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Der Weg zum Erfolg

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05.07.2020
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Der Weg zum Erfolg

Meine Handinnenflächen schwitzten. Ich bemerkte es, als Herr Heider mich begrüßte. Er verzog keine Miene, als wir uns die Hände reichten.
„Nehmen Sie Platz“, sagte er und wies auf einen Stuhl.
Ich legte meine Jacke über die Lehne und setzte mich. Die Sitzfläche war zu eng. Heider sah mir zu, wie ich hin und her rutschte und versuchte, eine angenehme Position zu finden. Schweiß stand mir auf der Stirn. Sammelte sich über meiner Oberlippe, unterhalb meiner Männerbrüste und lief mir über den Bauch.
„Manche meinen, Zucker sei tödlicher als Kugeln“, sagte Heider nach einer Weile. „Global gesehen. Nageln Sie mich nicht fest. Vermutlich gibt’s zu dieser These gar keine wirklich verlässlichen Zahlen. Dennoch, mit vierzehn macht man sich über Diabetes Typ 2 vermutlich noch keine Gedanken.“ Er deutete auf meine Fettpolster. „Aber irgendwann kommt der Kipppunkt, richtig? Der Punkt, an dem einen das eigene Spiegelbild so sehr anwidert, dass man der Wahrheit ins Gesicht blicken muss."
Ich war baff. Mein Atem ging schnell und ich spürte, wie mein Herz schlug. Ich überlegte, ob ich wieder gehen sollte. Ich kämpfte mit meinem Stolz. Wischte mir den Schweiß von der Stirn. Erhob mich ein kleines Stück, setzte mich wieder und schlug die Augen nieder.
"Wenn Sie es nicht ernst meinen würden, wären Sie nicht hier", sagte Heider.

Eine Internetseite ohne Möglichkeit der Kontaktaufnahme hatte mich auf die Agentur aufmerksam gemacht. Keine Werbevideos erfolgreicher Teilnehmer, kein Newsletter, keine sonstigen Informationen. Nur eine Adresse und ein Slogan. Der Weg zum Erfolg beginnt in ihrem Kopf. Wir helfen dabei, die ersten Schritte auf diesem Weg zu gehen. Ich hatte die Seite wieder geschlossen. Eine Woche später erwischte ich mich in der Mittagspause dabei, die Adresse der Agentur bei Google-Maps einzugeben.

„Wir arbeiten hier mit Stepstones, kleinen Schritten zum Erfolg, wenn Sie so möchten. Gewichtsreduktion haben wir ja schon mal, nicht wahr? Also, was noch?“
„Geld und eine Chefposition wären für den Anfang nicht schlecht“, antwortete ich sarkastisch.
„Keine Experimente, wie?“ Heiders Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Nun, Sie geben die Linie vor. Gewichtsreduktion, Einkommenssteigerung und beruflicher Aufstieg sollen es also sein?“
Hinter mir öffnete sich die Tür und eine Frau in schlichtem Kostüm kam herein. Sie legte einen Ordner auf den Glastisch vor uns. Herr Heider würdigte sie keines Blickes und griff nach den Papieren.
„Ich will Sie nicht belügen Herr Wehner“, sagte er und ging mit gerunzelter Stirn die Papiere durch. „Unsere Agentur hat eine Erfolgsquote von fünfzig Prozent. Nicht viel würde man vielleicht meinen. Aber damit liegen wir um ein Vielfaches höher als die Konkurrenz. Bei uns schafft es jeder Zweite. Wie beim Münzewerfen. Fünfzigprozentige Chance auf Erfolg. Der entscheidende Unterschied ist, dass wir den Faktor Glück eliminiert haben.“ Er machte eine Pause und sah mich durchdringend an. „Wir haben andere Methoden.“
Ich schürzte die Lippen, nickte anerkennend und versuchte, meine Nervosität zu überspielen. „Ich habe eine fünfzigprozentige Chance abzunehmen, reich zu werden, und ein beruflicher Aufstieg ist auch noch drin? Wo ist der Haken? Wie viel würde mich das Ganze denn zum Beispiel kosten?“
„Nach Ablauf einer Frist zahlen Sie uns eine Summe von 25.000 Euro, wenn … “
Ich stand auf. Diesmal war ich bereit zu verschwinden.
„Ich bin weit davon entfernt, Sie überreden zu wollen, Herr Wehner.“, fuhr Heider unbeirrt fort. Aber lassen Sie es mich erklären. Sie bezahlen die Summe in zwei Jahren. Und Sie bezahlen nur dann, wenn Sie den Vertrag, den wir schließen werden, als erfüllt betrachten.“ Er schob einige der Papiere auf dem Tisch in meine Richtung. „Das Urteil liegt alleine bei Ihnen. Sie entscheiden, ob sie das Ergebnis unserer Zusammenarbeit als Erfolg betrachten. Wenn Sie möchten, nehmen Sie den Vertrag mit nach Hause und lesen ihn sich in Ruhe durch. Oder lassen Sie ihn meinetwegen begutachten, wenn Sie mir nicht trauen. Bei uns gibt es keine Fallstricke. Bisher haben jedenfalls alle bezahlt, die den Weg zum Erfolg bis zum Ende gegangen sind. Und verändert hat es das Leben jedes einzelnen unserer Teilnehmer.“ Er lehnte sich zurück und schaute mich lächelnd und aus kalten Augen an.

Ich unterschrieb. Im Anschluss kam ich mir vor, wie eine Kuh, die soeben die eigene Schlachtung vertraglich geregelt hatte. Kein Problem, redete ich mir ein. Ich konnte ja jederzeit nach Hause gehen. Mit zittrigen Händen nahm ich einen Schluck von dem Kaffee, den mir die Dame in dem Kostüm hingestellt hatte.
„Was ist die stärkste Antriebskraft des Menschen, Herr Wehner?“
Ich überlegte. „Die Liebe“, antwortete ich.
Diesmal lächelte Heider nicht. „Die Liebe mag eine Antriebskraft sein, sicherlich. Aber die Stärkste? Wohl kaum. Die korrekte Antwort lautet Angst.“
Etwas in meinem Bauch verkrampfte sich. Ich stellte die Tasse ab.
„Der Mensch an sich ist schwach und faul. So schwach und faul wie sie, Herr Wehner. Aber in jedem von uns ruht eine Kraft, die uns im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzen lässt. Angst spaltet Atome, lässt uns Kriege gewinnen, Weltreiche errichten, Feinde ausrotten, ja sogar den Weltraum erobern. Angst lässt die Menschen an alles Mögliche glauben. An Ideologien, an die Hölle, sogar an sich selbst." Heiders Blick verlor sich. „Haben Sie schon mal von der Schlacht von Pharsalos gehört?“, fuhr er aufgeräumt fort. Ich schüttelte den Kopf. Die Stimme, die mich dazu animieren wollte, aufzustehen und zu gehen, wurde lauter.
„Julius Cäsar stand in Griechenland mit seinen Legionen der Senatsarmee von Pompeius Magnus gegenüber. In einem Verhältnis von eins zu vier. Cäsar obsiegte. Warum? Weil es keine Alternative gab. Nur Sieg oder Vernichtung. Die eigene Auslöschung vor Augen gab ihm und seinen Soldaten, sagen wir, den nötigen drive.“
Heider pausierte und sah mich mitleidig an. Er schüttelte den Kopf. „Sie können mir nicht folgen. Entschuldigung kommen wir zur Sache. Wir haben ein Toxin entwickeln lassen, dass sich unbemerkt im menschlichen Körper verteilt.“ Er machte eine Geste in Richtung meiner Kaffeetasse und fuhr fort.
„Nach vier Tagen ist ein Kipppunkt überschritten. Gegenmittel würden dann nicht mehr in der Lage sein, den Prozess aufzuhalten.“
„Von was reden Sie da? Was für ein Prozess?“, fragte ich.
„Ein Prozess des körperlichen Verfalls. Das Toxin greift die Organe an. Aber das ist kein Problem. Wir können Ihnen das Gegenmittel rechtzeitig verabreichen.“
Mein Mund wurde trocken. Der Mann musste scherzen. „Ich werde jetzt gehen“, sagte ich und stand auf.
„Tun Sie das“, antwortete Heider beinahe gelangweilt. „Ich habe für Donnerstag einen neuen Termin vorgemerkt. Das ist in zwei Tagen. Bis dahin werden Sie fünf Kilogramm abgenommen haben. Mein Team wird ihren Fortschritt begutachten. Im Anschluss erhalten Sie eine Dosis des Antitoxins. Uns beiden ist wohl völlig klar, dass so kein nachhaltiges Abnehmen funktionieren kann. Nein, das ist nur ein erster Beweis dafür, dass Sie, wenn sie es nur wirklich wollen, zu Bemerkenswertem in der Lage sind, Herr Wehner.“
Auf zittrigen Beinen stolperte ich in Richtung der Tür.
„Erfolg beginnt im Kopf, Herr Wehner, denken Sie daran.“

Ich blickte auf die Anzeige. Eine seltsame Ruhe hatte mich erfasst. Vielleicht kam das von der Erschöpfung? Seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr gegessen. Stattdessen hatte ich Unmengen an Wasser getrunken. Ich hatte recherchiert, dass das die Nierenaktivität anregen soll. Dadurch und durch exzessives Schwitzen könne man in kürzester Zeit extrem viel an Gewicht verlieren, las ich. Weight Cut wurde das genannt. Ich zog also alle Klamotten an, die ich finden konnte. Hosen, verschiedene Paar Socken, Pullover, meine Daunenjacke, und begann, Hampelmänner zu machen. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Mir taten die Knie weh, ich war ja kein sportlicher Mensch. Also drehte ich die Heizung auf und joggte in gemächlichem Tempo um meinen Küchentisch herum. Immer wieder. Bis mir schwindelig wurde und ich mich übergeben musste. Auch nicht verkehrt, dachte ich.
Nach zwei Tagen fuhr ich wie in Trance zur Agentur, stellte mich in einem sterilen Raum auf eine Waage und blickte auf einen großen Bildschirm an der Wand. Ein Angestellter der Agentur trat neben mich.
„Nun, Herr Wehner, das war ja ziemlich knapp, wie? Zweihundertachtundfünfzig Gramm.“ Er schüttelte den Kopf. Nun, das Wichtigste ist wohl, dass sie erkennen konnten, zu was sie in der Lage sind. Kommen Sie.“
Ich folgte dem Mann einen Gang entlang.
„Werden Sie mir das Mittel trotzdem geben?“, fragte ich tonlos.
„Bitte? Nein, das wäre nicht richtig. Ein völlig falsches Signal.“ Er öffnete eine Tür. „Aber wir wollen ihnen immerhin die Möglichkeit einräumen, das Zwischenziel noch zu erreichen.“ Der Raum war leer. Nur ein kleiner viereckiger Tisch stand in der Mitte. Darauf lagen ein weißes Handtuch, Desinfektionsmittel und ein Skalpell.
„Ein Finger oder zwei Zehen dürften reichen“, sagte er und schloss die Tür hinter mir.

Nach zwölf Monaten sind meine Muskeln härter und definierter denn je. Ich habe über fünfzehn Kilogramm abgenommen, treibe viel Sport und auch beruflich läuft es bestens. Alle vier Wochen hole ich mir das Antitoxin ab. Die Dosis wurde mittlerweile so angepasst, dass ich nicht mehr alle paar Tage bei der Agentur auftauchen muss. Ich habe begonnen, mit Aktien zu spekulieren und in Immobilien zu investieren. Die Agentur hatte das empfohlen. Ich musste mir natürlich zunächst das nötige Startkapital besorgen. Zu dieser Zeit lag mein Vater nach einem schweren Unfall im Sterben. Noch während er im Krankenhaus an den Schläuchen hing, kam es zu Erbstreitigkeiten zwischen mir und meiner Familie. Die Agentur half mir und verwies mich an einen Juristen. Danach gab es keinerlei Probleme mehr. Der Kontakt mit meiner Familie ist leider abgebrochen. Auf der Beerdigung habe ich sie noch mal getroffen. Ich sah gut aus in meinem Anzug. Gesprochen haben wir nicht miteinander.
„Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne“, meinte Herr Heider. Ich denke, dass er recht hat.

„Sehen Sie sich an, was Sie erreicht haben, Herr Wehner! Sie sind ein neuer, ein besserer Mensch. Und die Angst? Die haben Sie verloren, habe ich recht?“
Es stimmte. Angst verspürte ich seit Monaten nicht mehr. Im Gegenteil, ich fühlte mich beschwingt, motiviert, dazu bereit, mich neuen Herausforderungen zu stellen. Die Frau mit dem Kostüm betrat den Raum, beugte sich zu Heider und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Heider wies mich an, aufzustehen und ihm zu folgen. Im Vorbeigehen zwinkerte ich ihr zu.
„Es ist an der Zeit, Herr Wehner. Wir sind beinahe durch mit unserem Programm. Nur noch eine Sache steht an. Der letzte und gleichzeitig wichtigste Schritt auf dem Weg zum Erfolg."
Wir kamen vor einer Tür zum Stehen. Heider legte mir seine Hand auf die Schulter, sah mich ernst an und sagte: „Vergessen Sie nicht, Sie können alles schaffen, wenn Sie nur das richtige Durchsetzungsvermögen mitbringen.“ Dann schob er mich in einen gekachelten Raum und schloss die Tür.

Mir gegenüber stand ein Mann, ungefähr in meinem Alter. Ansonsten war der Raum leer. Wir sahen uns an.
„Hallo,“ sagte der andere freundlich.
„Hallo,“ erwiderte ich. Mein Magen zog sich zusammen.
„Nun, mir wurde gesagt, hier würde ich endlich das Gegenmittel bekommen. Ihnen auch?“
Ich antwortete nicht. Mir war soeben klar geworden, warum die Agentur eine Erfolgsquote von fünfzig Prozent aufweisen konnte. Langsam ging ich auf den Mann zu.

 

Hallo @feurig

tut mir leid, dein letzter Kommentar ist bei mir ein wenig untergegangen!

Entweder er ist einer, der nicht das nötige Potential hat und daher von der Agentur geopfert wird, dann hätte er allerdings versagt und würde nicht aufs Gegengift warten. Oder er ist so weit wie dein Prot, aber dazu ist er mir zu freundlich und unwissend. Ich kann ihn da aber schwer einsortieren und das macht es mir ein wenig zu beliebig.
Ja, ich verstehe, was du meinst. Der andere erscheint in diesem kurzen Augenblick höflich. Ich sollte vielleicht rausstellen, dass nicht nur beim Protagonisten, sondern auch bei seinem gegenüber irgendwann Klick macht, als sie sich in dem Raum treffen. Das habe ich noch nicht richtig rausgestellt.
P. S. Kannst du mir sagen, wie du auf diese Version gekommen bist? Von der ersten hast du ja eigentlich nur die Idee übernommen "Konkurrenz durch Tod beseitigen".
Puh, ich habe erst versucht, bei der vorigen Version zu retten, was zu retten war. Habe mich dann irgendwann von dem kompletten Text verabschiedet und nur zwei Formulierungen behalten. In meinem Kopf war thematisch zum einen dieses Konkurrenz/ Erfolgsding noch präsent. Zum anderen (frage nicht, warum) bleibe ich immer mal wieder bei solchen Erfolgs-, mindset-, Lifechanging-videos auf youtube hängen. Ganz schreckliches Zeugs mit erschreckend viel Resonanz. Daraus ist die Idee entstanden.

Liebe Grüße
Habentus

 

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