetzen gefüllten Augen auf dem Boden lag. Die Pulsadern ihrer rechten Hand waren durchtrennt und eine Lache aus Blut, hatte sich mit dem restlichen Rotwein vermischt. Sein Vater lag auf dem Tisch, als ob er betrunken schlafen würde, doch sein aufgeschnittener Arm, hing verräterisch gen Boden. Wie hatte er auch glauben können, dass seine ganze Familie gerettet werden würde? Nick hatte den Pass, des auf dem Tisch liegenden Mannes, an Nancy verschenkt. Sein Vater hatte ihn retten wollen. Das hatte er doch nicht gewusst. Warum hatten sie nichts gesagt? Oh, warum hatten sie nur nichts gesagt? Nick schrie vor Wut auf, bevor er das letzte mal in seinem Leben weinen sollte. Er hatte zwei Stunden damit verbracht, sich an die Wand zu pressen. Die Sonne ging mittlerweile auf. Dieser Ort stieß ihn regelrecht ab, er wollte auf keinen Fall hier bleiben.
Sich immer wieder einredend, dass er das gerade nicht gesehen hatte, holte Nick sein Schwert aus dem Zimmer. Das Auto hatte noch genug Sprit, weil er ja zum Glück vorhin etwas geklaut hatte. Auf der Türschwelle schaltete er sein Handy ein und tippte eine SMS an Nancy:
»Bitte Nancy, halte dein Versprechen. Halte es um jeden Preis!«
Es dauerte keine Minute, bis es wieder klingelte, aber er war zu schwach. Viel zu schwach, um jetzt mit ihr zu reden. Achtlos warf er den Gegenstand hinter sich und schloss die Tür. Der Klingelton verfolgte ihn noch die ganze Fahrt über.

Seine Uhr zeigte die Ziffern 15.20 an. Das Dach der Schule hatte man sehr gut erreichen können. Zum Glück war es verhältnismäßig flach. Die Schule stand tief im Tal, so dass er unter keinen Umständen überleben konnte. Die Rakete würde nur ein paar Meter weiter einschlagen. Sie war sicherlich schon lange auf dem Weg. Er saß im Scheidersitz und das Schwert ruhte auf seinen Beinen. Dieses Klingeln! Das Handy in seinem Kopf, hatte noch immer nicht aufgehört. Aber er weinte nicht mehr. Was hätte er mehr tun können? Nancy würde sich gut um Timmi kümmern, wahrscheinlich besser, als er es selbst gekonnt hätte. Sie kannte sich so gut mit Kindern aus. Noch waren sie drei, bald zwei Waisenkinder.
Er holte das Brillenetui, mit dem längst überfälligen Joint, aus seiner Hosentasche. Er roch gut, da musste ordentlich Gras drin sein. Er würde ihn schon in acht Minuten schaffen. Wäre ja eine Schande, wenn er der Rakete etwas abgeben müsste. Das Dach war von der Sonne stark erhitzt. Es verbrannte seine Beine, wie eine Herdplatte, aber es war ihm egal, da er sie sowieso nie wieder brauchen würde. Ausserdem war das noch recht kühl, wenn man es mit dem verglich, was gleich kommen würde.
Da war kein Platz mehr für Angst in seinem Kopf. Er dachte nur an Nancy und wie sie sich angefühlt hatte. Was sie doch für ein wahnsinns Mädchen war. Einmal hatte sie ihm etwas vorgesungen, sie war die erste Stimme im Schulchor. Ihre herrliche Stimme, überlagerte das Klingeln des Handys, drang durch seinen Kopf und in jedes seiner Glieder. Das Gras tat seine Wirkung und er fühlte sich schön schwummerig. Mit einem Ruck befreite er die Klinge und lies die Scheide einfach das Dach hinunter Scheppern. 15.28, dachte er sich und nahm noch einen tiefen Zug aus dem Joint. »Der ist tot«, sagte er in Gedanken zu sich, als er den heißen Rauch schmeckte. Während er den Joint ausspuckte, umklammerte Nick den Griff des Katanas noch fester.
Er setzte die Klinge an. Damals im alten Japan, wäre es üblich gewesen, ihm den Kopf abzuhacken, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden. Das man ihn in kleine Teilchen zersprengte, tat sicherlich die gleiche Wirkung. Jedenfalls würde er das, was er war, vor dieser Bombe garantiert nicht verlieren.
Tränen der Wut rannen sein Gesicht hinab. Zutiefst entschlossen, stieß er den kalten Stahl in seinen Bauch. Er drehte die Klinge um und musste einen Schrei ersticken. Nick wollte das Schwert jetzt noch einmal durch seinen Körper reißen, aber seine Arme versagten ihm den Dienst. Ganz im Gegenteil zu den Schmerzen, die immer schlimmer wurden. Dornen und Säure schien durch seine Adern zu jagen. Ein letztes mal schrie er, hörte nur noch Nancys Gesang. Er schien ihn aus seinem Körper zu führen, ihm einen Weg zeigen zu wollen, mit dem Ganzen besser fertig zu werden. Es gab für ihn kein Happy-End. Sie liebte ihn nicht und er starb für sie. Leben hieß Leiden. Doch das alles war nicht sinnlos, es war das Beste, was er hätte tun können. Besser er, als seine Liebe. Darauf war Nick stolz. Der Blitz blendete seine Augen, bis zur absoluten Blindheit. Da war keine Zeit mehr für Angst oder für Zweifel.

 

Folgenden Kommentar hat XioN zu seiner Geschichte abgegeben:

So!
Meine erste Story in dieser Rubrik und ganz sicher auch nicht die Letzte. Ich bin mir jedoch wieder einmal nicht sicher, ob ich die richtige Rubrik erwischt habe. Wahrscheinlich ja...

Danke an jeden, der diesen Brocken hier liest. Die Geschichte war mir sehr wichtig, weil ich darin viele meiner Ängste und eine sehr dunkle Zeit in meinem Leben verarbeitet habe, die nun jedoch weitgehend vorbei ist.

Diese hier ist nun noch länger geworden, als jene sehr Lange, die ich schon in "Sci-Fi" gepostet habe ... ich hoffe jedoch trotzdem, dass ich auch auf Diese hier, ein bischen Feedback bekomme.

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Kommentare zu Geschichten bitte in einem Extra Posting.

Kritik folgt noch. Lieben Gruß, sim

 

Ich hab mich durchgekämpft und mich darüber gefreut, dass der Plot doch weitaus mehr hergab, als der Anfang vermuten ließ. Ein paar schöne Ideen, vielleicht ein bisschen zu lang, aber alles in allem sehr interessant.

Es stören ein paar Tippfehler (Nick wird zu Mick, Nancy zu Nacy und er ließ schreibst du mit 's'), doch fällt das nicht weiter ins Gewicht. Eine schöne Geschichte.

Adrian

 

Dankeschön für das Lesen!

Das mit den Tippfehlern ist so ne Sache bei mir, die ich hoffentlich bald in den Griff bekommen werde. Ich schreibe noch nicht so lange gezielt, aber meine Sprache am PC schaltet reflexartig einen Gang herunter, weil ich über Jahre hinweg, durch die Sprache im Internet abgestumpft bin:)

Also noch einmal vielen Dank für deine Mühe. Es werden schätzungsweise nicht sehr viele Leute hier lesen, eben wegen der Länge. Ich muss gestehen, auch nur in zweiter Linie an meine Leser gedacht zu haben, weil ich eben sehr viel persönliches darin verarbeitet habe. Quasi wie ein Ventil, bei dem ich nicht vorzeitig den Hahn abdrehen wollte. Habe in letzter Zeit viele solcher Sachen geschrieben, nur gelingt es mir jüngst wieder, ein paar Plots zu konstruieren und ein wenig darüber zu stehen. Die Story kam dann irgendwie dabei heraus und hat mir selbst ganz gut gefallen ... freut mich, dass du sie schön findest, wirklich.

Auch auf dein Satement, Sim, bin ich schon sehr gespannt. Und das mit dem Kommentar war wohl wirklich ein bischen blöd, vor allem weil ich es bis jetzt immer richtig gemacht habe. Ich merks mir:)

 

Hi Xion,

leider musst du auf mein Statement noch etwas warten, da ich zur Zeit woviel Arbeit habe, dass es mir abends oft an der nötigen Konzetration fehlt.

ich werde dir aber schon mal zu einem Teil eine Fehlerliste per PM schicken. Weiter bin ich leider noch nicht gekommen.

Wäre schön, wenn du noch mal rüber schaust. Vielleicht hilft dir die Liste ja auch für den Rest schon ein bisschen.

Lieben Gruß, sim

 

Hi XioN,

jetzt bin ich endlich mal dazu gekommen, deine Geschichte ganz zu lesen. Auf Fehler konnte ich dabei aber nicht achten.
Zum einen ist mir das bei so einer langen Geschichte in der Woche kaum möglich, zum anderen ist deine Geschichte wirklich spannend. Ein paar Überdramatisierungen hast du in der Geschichte, wie etwas die Krankheit deiner weiblichen Protagonistin, die ein bisschen so wirkt, als sei sie dir auch in dem Moment, in dem du sie schriebst gerade eingefallen.
Das ist im Allgemeinen ein Eindruck, den ich von deinem Plot habe. Er wirkt weniger entwickelt, als während des Schreibens erfunden. Der Nachteil daran ist, dass man Dinge nicht aufbauen und vorbereiten kann.
Zum Beispiel hättest du vorbereiten können, dass die Eltern ankündigen auch ohne ihn in den Bunker zu gehen, wenn er sich verspätet oder nicht kommt.
So ist das Haus leer und es ist eigentlich unklar, ob nicht durch Nicks Selbstoferung auch die Eltern letzlich nicht in den Bunker kommen, weil sie in suchen.
Es ist zwar richtig und konsequent, dass Nick über eventuelle ungewollte Folgen seines Handelns nicht nachdenkt, dem Erzähler müssen sie aber bewusst sein. ;)

Also eine spannende Geschichte auf alle Fälle, aber sie hat noch einiges an Optimierungspotential.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo XioN,

schade, dass sich offenbar nur wenige die Zeit nehmen, deine Geschichte zu lesen - sie ist es wert. Du verstehst es, den oft gelesenen Plot der unerfüllten einseitigen Liebe anrührend zu machen, indem du ihn in diesem Endzeitszenario ansiedelst. Ích bin beeindruckt.

In deiner Beschreibung dieser letzten Stunden vor dem Holocaust liegt für mich der Wert deiner Geschichte. Da schaffst du eine Intensität, die dem Leser die Kehle zuschnürt. Darum fände ich die Geschichte in der Sektion Gesellschaft besser aufgehoben.

Die Spannung flacht für mich etwas ab, als es an die Beschreibung der Abschiedsfete geht, das bringt eine unnötige Nuance von "Eis am Stiel" in die Geschichte. Vielleicht könntest du da etwas straffen, dich eventuell auf das Zusammentreffen des Prot mit Nancy beschränken. Statt dessen würde ich etwas mehr auf die Samurai-Ethik eingehen, denn letztendlich ist sie es, die den Erzähler zu seinem Handeln motiviert. Ich vermute mal, das würde dir vom Wissen her nicht schwer fallen.

LG, Chica

 
Zuletzt bearbeitet:

Wow, danke für eure Statements! Vor allem ist es gut, dass ihr so viel Gutes an der Story gefunden habt. Gibt immer irgendwie Selbstvertrauen:)

An sim:

Mit deiner Spekulation auf die Entstehung des Plots hast du ein wenig, wenn auch nicht völlig Recht. Ich habe versucht viele der Sachen, die ich in den letzten Monaten und Wochen durchleben musste, zu verarbeiten. Des weiteren neige ich wirklich zu einer hyperdramatisierung, aber das kann ich leider nicht anders:). Wahrscheinlich will ich es auch garnicht. Negativ wäre mir wohl anzurechnen, dass der Leser nicht genug hinein gezogen wird, um es nicht als kitschig zu erleben. Das werde ich mir für das nächste mal merken:)

Du hast völlig richtig erkannt, dass der Plot eher zweitrangig war. Ich möchte nicht sagen, dass ich mir keine Mühe gegeben habe, aber ich habe ihn wohl wirklich zurück gestellt. Zwar habe ich mich bemüht, interessante Bereiche zu vermengen, aber war wohl etwas grobmotorisch:)
Es kam einfach alles, wie es kommen musste. Beim Schreiben kann man seine Bilder eben so gut ausformulieren und damit verarbeiten. Das war meine Hauptintention. Wird garaniert nicht sooo oft passieren und ich werde mir auch das zu Herzen nehmen.

>>>So ist das Haus leer und es ist eigentlich unklar, ob nicht durch Nicks Selbstoferung auch die Eltern letzlich nicht in den Bunker kommen, weil sie in suchen.<<<

Da hast du jedoch glaube ich nicht richtig hingesehen ... Der Vater hatte den einzigen Pass in der Familie und sein kleiner Bruder hatte die Berechtigung aufgrund seines jungen Alters. Es wäre aber um so schlimmer, wenn mir die Ausformulierung entgangen ist. Das du es anscheinend überlesen konntest, ist wirklich schlecht für die Story, denn das ist wichtig. Den Punkt muss ich unbedingt aufarbeiten. Gut, dass du mich drauf aufmerksam machst

Danke auch für die Komplimente, Sim!


An chica:

Erst einmal erfreut es mich sehr, dass du den Plot anscheinend wirklich intensiv erlebt hast. Und das bei jemandem, mit dem ich mich so angelegt habe:) Freut mich echt.

>>>Darum fände ich die Geschichte in der Sektion Gesellschaft besser aufgehoben.<<<

Damit könntest du Recht haben, wenn du es auf die Story beziehst. Ich habe auch lange mit mir gerungen. Aber ich mag die generelle Tendenz in der Gesellschaftsrubrik nicht. Da sind mir irgendwie zu viele dieser abstrakten Satiren, die ich, genau wie die moderne Kunst, als etwas einstufe, was dieses ganze tolle Handwerk total verschimmeln lässt. Ausserdem sind dort so viele Leute, die das auch noch mögen ... ich empfehle als Beispiel den intellektuellen Erguss "Gerd, mein Schlüpper und das Scheißschwere Huhn von gestern". Ist schon etwas älter und nur durch Suchfunktion zu finden. Abwerten will ich das Kram garnicht, ich habe nur irgendwie eine persönliche Abneigung.
Hier kommen eben mehr die Leser, die etwas gefühlvolles, menschliches und schön illustriertes haben wollen. Und so wollte ich meine Geschichte eben lesen lassen. Generell fällt mir das mit den Rubriken irgendwie nie leicht:)

Das mit dem "Eis am Stiel" ist wohl echt so. Da bin ich beim Schreiben ein wenig abgeglitten, weiss aber nicht, ob ich das unbedingt ändern möchte. Ich werde es mir einfach noch einmal ganz aufmerksam durchlesen und dann entscheiden:)

Einen Samuraiaspekt werde ich glaube ich wirklich noch reinhauen, ist eine gute Idee. Aber auch damit will ich es nicht übertreiben, weil das glaube ich wirklich schnell in Kitsch ausartet. Der Grat ist dort sehr schmal:)


Toll, dass ihr noch gelesen und etwas geschrieben habt! Das bedeutet viel für mich.

mfG

-XioN-

 

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