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Der Vogel
Auf diesem Baum, da saß einmal ein Vogel. Ganz weiß war der, mit blauen Stellen dazwischen und hatte immer Grund, sich zu freuen. Er sang ja schließlich auch aus voller Kehle. Ganz laut und unbekümmert saß dieser Vogel auf dem kahlen Baum, mitten im schneeweißen Winter und sang.
Der Ältere der beiden hörte ihn zuerst. Aufgeregt stupste er den anderen an. "Hey, guck mal, da oben auf dem Baum". Der andere, der fünf Jahre jünger war, aber zehn Jahre älter aussah blickte nach oben. Sein Blick verharrte keine zwei Sekunden auf dem seltsamen Wesen, dann nickte er ansatzweise und murmelte ein unverständliches „Hab’s gesehen.“ Dann zog er den Mantel enger um sich und rieb sich die Hände. Kalt war es an diesem Morgen.
Der Ältere konnte sich nicht satt sehen an dem kleinen weißen Besucher, der zu solch früher Morgenstunde und zu dieser Jahreszeit fast schon wie ein kleines Wunder anmutete. Er schüttelte ungläubig den Kopf und stieß den anderen wieder an.
„Du, denkst du nicht, dass der sich irgendwie verirrt hat?“ Der andere blickte nicht auf.
„Wie kommst du denn darauf?“ Der Ältere rümpfte die Nase. „Na ja, ich mein’ ja nur, viele Vögel gibt es hier in der Gegend sowieso nicht und die paar, die es gibt, sind zu dieser Jahreszeit im Süden. Außerdem hab ich noch nie so einen Vogel gesehen.“ Er hielt sich die Hand als Schutz vor dem gleißenden Sonnenlicht über die Augen. „Nicht mal in Deutschland...“
Der Jüngere schüttelte den Kopf. „Es ist n’ verdammter Vogel, Mann, nichts weiter. Manche Vögel fliegen nun mal im Winter nicht in den Süden, oder der hier hat’s halt vergessen, jedenfalls ist er zu klein und mickrig zum essen.“
„Du hättest ihn gegessen?“ Der Ältere starrte ihn mit großen Augen an. „Nein...“
„Natürlich hätte ich ihn gegessen, verdammt.“ Er drehte sich zu dem Älteren um und sah ihm das erste Mal direkt in die Augen.
„Das hier ist kein beschissenes HJ – Spiel, okay? Das hier ist Krieg, mit echten Waffen und im Krieg sterben Leute, auch Vögel, klar?“
Der Ältere sah ihn traurig an. „Aber hättest du wirklich den Vogel gegessen? Den da oben, den mit den blauen Flecken?“
„Ja, verdammt“, allmählich wurde es dem Jüngeren zu bunt und er nahm sein Gewehr in die Hand. Die Kinnriemen waren festgeschnallt, was bei einem Sturm Vorschrift war. Nicht viele hielten sich daran, aber der Jüngere hatte schon so manche Schlacht miterlebt um zu wissen, dass der Helm das Einzige sein konnte, was einen von der toten kalten Erde unter den Füßen unterschied. Er lud gekonnt sein Gewehr, spannte das Magazin ein und zog den Kolben durch. Dann wandte er sich dem Älteren zu
„Vergiss den scheiß Vogel, in Ordnung?“ Der Ältere hörte nicht zu, er starrte nur den Vogel an, diesen weißen Vogel, der da auf einem kargen Baum, inmitten der südsibirischen Eiswüste saß und sang, als hätte der Krieg noch nicht stattgefunden.
„He!“ Der Jüngere tat einen Schritt auf den anderen zu und drehte ihm den Kopf herum.
„Hör mir zu, wenn ich mit dir rede! Wir gehen gleich da raus, da musst du aufpassen, klar? Vergiss den elenden Vogel und setz endlich deinen Helm auf!“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Mann, Mann, Mann...“, kam es leise aus seinem Mund. „Wenn sie dich mal nicht gleich erwischen.“
Der Ältere hatte sich wieder zu dem Vogel gedreht. Der Vogel saß immer noch auf seinem Baum, aber still. Von dem fröhlichen Pfeifen war plötzlich gar nichts mehr zu hören. Es war merkwürdig, irgendwie schien der Vogel seinen Blick auf die beiden Soldaten gerichtet zu haben, die verzweifelt versuchten, sich vor den zischenden Kugeln zu schützen. Er beobachtete, wie der Jüngere krampfhaft versuchte, den Älteren in den Graben zu ziehen, aber dieser stand nur wie in Trance da und starrte den Vogel an. Immer nur den Vogel, dieses weiße, unschuldige Geschöpf, das sich nicht wehren konnte und sich auch nicht wehren brauchte. Es konnte immer wegfliegen, wenn es wollte.
Der Russe setzte ihnen zu. Trommelfeuer war weiter südlich heruntergegangen und hatte Lücken in die Linie gerissen. Der Jüngere ahnte, dass sie die Linie nicht mehr lange halten würden können, wenn sie nicht sofort zum Gegenschlag ansetzten. Aber wo, zum Teufel blieb diese verdammte Artillerie? Er robbte nach oben, zum Grabenrand, versuchte, einen Blick über das Schlachtfeld zu erhaschen, aber zog sich gleich wieder zurück, als ihm die Kugeln um die Ohren pfiffen. Dies war kein gewöhnlicher Morgengruß, heute wollten sie durchbrechen, er konnte es spüren. Sie mussten ihnen zuvorkommen.
Geduckt drehte er sich um.
Und sah den Älteren, wie er dastand, so als wäre der Krieg an ihm vorbeigegangen, als habe man für ihn die Zeit angehalten, stand er da und streckte die Hand aus. Wie in Zeitlupe schien seine Arm sich in Richtung des Vogels zu bewegen, der den Kopf schief gelegt hatte und den Älteren genau musterte. Der Jüngere glaubte etwas wie Neugier in den Augen des Vogels erkannt zu haben und fragte sich, warum der Vogel bei Beginn des Trommelfeuers nicht weggeflogen war. Es musste ihn zu Tode erschreckt haben.
Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Dreck und Körperteile kamen aus dem Loch nebenan auf den Jüngeren herabgeregnet. Volltreffer. Die nächsten könnten sie sein. Sie mussten hier raus. Entschlossen riss er den Älteren mit sich. So als ob er aus einem Traum erwache, riss dieser sich los und funkelte den Jüngeren böse an. „Was tust du da?“ schrie er über den Lärm des Feuers hinweg.
Der Jüngere starrte ihn fassungslos an. „Ich versuche, deinen Arsch zu retten, lass uns hier verschwinden. Drüben bei Köhlers Truppe ist noch Platz, wir sind hier völlig ungeschützt!“
Der Ältere wackelte mit dem Kopf. „Fass mich nie mehr an!“ Dann drehte er sich um und machte sich daran, aus dem Graben zu klettern. Der Vogel schien etwas zu bemerken und hob von seinem Ast ab. Die Augen des Jüngeren weiteten sich. Wenn er den Graben verließ würde es keine zehn Sekunden dauern, bis ihn eine Kugel erwischte. Was hatte dieser Verrückte vor? „Hee! Was machst du denn, du Idiot. Komm sofort zurück, verdammt! Sonst...“ Eine Detonation ganz in der Nähe schnitt ihm das Wort ab und warf ihn zu Boden. Dreck spuckend und hustend taumelte er auf die Beine und sah gerade noch so, wie der Ältere die Kontrolle über seine Beine wieder erlangte und aus dem Graben stieg. Die Zeit stand still. Der Jüngere wollte schreien, wollte etwas tun, doch da riss ihn auch schon die nächste Detonation zu Boden. Wieso kümmerte ihn überhaupt, was dieser Wahnsinnige, der erst vor drei Tagen an die Front versetzt worden war, mit seinem lausigen Leben anstellte? Eins mehr oder weniger, was machte das schon? Nichts, rein gar nichts.
Der Vogel kreiste über dem Älteren, der aufrecht, inmitten des Schlachtfeldes stand und wie von Geisterhand bewegt auf den Baum zuging, auf dem der Vogel noch vor einigen Augenblicken gesessen hatte. Dieser kam zu dem Älteren herunter und setzte sich auf den immer noch ausgestreckten Arm. Der Ältere starrte ihn mit glasigen Augen an. Die Kugel, die seinen Brustkorb zerfetzte und ihn zu Boden riss, nahm er gar nicht wahr. Er sah nur den Vogel, diesen wunderschönen, weißen Vogel, mit den blauen Flecken, der sich elegant in die Lüfte schwang und über das Schlachtfeld schwebte, als gäbe es keins. Es gab auch keins, dachte er. Er spürte den Schmerz nicht, sah nur den Jüngeren, der über ihm lehnte und etwas rief, aber er verstand ihn nicht. Es wurde schwarz um seine Augen.
Verzweifelt, mit letzter Kraft zog er sich an dem Jüngeren hoch und zeigte mit dem Finger auf das weiße Wesen über dem Schlachtfeld.
Wie ein Wunder, wie ein Wunder in dieser wunderlosen Welt.
Der Jüngere schüttelte ihn, wollte ihn am Leben halten, doch er gab auf.
Er sah dem Jüngeren in die Augen und seine Lippen bewegten sich, ganz langsam, aber sie bewegten sich.
„Ein Vogel, so ein weißer, von so einem hab ich geträumt, heut nacht.“
Er blickte ein letztes Mal dorthin, wo die Rauchschwaden mittlerweile alles bedeckten.
„So ein Vogel müsste man sein.“ Dann starb er und ging zu seinem Vogel.
Der Jüngere zog seinen Abschiedsbrief aus der Brusttasche. Komisch, dachte er sich, der war ja grün. Aber das war auch egal. Schnell packte er den Älteren am Kragen und zog ihn mit sich fort. Als er schon fast am Grabenrand war, traf ihn die Kugel. Etwas Warmes lief in sein Gesicht. Taumelnd ging er zu Boden. Da lag er nun in diesem eiskalten Sibirien und das Einzige, das er sah war der Brief. Der Abschiedsbrief des Älteren.
Er schüttelte den Kopf. Der war ja grün.
Grün war der.
Ja, grün.