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Der Wal
Als der alte Mann den Blauwal sah, der auf dem Alexanderplatz lag, zog er skeptisch eine Augenbraue hoch. Es hatte die letzten Tage viel geregnet, das mochte schon sein, aber so war das berliner Wetter nun mal. Heute hatte es immer wieder genieselt, doch seit Mittag hielt der wolkenverhangene Himmel jetzt schon dicht. Und selbst sintflutartiges Schütten erschien dem alten Mann als unbefriedigende Erklärung für den Wal.
Der Alte saß in einem Café, von seinem Stammplatz aus konnte man herrlich all das geschäftige Tummeln beobachten.
Der Wal lag einfach da, mittendrin, umspült von den Menschen, die sich emsig ihren Weg um ihn herum bahnten. Da war eine junge Frau, die in ihr Handy sprach, das sie sich vor das Gesicht hielt. So funktioniert telefonieren nicht, junges Fräulein, dachte der alte Mann. Beinahe wäre sie über das Ende der Schwanzflosse gestolpert, doch ohne es zu merken, überwand sie das Hindernis.
Der Blauwal ließ sich nicht anmerken, was er von all den Leuten hielt. Pokerface. Er beäugte sie nur teilnahmslos aus den Augen, die lächerlich winzig im Vergleich zu seinem riesigen Körper wirkten.
Eine füllige Frau mit fülligen Einkaufstaschen schleppte sich quer über den Platz. Sie keuchte und stank nach Schweiß, zumindest vermutete das der alte Mann aus der Ferne. Sie blieb neben dem Wal stehen, stellte die Tüten ab, stützte sich gegen die dicke Haut und japste nach Luft. Der Wal rührte sich nicht. Wie denn auch, dachte der alte Mann. Einige Momente später packte die Frau ihre Taschen wieder an und mühte sich weiter.
Ein junger Mann kam mit langen Schritten über den Platz, in seiner linken Hand schwang ein Aktenkoffer. Mit der Rechten drückte er sein Telefon so fest gegen sein Ohr, dass der alte Mann fürchtete, der würde es gleich durch sein Trommelfell direkt in seinen Schädel hineindrücken. Der junge Mann rempelte mit seiner Schulter gegen die Seitenflosse des Wals, drehte sich um und hob sichtlich zu einer Hasstriade an. Als er sah, dass dort keine Person war, der er all seine Flüche an den Kopf werfen konnte, sprach er stattdessen weiter in sein Telefon.
Wie der Wal eigentlich hier her kommt?, fragte sich der Alte. Er wusste natürlich, wie Wetter entstand. War es möglich, dass verdampfendes Meerwasser beim Aufsteigen einen ganzen Wal tragen konnte? Der Wal dann verdutzt in der Wolke hing und hunderte Kilometer weiter mit dem Regen hinunterfiel? Verletzt war der Wal offensichtlich nicht. Auch das Wasser schien ihm nicht zu fehlen, wenn man überhaupt etwas aus seinem Verhalten ableiten konnte. Hingehen und nachfragen? Das erschien dem Alten doch etwas unhöflich. Das Tier machte keinen besonders gesprächigen Eindruck.
Einem kleinen Mädchen blieb der Mund offen stehen, als sie den Blauwal sah. Sie riss die Augen auf, quietschte dann vergnügt und lief zu ihm hinüber, um seine dicke Haut zu streicheln. Doch kaum war sie bei dem Tier angekommen, sie streckte gerade die Hand aus, da rief ihre Mutter nach ihr. Diese war in die entgegengesetzte Richtung unterwegs und hatte es eilig, wie sie die Kleine wissen ließ. Traurig schlich das Kind der Mutter hinterher.
Der Alte, der inzwischen gezahlt hatte, überlegte noch einmal, den Wal anzusprechen. Bestimmt hatte er eine spannende Geschichte zu erzählen. Aber geht mich ja eigentlich nichts an, dachte er, zuckte mit den Schultern und ging.