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Der Topf
Ich kann mich noch genau daran erinnern, als die Lichter in den Häusern überall angingen.
Fenster schimmerten mit gelbem Glanz, wie falsch geformte Sterne. Silhouetten von neugierig nach vorne gestreckten Köpfen, von gestikulierenden Armen, auch Fäuste waren vage erkennbar. Die ersten Fenster öffneten sich, empörte Rufe konnte man hören: „Ruhe! Was soll dieser Krach! Es ist zwei Uhr nachts!“ Aufgeregtes Stimmengewirr, erzürnte Fragen nach dem Verursacher dieses hässlich scheppernden Lärms.
Tock, tock, tock ...
Inzwischen hatten einige der aufgeregten Menschen die Zeit gefunden ihre Kleidung anzuziehen, und ins schummrig neblige Freie zu laufen. Sie waren nun Informanten der aufgebrachten, drohenden Schattenspiele. „Ein nackter Mann mit nassen Haaren sitzt mitten auf der Straße! Ja, er hämmert mit einer Schere auf einem Topf herum! Er blickt starr nach vorne, mit weit aufgerissenem Mund, er stößt einen stummen, schier endlosen Schrei aus!“ Wütende Menschengruppen wurden am Straßenrand gebildet, ihre Aggressivität wuchs mit der Dauer des infernalischen Lärms, angespornt durch die Unnahbarkeit des Mannes. Bekleidet, gar schreiend wäre er schon längst angefasst, zur Seite geschleift, jedenfalls seines Topfes beraubt worden.
Tock, tock, tock ...
In einem vorwurfsvollen Ton bemerkte einer der Umstehenden, dass er die Polizei verständigt habe. Eine Art Erleichterung, weil irgendetwas unternommen worden war, ergriff die Menge. Inzwischen hatte eine alte Frau, schmerzgeplagt humpelnd, den erstarrt blickenden Mann erreicht. Mehr um sich selbst zu überzeugen bemerkte sie, der Krachmacher sei doch der Herr Freudzinger. Von einer Welle des Erstaunens getragen, wurde die Nachricht unter allen Umstehenden verbreitet. „Der Freudzinger - na so was, ist das nicht dieser stets freundliche, zurückhaltende Mann?“ „Nun, er war auch immer etwas verschlossen, es gibt halt diese unberechenbaren Typen.“
Mittlerweile hatten zwei Polizisten den Schauplatz erreicht. „Gut, dass sie eingreifen, langsam wird's Zeit!“ „Stoppt diesen Verrückten!“, rief ein aufgebrachter Anwohner.
Tock, tock, tock, schallte der Topf.
Der größere der beiden Polizisten hatte sich fast schützend vor den Mann gestellt. „Geht nach Hause, Leute“, sagte der Beamte, zu den Rufern gewandt. „Wir wissen, dass Herrn Freudzingers Frau vor einer Stunde an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben ist.“ Verschämt blickten die Menschen auf ihre Füße, es wirkte fast linkisch, als sich die Umstehenden leise tuschelnd zurückzogen.
Tock, tock, tock ...
Der Polizist legte eine Decke um den frierenden, seine seelische Verwundung so offen zeigenden Mann. Für einen Moment noch hörte man die jetzt gedämpften Trommelschläge auf dem kalten Metall des Topfes.
Ruhe durchzog wie ein seltsames, von Menschen gemachtes Gespinst die Häuserreihen. Die Lichter in den Häuserreihen gingen aus, sie waren nun verschwunden, die falsch geformten Sterne.
Ich drehe mich um. Wie lange hatte ich aus dem Fenster gestarrt?
Meine Frau war gerade dabei, unseren Küchenschrank aufzuräumen. Sie hat mich etwas gefragt, steht lächelnd vor mir, mit einem zerbeulten Topf in ihren Händen. „Brauchen wir den noch?“
„Nein”, antworte ich, „den brauchen wir nicht.”