Der Sputnik-Fresser
Der Sputnik-Fresser
Frank wirkte wie ein grobgeschlachtenes Ungeheuer, fett, mit wulstigen Fingern, aber keinesfalls schwabbelig, sondern eher erdrückend.
Er war ein alter Knacki, ein Haftgewohnter, einer, dem man im Knast nichts vormachen konnte, der alle Tricks und Kniffs kannte, weil er sein Leben lang damit umgehen mußte.
Er wußte, wie man aus einem Transistor, einem hauchdünnem Draht, einer Streichholzschachtel und einem Ohrhörer ein Radio herstellen konnte.
Er bewegte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit im Gefängnis, als sei er dort aufgewachsen. Tatsächlich hatte er eine ganze Latte von Vorstrafen. Doch immer waren es so schäbige Dinge wie Diebstahl, versuchter Einbruch, Körperverletzung und ähnliches gewesen. Es waren immer kleine Taten, die mit 3 oder 4 Jahren bestraft wurden. Er war das, was man als "Eierdieb" bezeichnet. Zuviel Angst das Huhn zu klauen, wagt er sich nur an die wehrlosen Eier.
"Dann hab ich die Hand gehoben, so", er zeigte, wie er es gemacht hatte, "und hab ihr die Handkante in den Hals gejagt", er deutete einen Handkantenschlag an, "da ist ihr Gebiß rein gerutscht, und daran ist sie erstickt.".
Er sagte das ungerührt. Die Alte hatte er umbringen wollen. Da gab es keinen Zweifel für ihn. Die hatte ihn ständig genervt, diese Schwiegermutter. Ständig hatte sie an ihm herum gemeckert. Nie ein gutes Haar an ihm gelassen.
Die hatte er gehasst aus ganzer Seele. Und darum hat er sie umgelegt. So einfach war das.
Die andere, die war auch hinüber. Aber da war die Tat ein Versehen. Er hatte ihr nur eines auf den Schädel gehauen. Um sie bewußtlos zu machen. Weil er doch in ihrer Wohnung stand, und sie gerade durchsucht hatte. Die mußte doch irgendwo Geld versteckt haben, und Schmuck, vor allem Schmuck. Die Alte hatte immer Schmuck.
Na ja, mit dem Nachschlüssel ist er reingekommen. Das war ja nur so ein einfaches Schloß gewesen. Er war ganz überrascht, als die Alte plötzlich wieder in der Wohnung stand. Dabei blieb die doch immer ein paar Stunden weg, wenn die sich mit der Freundin traf. Da mußte diesmal was zwischen gekommen sein.
Und wie die in der Wohnung stand, also mit einem Satz war er bei ihr. Na ja, wenn man so fragte, da hatte er schon den Strumpf in der Hand gehabt. Den hatte er immer dabei. Zu seiner Sicherheit. Kann ja viel passieren heutzutage. Den mit kleinen Steinchen gefüllten Strumpf, mit dem man jemanden bewußtlos schlagen kann. Ist ja keine Waffe. Auch totschlagen kann man damit, aber das hatte er wirklich nicht gewollt.
Frank wurde nach dem Mord an der Schwiegermutter gefasst. Er legte kein Geständnis ab. Sollen die ihm doch mal nachweisen, was er alles getan haben soll.
Die beiden Morde konnte man ihm nachweisen. Und so bekam er Lebenslänglich, der alte Eierdieb.
Nun hatte er doch eine seriöse Straftat.
Er war fast immer unrasiert. Schwerkörpig, und unrasiert lag er auf dem Krankenbett in der Psychiatrie der Haftanstalt. Neben sich den Krankentisch. Da hatte er seine Schätze aufgebaut. Die Zigaretten-Drehmaschine. Gefüllt mit Tabak, den er aus den abgerauchten und gesammelten Kippen wieder herausgepult, und in die Dose getan hatte. Streichhölzer, gespalten, damit es die doppelte Anzahl an Phosphorköpfen wurde. Als alter, erfahrener Zuchthäusler, der nur einmal im Monat einen Brief schreiben durfte, wußte er, was harte Sparsamkeit ist. Da wurde sogar das Klopapier vorgezählt. Blatt für Blatt. Und wehe der Kalfaktor verzählte sich. Nee, nicht mit Frank. Glaubte vielleicht einer, er hätte Lust gehabt, sich am Monatsende den Hintern mit Zeitungspapier abzuwischen?
Gezähltes Klopapier, gezählte Briefe, gezähltes Stückvieh Mensch. Gezählt wurde dreimal am Tag. Morgens. Mittags, und Nachts, zum Einschluß.
Die Engherzigkeit des Lebens hat ihn Kleinherzig bis Engstirnig gemacht.
Auf dem Nachtisch am Krankenbett stand das ausgeschnittene Foto einer Schauspielerin. Mit Zahnpaste war hinter ihm an der Wand weitere Fotos dieser Schauspielerin angeklebt.
Was hatte er auch sonst noch vom Leben?
Ein Paßfoto seiner Mutter stand auch auf dem Tischchen. Aber sie besuchte ihn nicht. Sie war längst gestorben, diese alte Frau, die zwei Weltkriege durchmachen mußte, und nichts, nicht das geringste von ihrem Leben hatte. Und der Sohn, na, der wurde dann Zuchthäusler. Es war wirklich ein Jammertal dieses Leben. Und so ging die alte Frau zurück zu ihrem Herrgott. Vielleicht um sich endlich einmal direkt bei ihm beklagen zu können, über die ganze Ungerechtigkeit, die er in die Welt gepflanzt hatte, die zwei Kriege, die sie hatte in Angst und Panik und Not durchstehen müssen, nur um dann den Sohn immer wieder im Zuchthaus zu besuchen.
Na ja, er war schon lieb, ihr Junge, also zu ihr war er es immer. Er hatte es auch nie an Respekt fehlen lassen, obwohl, das hat sie traurig gemacht, ständig diese Diebereien von ihm. Sie hatte wirklich alles versucht, einen guten Jungen aus ihm zu machen. Aber der Krieg...der Krieg...und danach. Der Hunger. Vielleicht hätte der Junge mehr Zuwendung gebraucht, aber sie mußte doch Hamstern gehen, sonst hätte man doch nichts zu Essen auf dem Tisch gehabt.
Es war halt eine harte Zeit. Da gab es keinen Platz für große Sentimentalitäten. Wie soll man denn Zeit dafür haben, wenn man, den Teppich auf dem Rücken, übers Land fährt, um das Ding gegen Kartoffel einzutauschen? Und einmal, daran konnte sie sich noch gut erinnern, war sie mit dem Jungen Kohlen klauen gegangen, da stolperten sie über eine Leiche. Der war schon halb verwehst. Es war nicht ihre erste Leiche die sie sehen mußte. Aber der Junge, also gut war das nicht für ihn. Der hatte noch Wochenlang Alpträume gehabt.
Und dann die vielen Prügeleien die er hatte, mit den anderen Jungs in der Straße.
Wehe es hatte einer gewagt, was schlechtes über ihn zu sagen, also da war er ganz stolz, der Junge, und da hat er schon mal zugehauen. Aber das machten doch Alle.
Und die Frau, die er dann geheiratet hatte, also die hing ja viel zu viel an ihrer Mutter. Mama hinten, Mama vorne. Und diese Mama, was mußte sie auch ständig an dem Jungen kritisieren.
Na ja, und dann hat er halt zugehauen. Das war ja auch nicht richtig.
Und nun waren beide Mütter tot.
Und er lag in der Psychiatrie des Gefängnishospitals.
Wegen eines Gutachtens. Er wollte einen neuen Prozess weil er, wie er meinte, doch gar nicht zurechnungsfähig sei. Noch nie gewesen sei.
Und dann sein Bauch. Diese wulstige, vernarbte, verknotete Bauch, der sich wie ein Knotengebirge auf dem eigentlichen Bauch aufbäumte.
Dieser Bauch war normal gewachsen, hatte aber in Nabelhöhe eine Art Geschwulst, das die Größe von zwei Männerfäusten besaß.
"Kommt alles vom Fressen", hatte Frank gemeint, und es dann jedem gezeigt und erklärt, wie er es mache.
Er fraß alles. Messer, Gabeln, Bettfedern. Vor allem aber liebte er die Sputniks.
"Siehst du, das mußt du so machen. Erst legst du dir den Faden zurecht. Der muß wenigstens vier-fünf mal um den Sputnik gehen. Mit den beiden Fingern nimmst du jetzt die Rasierklinge, aber schneid dich nicht, tut weh. Und jetzt biegst du die Rasierklinge zu einer Röhre zusammen. Hast du es? Gut. Und jetzt wickelst du mit der einen Hand den Bindfaden um die Rasierklinge. Und jetzt mach den Knoten in den Faden. Da hast du deinen Sputnik".
Er hielt ihn in der Hand.
"Wenn du ihn so nicht schlucken kannst, steck ihn in ein Stückchen Brot. Bieg den Kopf zurück und schluck das Ding. Mit einem Rutsch. Das flutscht nur so runter. Komm ich mach dir es vor".
Dann hat er diesen Sputnik, wie die zusammengebundene Rasierklinge genannt wurde, gefressen.
Irgendwie hatte er es geschafft diese Rasierklinge durch den Schlund hinunter zu würgen, bis in den Magen hinein. Er muß schon beim Schlucken fürchterliche Schmerzen gehabt haben, denn sie ging natürlich nicht wie in einem Flutsch.
Im Magen dann haben die Säfte den dünnen Bindfaden aufgelöst. Die Rasierklinge sprang im Magen auf, und hatte ihm die Magenwände zerschnitten..
Er hatte dann wie ein Tier geschrien, und kam umgehend auf den Operationstisch, wo ihm der Magen aufgeschnitten, und die Klinge herausgeholt wurde.
Dem Mann konnte man natürlich keine normale Kost verabreichen, der brauchte Schonkost. Milch, Jogurt, Hühnchen.
Frank fraß alles. Messer, Gabeln, Bettfedern, Rasierklingen, Hühnchen.
Um ins Krankenhaus zu kommen. Weil das Essen dort besser war, weil es zweimal die Woche einen halben Liter Milch gab, weil die Freistunde dort länger dauerte, und das Klima weniger rau war als im Zuchthaus.
Weil die grausame Langeweile in der Einsamkeit der Zuchthauszelle endlich einmal durch einen schmerzhaften Akt durchbrochen werden konnte.
Besser den Schmerz, und damit den eigenen Körper fühlen, als ohne jegliches Gefühl langsam zugrunde zu gehen.
”Besser sich selber eine Ohrfeige geben, als sich ständig Ohrfeigen zu lassen. Solange ich mir selber die Schmerzen zufüge, bin ich wenigstens mein freier Herr. Schmerzen gibt es, so oder so. Und bevor die Schweine hier im Zuchthaus mir was antun, tu ich mir selber was an. Ich laß mir doch nicht Alles gefallen. Irgendwo hab ich doch auch meine Würde.
Das ist Alles was ich zu sagen habe”.
Er hatte etwa 20 Operationen hinter sich. Und deshalb war sein Magen verknotet und vernarbt wie ein bösartiges Geschwulst.
Die Ärzte hatten ihn bereits vor längerer Zeit gewarnt. Sie können keine Garantie mehr geben, daß er die nächste Operation überlebe. Zumal sein Magen, das heißt, das, was von seinem Magen als lächerlicher Rest noch üblich war, es nicht mehr mitmachte.
Außerdem, wie sollen sie seinen Magen durch diesen Berg Geschwulst und Narben durchschneiden und wieder vernähen? Das hält doch alles nicht mehr, das ist doch mürbe das ganze.
Frank war nüchtern und illusionslos. Er war ein alter Zuchthäusler, Hafterfahren, aber dennoch hatte er einen Traum, so wie alle Menschen einen Traum brauchen, um leben zu können.
Er träumte davon durch ein Gnadengesuch entlassen zu werden, aufgrund seines Magens.
Das geschah natürlich nicht.
Er starb an Magenkrebs im Gefängnis