Was ist neu

Der Weihnachtsmann wird gefeuert

Seniors
Beitritt
03.07.2004
Beiträge
1.585
Zuletzt bearbeitet:

Der Weihnachtsmann wird gefeuert

Ich mochte gar nicht in die Stadt fahren, die vorweihnachtliche Hektik war mir zuwider und ich kannte ohnehin niemandem, dem ich etwas schenken wollte. So verbrachte ich diese Zeit lieber in meiner häuslichen Ruhe und Abgeschiedenheit. Aber mein Computer bestand auf einer kleinen Erweiterung und so machte ich mich auf den Weg in den bekannten Megasupermarkt für Geiz- und Gierhälse, der sich im neuen Einkaufszentrum angesiedelt hatte.

Der 1. Advent hatte endgültig die Weihnachtskaufzeit eingeläutet und an diesem Samstag quoll das hochmoderne Warenhaus der Superlative nur so über vor Menschen, Lärm und vor allem Gerüchen. Weihnachtsgewürze mischten sich mit teuren Parfüms, dem stechenden Gestank langsam durchschmorender elektronischer Kassen und allen möglichen geradezu multikulturellen Ausdünstungen. Ich schnappte hektisch nach Luft, aber die Klimaanlage hatte anscheinend jede Hoffnung aufgegeben. Vor den Toiletten und Fahrstühlen standen lange Schlangen und in einigen Geschäften entbrannten erste Schlachten um die letzten Sonderartikel.

"Sitzen Sie hier nicht herum sondern gehen Sie an die Arbeit," brüllte eine energische männliche Stimme, den Umgebungslärm mühelos übertönend. Hunderte von Köpfen drehten sich Radarschirmen gleich automatisch in Richtung der Geräuschquelle. Ein sportlicher Endfünfziger mit graumelierten kurzen Haaren und Nadelstreifenanzug stand vor einem Weihnachtsmann, der auf einer der wenigen Sitzbänke zusammengesunken war.

"Nun stehen Sie auf, sonst können Sie gleich nach Hause gehen. Ich bezahle Sie schließlich nicht fürs Herumlungern." Der Nadelstreif schien kurz vor Handgreiflichkeiten zu stehen, der Weihnachtsmann hingegen hob nicht einmal den Kopf. Die buntgemischte Menge drängte sich neugierig und sensationslüstern immer näher an die beiden heran und sorgte für eine zunehmende Verstopfung auf dieser Ebene.

Allerdings gab es auch eine gegenäufige Bewegung, wie ich jetzt bemerkte. Die Sitznachbarn des Weihnachtsmannes, eine ältere Frau in einem langen dunkelgrauen Mantel und einem völlig unpassenden altmodischen Hut sowie zwei Jugendliche in weihnachtlich aufgemotzten Punkerklamotten entfernten sich unauffällig von der Bank und auch die nächsten Umstehenden rückten von den beiden Hauptpersonen weiter ab. Das Bild erinnerte mich jetzt an einen Hurrikan mit seinem ruhigen Auge im Zentrum. Aber dieses Auge war nur auf einer Seite ruhig. Auf der anderen Seite wurde zwar die Lautstärke gedrosselt, aber die Schärfe nahm zu.

"Sind Sie etwa betrunken? Schon am frühen Nachmittag schlapp machen. Das können wir uns nicht leisten. Hinaus mit Ihnen. Und glauben Sie bloß nicht, dass Sie noch Geld für Ihre Nichtleistung erhalten."

Der Weihnachtsmann erhob sich, ohne ein Wort zu sagen und schlurfte mit gesenktem Kopf auf den Eingang zu, von zwei argwöhnisch äugenden Mitarbeitern der Sicherheitstruppe diskret begleitet. Die Menge löste sich auf, schließlich galt es, die Zeit auszukaufen, aber ich folgte ohne weiter nachzudenken dem alten Herrn, denn das war er seinem Gang nach wohl, und stand kurze Zeit später mit ihm alleine vor den Glastüren des Kaufpalastes.

"Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?," fragte ich ihn mitleidvoll und da hob er seinen Kopf und ein freundlich lächelndes Gesicht sah mich durch den weißen Rauschebart, der bis zu den Ohren reichte und fast nur die intensiv blauen Augen freiließ, an.

"Sehr gerne, vielen Dank," sagte eine melodische Stimme und jetzt war ich verwirrt. Hatte ich in dem Wenigen vom Gesicht, das ich sehen konnte, schon keine einzige Falte entdeckt, so konnte ich jetzt hören, dass auch die Stimme keineswegs zu einem Greis gehörte - es war eine sehr jugendliche und sehr weibliche Stimme.

"Sie sind gar nicht der Weihnachtsmann, ich meine, Sie sind eine Weihnachtsfrau, also ich wollte sagen ..." Ich verhedderte mich jetzt vollständig, so überrascht war ich, und mein Stottern wurde von einem nach vielen Glöckchen klingenden Lachen übertönt.

"In Ihrem Alter sollten Sie doch nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben. Aber den Kaffee nehme ich gerne an," lachte sie.

Ich sah sie verstohlen an, während wir über die Straße in das gegenüberliegende Café gingen. Sie ging jetzt mit erhobenem Kopf neben mir her, ihr roter Mantel war nicht sehr weit geschnitten, dennoch waren an den Stellen, wo ich sie erwartete, keinerlei Rundungen zu erkennen. Die Kapuze war meiner Begleiterin vom Kopf gerutscht und war unter ihrem langen weißen Haar verborgen, das ihren Rücken herunterfloß und nahtlos in den dichten weißen Vollbart überging. Nach meiner Erinnerung trugen Weihnachtsmänner Wattebärte oder wenigstens deutlich erkennbar falsche Bärte, aber an ihr sahen Bart und Haare unerwartet echt aus, gar nicht typisch für einen verkleideten Weihnachtsmann.

"Sie dürfen mich ruhig am Bart ziehen," sagte sie fröhlich, "aber wundern Sie sich nicht zu sehr, wenn er nicht abgeht."

Ich war jetzt wirklich sprachlos und meine Gedanken spielten Purzelbaum. Ohne weitere Worte zu wechseln betraten wir das Café, das mit Menschen angefüllt war, die sich vom anstrengenden Weihnachtseinkauf erholen wollten. Alle Tische waren besetzt, um sie herum standen volle Einkaufstaschen und geschmackvoll verpackte Riesengeschenkpakete. Die Garderobe war überfüllt, so dass auch über den Stühlen Mäntel aller Farben und Materialien hingen. Kinder liefen zwischen den mit Kaffekännchen und Eisbechern überladenen Tischen herum. Über den Köpfen brodelte eine dicke graue Wolke, die von zahlreichen Zigaretten genährt wurde. Ich merkte, dass ich gleich keine Luft mehr bekommen würde, aber die Weihnachtsfrau faßte mich am Ellbogen und lotste mich um die Tische herum über eine kleine Wendeltreppe, die hinter künstlichen Blumenranken kaum zu erkennen war, in das obere Stockwerk. Auch hier waren alle Tische an der großzügigen Fensterfront besetzt und die Menschen betrachteten anscheinend interessiert den Verkehr. Die Weihnachtsfrau führte mich weiter in einem kleinen Nebenraum in der Nähe der Küche, in dem sich erstaunlicherweise niemand aufhielt. Sie schloß auch noch die Tür und schlagartig erloschen die Geräusche aus dem Café und eine wohltuende Stille breitete sich um mich aus.

Wir setzten uns an einen der drei kleinen Tische, die hier standen, und schwiegen uns an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und wünschte meine Schüchternheit weit fort. Aber bevor ich mich in mir selbst verkriechen konnte, kam eine Kellnerin mit einem beladenen Tablett herein. Sie trug wohl zu Ehren der Weihnachtszeit ein rotes Häubchen in ihren rötlich schimmernden Haaren und hatte auch ein rotes Schürzchen umgebunden. Sie kam an unseren Tisch und stellte, ohne ein Wort zu sagen, zwei Kännchen Kaffee und zwei Stücke Schwarzwälder Kirsch auf unseren Tisch. Dann beugte sie sich zu der Weihnachtsfrau herab, gab ihr ein Küßchen auf die Wange und verschwand mit schnellen Schritten. Die Tür fiel ins Schloß und mir fiel die Kinnlade herab. Was wurde hier eigentlich gespielt?

"Das war Bettina, die Besitzerin des Cafés. Ich habe ihren Weihnachtswunsch erfüllt und deshalb dürfen wir hier im Personalraum Kaffee trinken."

Ich mochte keine der Fragen, die in meinem Kopf herumwuselten, stellen. War der Bart wirklich echt? War Sie eine Frau oder vielleicht doch ein Mann? War sie überhaupt ein Mensch? Gab es den Weihnachtsmann oder war er eine Weihnachtsfrau? Konnten Wünsche in Erfüllung gehen? Ich würde mich ja gerne verlieben, aber in eine Frau mit weißem Wallebart? War ich überhaupt wach oder träumte ich? Schließlich brachte ich eine Frage heraus: "Was hat sie sich denn gewünscht und kann ich mir auch etwas wünschen?"

Ich sah sie unsicher an, doch ihr Lächeln wärmte mich wie ein sanfter Sonnenstrahl. "Dein Wunsch wird wahr." Und dann verblaßte sie und war nicht mehr zu sehen.

Da saß ich nun allein am Tisch, wußte nicht, was ich mir wünschte, aber erfüllt würde er, mein unbekannter Wunsch. Bevor meine Gedanken sich endgültig verknoteten, kam die Besitzerin wieder herein, aber Schürzchen und Häubchen waren nun verschwunden. Jetzt stand keine Kellnerin mehr vor mir, sondern eine modisch frisierte und gekleidete adrette junge Frau.

"Darf ich mich zu ihnen setzen," fragte sie. Leichte Röte überzog ihre Wangen, während ich ihrer wunderschönen Stimme nachlauschte.

"Selbstverständlich, bitte sehr," stotterte ich und stand auf, wobei ich beinahe den Tisch umwarf.

"Ich heiße Jürgen," brachte ich noch heraus und reichte ihr die Hand. Als sie mir ihre Hand gab, durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag, aber dann setzte sie sich schon und warf ihre langen Haare schwungvoll nach hinten.

"Ich bin Bettina," lächelte sie mich an und die Sonne ging auf.

 

hi jobär,

also, ich habe es nicht ganz gerafft am schluss. mit bart, ohne bart, bettina, kellnerin....bitte klär mich auf! wer ist wer?

"Sie trug wohl zu Ehren der Weihnachtszeit ein rotes Häubchen in ihren rötlich schimmernden Haaren und hatte auch ein rotes Schürzchen umgebunden."

etwas viel rot finde ich in einem satz. aber das ist ja geschmackssache.


danke und gruss

Kardinal

 

Hallo Kardinal!

Also Bettina ist die Kellnerin. Und ob der Weihnachtsmann nun ein Weihnachtsengel ist und einen echten Bart hat (Schließlich sind Engel ja nicht an menschliche Konventionen gebunden) - das wollte ich gerne den Lesenden überlassen.


Gruss

Jo

 

Hi Jobär,

die Geschichte hat eine interessante, plötzliche Wendung. Ich hätte mir allerdings gewünscht, etwas sanfter darauf vorbereitet zu werden. Der Übergang von Real/noch nachvollziehbar, weil so oder ähnlich schon mal erlebt, zu "Übernatürlich" geht mir ein klein wenig zu schnell.

Zitat:
Dann beugte sich zu der Weihnachtsfrau herab...

Hier fehlt übrigens noch das "sie"

Ansonsten gefällt mir die Geschichte.

Gruß, beff

 

Hallo Beff!

Danke für Deine Antwort. Den Fehler habe ich berichtigt. Ich habe mir auch eine längere Version überlegt, die weicher abläuft, aber ich hatte den Eindruck, dass dann die Überraschung nicht mehr deutlich wird und die geschichte mehr ins Plätschern gerät. Oder soll ich konsequent bei Weihnachtsmann oder gar Weihnachtsmensch bleiben? Absicht ist es eigentlich, nicht aufzulösen, wer hier auftritt (also real oder übernatürlich sollte beides denkbar sein). Mals sehen, vielleicht kriege ich es ja noch besser hin.

Gruß

Jo

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom