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Der ungarische Moment
„Hier, mein Freund, probier mal. Ganz was Feines, Geheimrezept. Egal, ob du keinen mehr hochkriegst, oder total besoffen warst, oder zu fett gegessen hast – die helfen bei jedem Problem.“ Er nimmt den grünen Kunststoffdeckel ab und lässt ein größeres Stück im seinem Rachen verschwinden. „Mann, könnt mich reinsetzen.“ Dann hält er mir das Glas unter die Nase.
In der trüben Lake von Knoblauch, Sauerteigbrot und Dill treiben Gurkenspalten. Zur abträglichen Optik gesellt sich ein stechender, säuerlicher Geruch.
„Nein, vielen Dank“, sage ich, „ein andermal vielleicht. Hab noch nicht gefrühstückt.“
„Nein, nein, gerade jetzt! Grad zum Frühstück schmecken die am besten!“
Eine schreckliche Vorstellung, dieses unappetitliche Zeug essen zu müssen.
„Nándor“, sag ich, „es geht wirklich nicht. Selbst wenn ich keinen mehr hochbekäme.“
Das geht seit zwanzig Jahren so. Damals übernahmen meine Frau und ich ein malerisches Anwesen am Dorfrand, allerdings in einem elenden Zustand. Um diesen verlotterten Laden wieder instandzusetzen, brauchte ich Hilfe. Zufällig lernte ich Nándor kennen. Er war wesentlich jünger als ich, freundlich und hilfsbereit. Anfangs brauchte ich ihn für Aufwendiges. Für Arbeiten mit der Motorsäge, für das Ausbessern von Treppen und gerissener Gewölbe. Und je mehr ich in die Jahre kam, desto öfter musste ich ihn um Hilfe bitten, nun auch für leichtere Arbeiten.
Jetzt, wiederum nach vielen Jahren, kommen sie zu zweit – Nándor und seine Frau Anouka. Die hilft im Haus, ich bin mit Nándor im Gelände. Nur letzten Monat gab es eine leichte Verstimmung. Ich konnte ihre Einladung nicht annehmen zum Geburtstag des ältesten Sohnes. Mit aller Höflichkeit erklärte ich, weswegen in Corona-Zeiten ein alter Knabe wie ich besonders vorsichtig sein sollte, zumal niemand Mundschutz trägt.
In Budapest, im Fernsehen, ja, da laufen alle ‚mit’ herum, so wie überall auf der Welt. Im Dorf begrüßt man sich weiterhin mit Handschlag und Umarmung. Mir ist das zu locker, auch weil Nándor kräftiger Raucher ist und immer schon mehr hustete als andere.
Anouka hat Verständnis für meine Situation, nur ihr Mann ist ein wenig beleidigt. Sein Sohn wird achtzehn, und ich komme nicht zum Feiern – wegen Corona! Mag sein, dass anderswo gefährliches Pflaster ist, aber doch nicht in Felsöösükösd! Jeden hier kennt er, und nicht einer hat Corona, Punkt.
Und ich kenne meinen Nándor, Punkt. Er wird sich die Hucke vollsaufen, schöne Lieder singen – ‚Komm mit nach Varasdin, solange noch die Rosen blüh’n’, alle küssen und auch mir um den Hals fallen.
Kein Bild. Fernbedienung, Kabel – alles okay. Aber die Satellitenschüssel! Die Nussbäume vorm Haus sind noch höher geworden, richtige Mammuts, großartig. Leider kein Signal, der Bildschirm bleibt schwarz.
Der Monteur kommt aus der Stadt, trägt Mundschutz, studiert die Lage und findet die Lösung. Er will die Schüssel auf die benachbarte Scheune versetzen, dort ist der Himmel frei. Nur allein kann er das nicht.
Es ist Freitagmittag, Pfingstwochenende. Überall schon Feierabend. Ob ich nicht jemanden wüsste?
Da muss ich nicht lange überlegen. Ich ruf ihn an. Werde auf Distanz achten, Mundschutz sowieso.
Nándor freut sich. „Na, da sehen wir uns doch, trotz der Pest“, sagt er. „Bin gleich da.“
Er kommt mit dem Rad, wie ein Schiff am Horizont zieht er eine bläuliche Fahne hinter sich her. Auf dem Gepäckträger hat er die Gurken vertäut, die hat er immer dabei. Er packt sie mit seinen Wurstfingern und kommt mit freundlichstem Gesicht auf mich zu, ich weiche entsetzt zurück. „Nee, nee, nee, mein Lieber“, wehre ich ihn ab, „bisschen Abstand müssen wir schon halten!“
Sein Gesicht wird frostig. „Dann eben nicht “, sagt er steif und fügt hinzu: „Guten Tag, der Herr.“
„Jetzt sei nicht so ein Kindskopf, ist doch nur zur Sicherheit, verdammt noch mal!“
„Selber Kindskopf, verdammt noch mal.“
Ich wechsle die Tonart und sage brav: „Liebster Nándor, alter Gauner, bitte hab Erbarmen und hilf mir in der Not.“
„Ich helfe gerne, aber dieses Mal solltest du die Gurken probieren! Ist nur zu deinem Besten.“
Er streckt sie mir entgegen, die Blechzange steckt im Glas.
„Nein, Nándor, bitte. Sei mir nicht bös, ich kann beim besten Willen nicht.“
Er schaut mich durchdringend an, wie ein Stabsarzt. „Woffang“, sagt er streng, „mit dir stimmt was nicht. So gutes Zeug kann man nicht einfach ablehnen. Das kann Leben retten! Besonders jetzt.“
Ich habe meinen bockigen Tag, sage: „Ein Atemschutz kann das besser“, doch Nándor winkt verächtlich ab. „Lumpen und Lappen“, sagt er, „was können die schon helfen? Das muss von innen kommen!“ Er hält das Gurkenglas vor die Brust und angelt für mich ein Stück heraus. Ich kneife die Augen zu und presse die Lippen zusammen, er hat’s wohl erwartet und verschlingt es selbst mit rollenden Augen.
Gott sei Dank kommt der Monteur mit ihm zurecht. Nándor holt die lange Leiter, verheddert sich in den Glyzinien und nimmt das Kabel beim Aufsteigen mit. Das zieht er durch die Einfluglöcher der Schwalben. Leider werden die von Jahr zu Jahr weniger, aber das ist ein anderes Thema.
Dass meine Gedanken vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen, passiert immer öfter. Doch vielleicht werde ich, ohne es zu wollen, zum Chronisten. Zu einem, der sich an die Sommer erinnert, als Dutzende Schwalben im rosa Abendlicht Flugkunststücke bei der Mückenjagd zum Besten gaben. Nur hatten wir keine Hand frei zum Applaudieren wegen Weinglas und Käsestrudel.
Unterdessen hat Nándor das Gebälk im Scheuneninnern erklommen und verschiebt die Schindel, um sich einen Durchschlupf aufs Dach zu verschaffen; der TV-Spezi ist mit dem Abmontieren der Schüssel beschäftigt. Plötzlich splittert es, etwas kracht. Nándor schreit wie am Spieß, immer lauter und knallt vor meinen Füßen auf Holzscheite und Kleinholz. „Oh, mein Gott, oh mein Gott!“
Ich versuche, ihn auf Heu und Stroh zu ziehen, der Kerl wiegt um die zwei Zentner. Das kostet Kraft. Ich reiße meinen Mundschutz vom Gesicht, weil die Luft knapp wird. Es ist mir egal.
Nándor wimmert, hustet und flucht gleichermaßen, ich hocke mich neben ihn, lege den Arm unter seinen Kopf und sag, dass es mir so leid tut, ich schuld an diesem Unglück sei, weil ich nicht bis Dienstag oder Mittwoch warten wollte mit der Scheißfernseherei, der gottverdammten. Ist sonst aber auch nix los in unserem Kaff.
„Ach“, sagt Nándor schwach, „du müsstest Enkel haben. Da hättest du Sehnsucht nach einem stillen Ort wie diesem. Übrigens ha...“ Er stöhnt und hält mir seine Hand hin: „Zieh mich mal bisschen hoch, da klemmt was.“
Während der Monteur dem Notarzt meine Adresse beschreibt, weil es in der Puszta keine Straßennamen gibt, versuche ich, Nándor aufzurichten. Da schreit er vor Schmerz auf.
„Was ist?“, frage ich erschrocken.
„Weiß nicht. Ich glaub, das hat sich wieder eingerenkt“. Er dreht sich zum Monteur: „Keinen Notarzt. Brauch ich nicht!“
Der schaut irritiert: „Eben waren Sie doch halbtot ...?“
„Ich versteh’s auch nicht“, sagt Nándor, „jetzt ist es weg.“ Dabei packt er mich an der Schulter und schaut mich herzig an: „Mein Freund hier hat unglaubliche Fähigkeiten.“
Das ist der ungarische Moment. Die Hirne werden umgeschaltet auf Gleichstrom. Eine Schnapsflasche erscheint mit drei Gläsern. Ich schenke ein. Auf die Gesundheit! Wunderbare Eintracht. Es gibt etwas kalten Braten dazu und Wein. Der Monteur sucht sich auf Nándors Drängen ein kleines Gurkenstück heraus, erinnert sich aber einer Flasche Aprikosenbrand, die er schon länger im Auto spazieren fährt, und die Montage wird auf morgen verschoben.
Gegen Mitternacht zeige ich ihm das Gastzimmer, Nándor versucht, aufs Fahrrad zu steigen und ich nicke im Fernsehsessel ein.